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Ayrton Senna Teil 5: Toter als Zeuge vorgeladen

Von Petra Wiesmayer
Im Rahmen des Prozesses um den tödlichen Unfall von Ayrton Senna gingen nicht nur Unterlagen «verloren», auch luden die Italiener 2004 einen Mann als Zeugen vor, der drei Jahre zuvor tödlich verunglückt war.

Die genauen Umstände, die zum Tod Ayrton Sennas führten, wurden bis heute nicht völlig geklärt. Nach jahrelangen Verhandlungen und schließlichen Freisprüchen für die wegen Totschlags angeklagten Frank Williams, Patrick Head (Technischer Direktor von Williams), und Adrian Newey (damals Konstrukteur bei Williams, dann bei McLaren, heute bei Red Bull Racing) gab der Bundesgerichtshof in Rom am 1. April 2004 bekannt, dass der Prozess erneut aufgerollt werde.

Am 14. Januar 2004 hatte der Oberste Gerichtshof die Freisprüche annulliert, «weil die erdrückenden Beweise gegen diese Personen schon beim ersten Prozess vorlagen und nicht entsprechend ausgewertet wurden». Erst nach mehr als elf Jahren, im Mai 2005, wurde die Akte Senna geschlossen.

Die Chronologie der Gerichtsakten des Berufungsgerichts in Bologna:

8. Mai 1994
Sachverständige geben zu Protokoll, dass beim Aufprall auf die Mauer die Lenksäule bereits gebrochen war.

Juni 1994
Die Staatsanwaltschaft von Imola stellt 8 Untersuchungsbefehle wegen der beiden Todesfälle von Ayrton Senna und Roland Ratzenberger gegen Williams aus, 6 gegen Simtek, 3 gegen die SAGIS (Rennstrecken-Verantwortliche). Anklage: Totschlag.

September 1994
Militärische Sachverständige bescheinigen, dass die Lenksäule Sennas «zum Teil aus minderem metallischem Material» hergestellt war.

Oktober 1994
Das Video der Onboard-Kamera Sennas wird publik gemacht. Angeblich hört es in dem Moment auf, als Sennas Autos von der Strecke abkommt. Trotzdem erkennen Experten, dass in den letzten Augenblicken eine «abnormale seitliche Bewegung des Lenkrades» stattfand.

22. November 1994
Das gerichtsmedizinische Institut von Mailand gibt durch seine Expertise der Obduktion bekannt, dass Senna durch eine tiefe Gehirnverletzung starb: beim Aufprall brach die Radaufhängung, schnellte nach oben und bohrte sich durch den Helm des Fahrers. Erstmals werden Fotos des perforierten und blutbeschmierten Helms Sennas publiziert.

17. Januar 1995
Sieben Sachverständigen-Gutachten werden bei Gericht zugelassen. Alle sprechen von einer «aus drei verschiedenen Metallteilen zusammen geschweißten Lenksäule».

Juni 1995
Der Untersuchungsrichter erhält die Gutachten des vom Vorgericht ernannten Staatsanwalt Passarini.

Es vergehen eineinhalb Jahre. Nach italienischem Recht würden die Todesfälle Senna und Ratzenberger am 31. Dezember 1996 verjähren. Die Presse stürzt sich darauf und klagt, dass man die Unfälle vertuschen und ad acta lagen wolle. Staatsanwalt Passarini sei erpresst worden, den Prozess einzustellen. Er würde dafür eine Beförderung bekommen. Daraufhin ist die Staatsanwaltschaft gezwungen, der Sache nachzugehen und macht Druck auf das Untersuchungsgericht. Pressemeldungen zufolge hat sogar das italienische Parlament eine Untersuchungskommission ernannt.

10 Dezember 1996
Benetton-Teamchef Flavio Briatore droht mit einem Boykott der Grands Prix auf italienischem Boden, sollte es im Falle Senna zu Verurteilungen kommen.

13. Dezember 1996
Frank Williams, Patrick Head, Adrian Newey, Federico Bendinelli, Giorgio Poggi (SAGIS), Roland de Bruynseraede (FIA) werden wegen Totschlags angeklagt. Die Anwälte, Renningenieure und Williams-Mechaniker werden, trotz früherem Untersuchungsbefehl, nicht mehr angeklagt. (Die Anwälte hätten die Modifizierung der Lenksäule schriftlich legalisieren müssen. Ein solches Schriftstück wurde jedoch nie gefunden).

Der Todesfall Ratzenberger wird ad acta gelegt.

16. Februar 1997
In der Sunday Times erscheinen Fotos von einem Stück Fahrbahndecke vor dem Unfallauto von Senna. Eine Fotomontage zu Gunsten der Angeklagten? (Dutzende Fotografen waren vor Ort, warum erscheint das Foto erst jetzt?)

20. Februar 1997 bis 16. Dezember 1997
Unter Vorsitz von Antonio Costanzo beginnt beim Amtsgericht in Imola «Processo Senna» und geht über 21 Sitzungen. Es geht um Sennas Wunsch, die Lenksäule zu verlängern (weil sie zu tief saß konnte er die Instrumente nicht gut sehen), es geht um den neuen Streckenbelag, der nicht perfekt war (oder wurden die Schäden durch den Unfall hervorgerufen?), es geht um das für Senna zu enge Cockpit.

Es sagen aus: Michele Alboreto, Charles Whiting, technischer Delegierter der FIA (gegen Williams). Williams klagt die Sicherheitsvorkehrungen der Rennstrecke an. Dabei kommt aber auch heraus, dass Williams einiges unterschlagen hat: die Aufzeichnungen über eventuelle Modifikationen an der Lenksäule und an der Radaufhängung. Und: sie haben der Staatsanwaltschaft zwar die Blackbox des Senna-Autos übergeben, aber nicht den Schlüssel dazu, die «Data Card», um die Daten überhaupt lesen zu können. (Im neuen Prozess müssen sie die Blackbox vorlegen, falls sie überhaupt noch existiert).

Die FOCA wird vom Staatsanwalt angeklagt, Beweise zu vertuschen u.a., dass das Car-Camera Video gekürzt worden sein soll. Sennas Teamkollege Damon Hill wird als Zeuge gerufen. Der leidet jedoch unter zeitweiliger Amnesie (er antwortet 27 Mal antwortet mit «ich weiß nicht mehr», «ich erinnere mich nicht mehr»). Weitere Aussagen der Williams-Leute werden als falsch oder unvollständig entlarvt. Sogar von einer nicht existenten Pole Sennas ist die Rede!

Die Computer-Rekonstruktionen von Williams (an stehenden Autos im Williams-Museum!) werden von der Gegenseite und von Sachverständigen als vollkommen absurd entlarvt. Die Änderung an der Lenksäule von Sennas Auto werden von Williams plötzlich nicht auf 2 Tage vor dem Imola-Rennen, sondern auf das erste Rennen der Saison in Brasilien datiert.

Angeblich hatte der zweite Williams von Damon Hill diese Modifizierung auch, Hill kann sich aber an nichts erinnern und das Beweismaterial ist verschwunden. Alboreto tritt noch einmal als Zeuge auf und betont, dass «man aus dieser Kurve nur bei einem mechanischen Schaden abfliegen» kann. Frank Williams windet sich vor Gericht und sagt, er habe «technisch gesehen nicht die geringste Ahnung und überhaupt keine Ausbildung». Im November beantragt der Staatsanwalt für Newey und Head, als Verantwortliche für die Modifizierung der Lenksäule, ein Jahr Gefängnis, die anderen spricht er frei.

Am 16. Dezember 1997 werden auch Head und Newey freigesprochen. Laut Richter Costanzo konnte keinem der beiden eine eindeutige Schuld nachgewiesen werden.

 

Juni 1998
Der Oberste Richter von Imola, der zuvor nichts mit dem Fall zu tun hatte, legt die ersten Anklagepunkte für ein Berufungsverfahren vor. Am 22. November 1999 wird der Fall «wegen mangelnder Beweise und Widersprüchlichkeit der Beweislast» niedergelegt. Die Familie Senna ist bei dem ganzen Prozess nicht als Nebenkläger oder Zivilkläger aufgetreten. «Ayrton kommt dadurch nicht wieder zurück. Er glaubte an Gott und an das Schicksal.»(Viviane Senna im Corriere dello Sport)

Jahre später waren durch anonyme Hinweise neue Beweise ans Tageslicht gekommen. Die Staatsanwaltschaft des Berufungsgerichts von Bologna reagierte nach 2 Jahren Recherchen und Zusammenstellung von neuem Beweismaterial und neuen Zeugenaussagen und rollte den Prozess wieder auf.

14. Januar 2003
Die Freisprüche für Patrick Head und Adrian Newey werden zurückgenommen, Frank Williams bekommt erneut einen Untersuchungsbefehl.

1. April 2004
Der Prozess «Todesfall Ayrton Senna» wird wieder aufgerollt.

Der Bundesgerichtshof in Rom begründet dies auf Anweisung der Amtsgerichts in Bologna folgendermaßen: «Wir haben nun eindeutige Beweise, dass die Lenksäule in irrtümlicher/unzureichender Weise modifiziert wurde. Wir wollen klären, ob diese Modifizierung den Bruch der Lenksäule hervorgerufen hat, oder ob dies durch andere Einwirkungen geschah. … Wir haben Beweise von einer Modifizierung des Querlenkers der Radaufhängung im Zusammenhang mit der Modifizierung der Länge der Lenksäule, was eine Hebelwirkung und somit den Bruch der in irrtümlicher/unzureichender Weise modifizierten Lenksäule zur Folge haben könnte. Die Angeklagten haben diese Modifizierung beantragt und durchführen lassen. Wir wollen hiermit den Zeitpunkt dieser Modifizierung sowie deren Rechtmäßigkeit und Perfektion prüfen lassen. … Außerdem sind scheinbar gefälschte Beweise von Williams unter Beobachtung zu nehmen, um sicherzustellen, dass es keine Vertuschungen gab…»

Die Beweise: Experten der militärischen technischen Einheit in Pratica di Mare bei Rom, die bereits 8 Jahren zuvor das sichergestellte Material untersucht haben, bestätigten nun wieder (wieder, denn ihr Bericht ging damals «verloren» oder wurde versteckt gehalten): die Lenksäule bestand aus 3 Teilen. Am unteren Teil war ein 8,1 cm langes Rohr zur Erhöhung des Lenkrades eingesetzt worden, stand in dem Bericht. Allerdings sei dieses Teil aus «minderwertigem Material», dünner und nicht so bruchfest, weil aus einer leichteren Legierung gewesen.

Darüber hinaus habe das eingesetzte Stück einen kleineren Durchmesser als die Original-Lenksäule gehabt. Das Teil war also oben und unten in die Lenksäule hinein geschoben (je 0,5 cm) und dann mit einer bruchsicheren Legierung eingeschweißt worden. Wie bruchsicher diese Legierung war, bezweifelten die Experten. Es sei eine «gefährliche Bastelei» (O-Ton Gerichtsschrift) gewesen. Zumal auch Modifikationen an dem Querlenker der Radaufhängung mit derselben Legierung geschehen seien, um die Hebelwirkung zu optimieren. Auch der Querlenker brach an der Schweißstelle, schnellte hoch, durchbohrte Sennas Helm und führte so zu der tödlichen Kopfwunde.

Die Staatsanwaltschaft forderte des weiteren noch einige Beweisstücke von Williams, die die bisher unterschlagen worden seien: die Data Card der Car-Camera und die Blackbox sowie Details aus der Werkstatt und deren Verwaltung bezüglich des Einkaufs von technischem und mechanischem Material.

April 2004:
Die Lenksäule soll nach Expertisen kurz vor dem Aufprall an der Mauer an der unteren, vorderen Schweißstelle aufgebrochen sein. Durch Vibrationen habe sich das eingesetzte Stück gelockert und zum Todesunfall geführt. Virtuelle und reelle Rekonstruktionen der Universitäten in Bologna, Palermo und Rom haben in einem überkreuzten Verfahren zu diesem Ergebnis geführt.

Einige Schriften gingen, typisch Italien, wieder «verloren». Dass für den neuen Prozess, der, nach Anordnung des neuen Staatsanwaltes Rinaldo Rosini am Obersten Strafgericht von Bologna stattfinden sollte, Michele Alboreto erneut als Sachverständiger zitiert wurde, ist ein kleines pikantes Detail am Rande. Offenbar war es den Verantwortlichen entgangen, dass Alboreto am 25. April 2001 bei einem Testunfall am Lausitzring ums Leben gekommen war.

2. Mai 2005
Der Prozess sollte sich nach Aussage des Obersten Richters Franco Pascucci über mindestens 4-5 Monate hinziehen. Das endgültige Urteil fiel nach neun 9 Stunden Plädoyers der vier Williams-Anwälte und von Staatsanwalt Rosini. Von den Angeklagten war bei den Schlussplädoyers keiner anwesend.

Adrian Newey wurde freigesprochen, weil «er als Designer nicht für spätere Veränderungen am Auto verantwortlich gemacht werden kann». Das Verfahren gegen Technikchef Patrick Head wurde aufgrund von Verjährung eingestellt, einen Freispruch gab es zum Ärger von Williams Anwalt Roberto Causo jedoch nicht. Head sei als Technischer Direktor für die «gefährliche Bastelei» an der Lenksäule des Williams verantwortlich, stellten die Richter fest.

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