Reinhold Roth: Abschied von einem starken Charakter
Reinhold Roth, mit der Werks-Honda NSR 250 des HB-Teams 250-ccm-Vizeweltmeister von 1987 und 1989, ist gestern im Kreis seiner Familie im Krankenhaus von Wangen im Allgäu gestorben. Der dreifache 250-ccm-GP-Sieger war in den 1980er-Jahren Teil der Blütezeit des deutsche Motorradrennsports, die im Sog der fünf WM-Titelgewinne von Toni Mang zustande kamen. Die Medien widmeten dem Zweiradsport mehr TV-Zeit und die Zeitungen mehr Raum, so wurden mehr und neue Sponsoren auf diese Szene aufmerksam, immer mehr Teams wurden gegründet, immer mehr Talente ernteten GP-Erfolge.
In dieser Ära entwickelten sich nach Martin Wimmer und Reinhold Roth auch Helmut Bradl, Manfred Herweh, Peter Öttl und Dirk Raudies zu GP-Siegern und Titelanwärtern, es stiegen Zigarettenfirmen wie Marlboro, HB und Rothmans mit riesigen Budgets als Geldgeber der deutschen Stars ein, dazu Helm- und Bekleidungsfirmen von Dainese über Boeri bis zu Römer, Schwabenleder und Uvex.
1987 wetteiferten Toni Mang und der Allgäuer Reinhold Roth vom ersten bis zum letzten 250-ccm-WM-Lauf um den Titel. Roth galt als großer Kämpfer, in Hockenheim eroberte er damals am Tag nach einem Sturz und Schlüsselbeinbruch den grandiosen dritten Platz.
In Le Mans 1987 feierte Roth, der 250-ccm-Europameister von 1982, seinen ersten GP-Sieg. Er hatte sich nach unzähligen schweren und komplizierten Knochenbrüchen immer wieder an die Spitze gekämpft und als Underdog die Herzen der Fans im Sturm erobert.
Vor der Saison 1987 wurde das Undenkbare in die Tat umgesetzt: Der legendäre Tuner und Chefmechaniker Sepp Schlögl, Jugendfreund von Toni Mang sowie Wegbegleiter des Seriensiegers und 42-fachen GP-Siegers bei seinen ersten vier WM-Titelgewinnen, trennte sich vom Champion. Er ließ sich von deutschen HB-Honda-Werksteam anheuern, das von Dieter Stappert geleitet wurde – und mit Reinhold Roth um den Titel kämpfen wollte. HB-Teamkollege von Roth wurde der aufstrebende Helmut Bradl, der 1991 Vizeweltmeister wurde und bereits 1990 drauf und dran war, Roth im HB-Team den Rang abzulaufen.
Das Skandal-Rennen von Rijeka 1990
Doch dann kam der verhängnisvolle 17. Juni 1990, der GP von Jugoslawien in Rijeka. Damals standen die Grands Prix noch unter der dilettantischen Führung der ehrenamtlichen FIM-Funktionäre wie Max Deubel, ein professionelles Rennmanagement und sinnvolle Vorschriften für die ärztliche Versorgung fehlten. Es existierte nicht einmal ein Medical Code. Der Medizinische Ausschuss der FIM war damals eine Ansammlung von Ahnungslosen und verfügte über keinerlei Rechte, wie Dr. Robert Kreutz damals anprangerte.
In Rijeka kam es 1990 schon beim 125-ccm-Rennen in der ersten Kurve zu einem Massensturz mit 19 Teilnehmern, weil die FIM sämtliche Warnungen bezüglich einer blödsinnigen Strohballenmauer ignoriert hatte. Vor dem Neustart wurden fünf zusätzliche Trainingsrunden bewilligt, das war der erste folgenschwere und reglementswidrige Fehler an diesem Tag. Später wurde das 250-ccm-Rennen trotz des einsetzenden Regens nicht abgebrochen, obwohl man längst die vollen Punkte vergeben hätte können.
Reinhold Roth büßte diese Verantwortungslosigkeit der völlig überforderten FIM-Jury mit seiner Gesundheit. Er krachte in einem Fünf-Mann-Pulk bei Tempo 170 km/h von hinten gegen das Motorrad des Australiers Darren Milner, der wegen der nassen Fahrbahn aufgeben wollte und sich auf dem Weg zur Box befand. Auf der Ideallinie, wohlgemerkt.
Milner hatte bei einem Grand Prix eigentlich nichts verloren. Welche Fähigkeiten den hoffnungslosen Nachzügler für einen WM-Lauf qualifizierten, weiß bis heute niemand. Die Grading-Listen der FIM galten damals als Buch mit sieben Siegeln.
Jedenfalls krachte Reinhold Roth, dem durch zwei Vorderleute die Sicht versperrt war, mit 170 oder 180 km/h ins Heck der Milner-Yamaha. Bei diesem wuchtigen Anprall wurde sein Rückgrat teilweise in die Schädelbasis gestaucht. Da im Rettungsauto ein Sauerstoffgerät fehlte und auch sonst keine medizinischen Hilfsmittel gegen schwere Verletzungen vorhanden waren, blieb Roth vor dem Eintreffen in der Clinica Mobile ca. acht bis zehn Minuten ohne Sauerstoff. Er hatte ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades erlitten und lag danach mehr als sechs Wochen im Koma, sein Gehirn wurde dauerhaft beschädigt. «Reinhold war dann lange im Aufwachkoma. Bis er etwas wahrgenommen hat, hat es einige Monate gedauert», erinnert sich seine Gattin Elfriede.
«Jointie» (so wurde er wegen seines einst starken Zigarettenkonsums genannt) litt seither am apallischen Syndrom, das ist ein Krankheitsbild, das durch die schwerste Schädigung des Gehirns hervorgerufen wird. Reinhold blieb linksseitig gelähmt und war ein Pflegefall. Er konnte sich nicht mehr durch Worte verständlich machen und wurde in Amtzell im behindertengerechten Haus von seiner Frau Elfriede, deren Geschwistern und Sohn Matthias liebevoll betreut und von Intensiv-Krankenschwestern gepflegt.
Die gläubige Elfriede Roth stand beim Grand Prix in Rijeka wie immer mit der Stoppuhr und der Rundentabelle an der Boxenmauer. Ihr erster Gedanke: «Das hat er nicht überlebt.»
Doch in der Clinica Mobile im Fahrerlager wurde Reinhold Roth reanimiert und am Leben erhalten. Am nächsten Tag brachte sie Zivilkleidung ins Krankenhaus, denn sie hoffte, dass er bald aufstehen und im Motorhome mit ihr und Matthias heimreisen werde.
Aber Dr. Christoph Scholl, in Jugoslawien als HB-Honda-Teamarzt dabei, machte ihr klar, es bestehe keine Aussicht auf eine Genesung. Dass Reinhold immerhin mit dem Leben davonkam, bezeichnet Elfriede nie als medizinisches Wunder, sondern als «göttliche Fügung».
Bei ZDF-Talker Lanz hat Elfriede im Oktober 2014 erzählt, dass sie in den nächsten Tagen nach dem Unfall einen Traum hatte. Sie sah das Bild ihres Mannes vor sich und sprach zu ihm: «Reinhold, wenn du willst, darfst du gehen. Aber wir lieben dich, und wir brauchen dich noch.»
Roth überlebte und blieb bei seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn Matthias, damals sechs und heute 38 Jahre alt.
Aber das Leben veränderte sich für die Familie grundlegend. Elfriede Roth opferte sich bei der Pflege ihres Mannes auf, wich jahrelang kaum von seiner Seite, ihre acht Geschwister (fünf Schwestern, drei Brüder) unterstützten sie tatkräftig. Man las ihm vor, spielte seine Lieblingsmusik, aber Reinhold zeigte kaum Reaktionen, nur die engen Verwandten konnten seine Gefühlslage interpretieren. Er zeigte Appetit und wirkt bei Besuchen immer sehr sauber und gepflegt.
Reinhold schaute die Motorrad-Rennen im Fernsehen an, und Elfriede war überzeugt: «Er kriegt alles mit.»
Aber der zweifache Vizeweltmeister konnte sich nicht verständlich machen, sich nicht ausdrücken. Elfriede bezeichnet die Beziehung als Liebe auf einer anderen Ebene. «Reinhold ist so liebenswert», sagte Elfriede im Gespräch mit SPEEDWEEK.com. «Den muss man einfach gern haben. Wir waren über 40 Jahre verheiratet... Ich weiß noch, dass ich am 13. Hochzeitstag 1991 zu ihm gesagt habe: 'Es wäre mein größtes Geschenk, wenn du jetzt die Augen öffnen würdest.' Das hat er aber nicht gemacht.»
Irgendwann erzählte Elfriede, sie habe mit der Zeit lernen müssen, Reinhold nicht mehr als Ehemann, sondern als Kind zu betrachten.
Nach sieben Jahren sprach Reinhold Roth erstmals wieder ein Wort, undeutlich. Man deutete es auf «Morgen».
Für die Therapie war unheimlich viel Geduld nötig, die Fortschritte verliefen in ganz kleinen Schritten, aber immerhin spürbar, es ging alles sehr langsam vor sich. Vom Speed der alten Tagen konnte keine Rede mehr sein. Reinhold konnte inzwischen Überschriften entziffern, er konnte kleine Bissen alleine essen, mit einem Strohhalm trinken.
«Wenn es ihm wirklich gut geht, kann man mit Reinhold kommunizieren, auch so, dass es Sinn macht», schilderte Elfriede im Vorjahr, als sich der Unfall zum 30. Mal jährte. «Am Dienstagabend, am Tag vor dem Geburtstag, habe ich gesagt: 'Reinhold, wir machen morgen eine Party. Freust du dich, wenn die Gäste kommen?' Er hat geantwortet: 'Ich freue mich riesig.' Er bekam manchmal mehr mit, als man glaubte.»
Elfriede Roth: «Ich habe ein Recht auf Leben»
Die Pflege brachte Elfriede Roth allmählich an ihre körperlichen Grenzen. Ihre Widerstandskraft erlahmte. «Ich kann nicht mehr», seufzte sie manchal. Sie erkrankte vor 16 Jahren an Darmkrebs und kam für acht Wochen ins Krankenhaus.
«Nimm dich mal wieder selbst wahr», lautete Elfriedes Devise während des Krankenhausaufenthalts. «Ich habe auch ein Recht auf Leben.»
Danach wurde das Leben im Hause Roth in Amtzell neu organisiert, ein Pflegeteam wurde engagiert. Elfriede machte nach vielen Jahren wieder einen kurzen Skiurlaub, sie unternahm manchmal wieder Tagesausflüge nach Zürich, schöpfte neue Kraft und fand eine Aufgabe und Ablenkung in der Textilbranche. Bald darauf verliebt sie sich. «Ich hab’ immer gesagt, wenn es sein soll, läuft mir einer über den Weg, der mit mir meinen schweren Rucksack trägt.»
Inzwischen ist sie seit 15 Jahren mit Lebenspartner Markus liiert.
Reinhold Roth war zum Zeitpunkt des Unfalls gut versichert, der Wohlstand konnte gesichert bleiben. Elfriede kaufte vor einigen Jahren die Modeboutique «Kirch» in der Herrenstraße in Wangen, sie betreibt sie mit Sohn Matthias, der inzwischen auch als Cross-Fit-Trainer arbeitet und mit einem Freund neu ein eigenes Studio in Ravensburg eröffnet hat. «Mein Sohn trainiert jetzt seine 65-jährige Mutter. Ich gehe zweimal in der Woche hin.»
Die Rennsportvergangenheit verblasst allmählich, die Besucher aus dem GP-Sport werden spärlicher. Ein Highlight war der Besuch des dreifachen 500-ccm-Weltmeisters Wayne Rainey 1996. Er kam mit dem Privatflieger nach Friedrichshafen und fuhr mit dem heutigen SPEEDWEEK.com-Reporter nach Amtzell. «Reinhold, you are looking great», sagte der selbst im Rollstuhl sitzende Kalifornier jovial zur Begrüssung.
«Wayne hat bei uns auf dem Heizkörper unterschrieben», erinnert sich Elfriede. «Der Besuch von Wayne war ein ganz tolles Erlebnis.»
Die ehemaligen Rennfahrerkollegen wie Helmut Bradl, Toni Mang und Harald Eckl haben in 30 Jahren nie den Weg nach Amtzell gefunden. «Neben Wayne Rainey war nur Jacques Cornu einmal da. Nach dem Unfall war die Resonanz von den Ausländern größer als von den deutschen Landsleuten», bedauert Elfriede.
Sohn Matthias (38) ist erwachsen geworden; er hat ein paarmal den GP von Deutschland auf dem Sachsenring besucht. Jetzt seit elf Jahren nicht mehr, für eine Rennkarriere war er mit 190 cm zu groß.
Ein halbes Jahr vor seinem seinen 67. Geburtstag ging es Reinhold gesundheitlich sehr schlecht. «Er war an diesem Geburtstag ganz gut drauf, schon am Abend vorher», schilderte Elfriede. «Allerdings haben wir ein halbes Jahr vorher nicht gedacht, dass wir noch einmal einen Geburtstag mit ihm feiern können. Reinhold war an einer Lungenentzündung erkrankt, er musste in die Klinik. Da ging es ihm ganz, ganz schlecht. Zu Weihnachten 2019 haben wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen.»
Elfriede vermutete schon damals: «Irgendwann wird es seine Lunge nimmer packen, weil er immer wieder aspiriert und abgesaugt werden muss. Wir haben damals ein schreckliches halbes Jahr hinter uns gehabt. Aber nachher hat er sich wieder ganz gut erholt.»
«Die Ärzte in der Fachklinik, wo Reinhold wegen der Lungenentzündung war, haben vor zwei Jahren wieder einmal gesagt, Reinhold sei ein medizinisches Wunder. Er hatte einen wahnsinnigen Willen. Ich sagte immer, er hat noch eine Aufgabe hier auf dieser Erde. Keiner kann sagen, wann deine Stunde geschlagen hat. Er war noch gerne da. Reinhold hatte so eine Ausstrahlung, von ihm ging so eine Wärme und Ruhe aus. Er war zufrieden und bescheiden. Von ihm konnte man viel lernen», blickt Elfriede zurück.
Am Jahresende 2019 hat das alte Pflegeteam nach 22 Jahren gekündigt. «Aber ich habe ein ganz, ganz tolles neues Team gefunden», freut sich Elfriede. «Das ist 'Heimbeatmung', ein Intensiv-Pflegedienst mit Krankenschwestern, die Reinhold auch medizinisch betreuen konnten. Als es ihm vor zwei Jahren so schlecht ging, bin ich in der Nacht alle paar Stunden zu ihm runter gelaufen und habe geschaut, ob er noch lebt. Es war eine schlimme Zeit.»
Der GP-Sieger wurde von der Familie und vom Pflegedienst rund um die Uhr betreut, er verbrachte die Nächte in einem breiten Gitterbett, tagsüber saß er im Rollstuhl, er war seit dem Unfall 1990 halbseitig gelähmt. Manchmal machte er winzige Schritte.
Elfriede Roth hat sich ihre Lebensfreude bewahrt, sie bewunderte ihren Reinhold. «Er hatte eine unglaubliche Aura. Er hat das Haus ausgefüllt», blickt sie voll Bewunderung zurück. «Wenn es Reinhold gut ging, waren wir alle miteinander richtig glücklich.»