Willkommen in Indien!
Mit besten Grüssen aus Delhi
Wir fliegen via Helsinki nach Delhi. Gut, das liegt von Zürich aus nicht unbedingt am Weg, aber die Preise der «Finnair» sind schwer zu schlagen.
Das Auffälligste am Flug besteht darin, dass er unauffällig verlaufen ist. Wenn ich an dieser Gesellschaft überhaupt etwas auszusetzen hätte, dann die Tatsache, dass Frau als Flugbegleiterin offenbar über fünfzig sein muss, um eine Stelle zu bekommen – das entspricht ungefähr dem Auswahlverfahren der British Airways.
(Und bevor die politisch Korrekten ihren fitten Zeigefinger recken: mir sind ältere Flugbegleiterinnen lieber, weil sie sich eher um die Gäste kümmern und weniger um ihre Fingernägel.)
Nach einem gefühlten Halbmarathon durchs Ankunfts-Terminal in Delhi stehen wir vor dem Einwanderungs-Beamten. Es ist uns etwas unangenehm, ihn bei seinem Nickerchen zu stören. Seine Müdigkeit wird nur noch von seinem Desinteresse übertroffen. Gelangweilt blättert er einen Schweizer Pass durch – von vorne bis hinten, von hinten bis vorne, von vorne wieder Richtung hinten, weil er das Visum ständig übersieht. Er seufzt und blättert. Wir seufzen auch; es wird ein langer Tag.
Formel-1-Werktätige nennen solche Zeitgenossen «Zeitlupen-Menschen» oder «Bremser». Sie verlangsamen uns und stehlen, was in der Formel 1 niemand hat – Zeit. Er blättert noch immer, daher können wir uns zu diesem Thema noch einige Gedanken erlauben: Der englische Kollege Joe Saward ist der Meinung, dass unsere Perspektive verzerrt ist – nicht die anderen sind langsamer, wir sind schneller. Fahrer sind es gewohnt, in Sekundenbruchteilen zu reagieren. Teams sind es gewohnt, Probleme im Handumdrehen zu lösen. Journalisten sind es gewohnt, die Abgabefrist zu ignorieren, die im Flur vor dem Pressesaal unüberhörbar auf und ab geht. Wir sind alle auf Speed ausgerichtet, die Mehrheit der Menschheit eher weniger.
Wie auch immer: Herr Blätter ist endlich fertig und ziert den Pass mit einem müden Stempel.
Wie sich herausstellt, arbeitet sein Bruder am Geldwechsel-Schalter. «Pass!» schnauzt er, was hier wohl «Guten Morgen» heisst (wir sind um 05.25 Uhr gelandet). Er bekommt einen Pass, wir bekommen kein Geld. Denn eine englische Urgrossmutter vor uns zählt soeben zum vierten Mal ein Haus aus Rupien, das vor ihr auftürmt worden war. Wir versuchen uns in indischer Gleichmut und versagen kläglich.
Dafür ist der Koffer bereits da – hier könnte sich das Fachpersonal an manchem europäischen Flughafen ein gutes Beispiel nehmen. Unser Fahrer ist ebenfalls da (kleiner Einschub: wann immer Sie daran denken, in Indien ein Automobil selber zu bewegen – vergessen Sie es gleich wieder!). Den Mann mit Schild zu finden, der uns abholen sollte, ist nicht selbstverständlich: vor einem Jahr musste ich seinen Kollegen vor dem Gebäude suchen gehen.
Wir marschieren Richtung Fahrzeug. Die Einzigen, die fröhlich und munter sind, das sind die Spatzen im Vordach – eben ist eine Lieferung Gebäck für den Kaffeestand gekommen, das wird ein paar leckere Happen absetzen.
Nach zwei Minuten Fahrt wissen wir, was wir ein Jahr lang nicht vermisst hatten: streunende Hunde, schlechte Strassen, einen Motor zwischen dieselndem Protest und Asthma-Anfall, Fahrbahn-Schweller wie vollgefressene Riesen-Boas, Menschen, die einfach nur herumstehen und gucken, ausgemergelt und verloren, Dreck überall.
Und dann die Huperei! Ungeschriebenes Gesetz auf Indiens Strassen – zuerst hupen, dann fahren. Die Taktik ist angesichts der zerdengelten Karossen offenbar überlebensnotwendig. Mein Fahrer ist öfter auf der Hupe als auf der Bremse, was entweder für ihn oder gegen die Bremsen spricht.
Wir rollen an dumpfer Trostlosigkeit vorbei – Menschen, die nicht wissen, wie sie heute zu Essen kommen, einige wühlen suchend im Abfall, kauende Rinder, halbfertige Häuser, zu Wachsfiguren erstarrte Polizisten, der Blick glasig und leer. Vor uns fährt einer mit offenem Kofferraumdeckel: der Stauraum ist gähnend offen, vielleicht ist die Haltefeder gebrochen. Unser Fahrer tut, was in solchen Situationen immer tut – hupen.
Wir überholen Tuktuks auf der Schnellstrasse (Huuup!), Fahrräder (Huuuup!), Lastwagen, die nur noch von der Farbe zusammengehalten werden (Huuuuup!) und weichen einem Mann aus, der etwas von der Fahrbahn aufklaubt. Dafür hupt hier keiner. Bei uns würde der Verkehrsdienst das Radioprogramm unterbrechen.
Der Tag ächzt aus dem Bett wie ein gichtiger Greis. Die Luft ist modrig und gelblich. Bis am Sonntag werden viele unserer Kollegen husten – selbst die Raucher. Diesen Smog ist die durchschnittliche europäische Lunge einfach nicht gewohnt.
Es dauert etwas mehr als diese Kolumne, bis wir beim Hotel sind. «Eine gute Zeit», lacht der Fahrer, als hätte er seinen Asthmatiker (eine Art Toyota) eben auf Pole-Position gestellt. Allzu stolz sollte er allerdings nicht sein: Heute ist Dussehra, ein hinduistischer Feiertag, der Triumph des Guten über das Böse. Da ist es so leicht, eine schnelle Zeit hinzulegen wie für Narain Karthikeyan, wenn 23 Kollegen an Salmonellen erkrankt sind.
Wir sind froh, dass wir die Fahrt überlebt haben. Leider haben wir noch viele solcher Fahrten vor uns. Und nicht immer ist Dussehra.