Marco Simoncelli: Ein Rebell, Draufgänger und Krieger
Der Tod von Marco Simoncelli hat die Motorradwelt im Oktober 2011 tief bewegt. Seit dem Tod von Ayrton Senna 1994 hatte kein so charismatischer und populärer Motorsportler auf der Rennstrecke sein Leben verloren.
Deshalb ging der Tod von Super-SIC vielen Menschen so nahe. Die Betroffenheit nahm ungeahnte Ausmasse an – und sie ist heute im Fahrerlager noch an allen Ecken und Enden spürbar. Täglich läuft man 20 mal an einem Truck vorbei, auf dem die Nr. 58 klebt, Journalisten haben ihre Notebooks mit der 58 dekoriert, auch die Buttons sind überall zu sehen.
Nicht nur das: Inzwischen wurde die GP-Piste an der Adria in «Misano World Circuit Marco Simoncelli» umbenannt, es wurde eine «Fondazione Marco Simoncelli 58» gegründet, es gibt den «SIC Supermoto Day», bei dem 2013 leider Doriano Romboni ums Leben kam. In der Unglückskurve in Sepang steht eine SIC58-Gedenktafel; im Heimatort Coriano ist ein sehenswertes SIC-Museum (mit seiner Honda RC213V) entstanden und dazu ein Kunstwerk mit Strahlkraft, die Fondazione hat inzwischen bereits den Bau eines Krankenhauses in Coriano mitfinanziert.
Papa Paolo kehrt 2017 mit einem Moto3-Team «SIC58 Squadra» in die Weltmeisterschaft zurück. «Ich habe mir nach Marcos Tod vorgenommen, irgend einmal wieder mit einem Teamtruck durch das Tor zum Fahrerlager zu fahren», erklärte er.
De Startnummer 58 wird in der MotoGP-Kategorie nicht mehr vergeben. Nur die Familie Simoncelli kann diese Entscheidung rückgängig machen.
Das bringt uns zu einem Thema: SIC? Was heißt das?
Wie bringt man es als Träger des Namens Simoncelli zu so einem merkwürdigen Markenzeichen?
Das kann doch mit dem Familiennamen nichts zu tun haben, oder?
Tatsächlich haben wir aus reiner Neugier einmal die Hintergründe des Zustandekommens dieses Kürzels recherchiert. Wir fanden heraus: Simoncelli hat sich den nicht sehr gebräuchlichen italienischen Ausdruck «sbatti i coglioni» zum Lebensmotto gemacht, das bedeutet so viel wie «fuck it» oder «das ist mir scheißegal». Der furchtlose Italiener war ein Nonkonformist, ein Rebell, ein Draufgänger, ein Kämpfer, sein Charisma reichte an jenes von Rossi heran. Deshalb lebt er in den Herzen von Tausenden Fans weiter. Sie nannten ihn bald Super-SIC.
Bei SIC-Kumpel Rossi wissen ja auch nur die Eingeweihten, warum er seit Kindertagen das Kürzel «VVLF» auf dem Kragen der Lederkombi stehen hat. Das heißt: «Viva viva la Figa» – er lässt damit ein primäres weibliches Geschlechtsorgan hochleben.
Es ist eine merkwürdige Ironie des Schicksals, dass auch die GP-Strecke in Malaysia SIC heißt – das steht für Sepang International Circuit.
SIC und die Fehde gegen die Spanier
Marco Simoncelli, auf Gilera 2008 Weltmeister in der 250-ccm-Klasse, war ein Popstar, seine Jimi-Hendrix-Frisur machte ihn zum Teenie-Schwarm, seine respektlose Fahrweise, seine grenzenlose Begabung, sein unbekümmertes Auftreten, seine Fehden in der 250er-Ära gegen die Spanier – Marco war ein junger Mann mit Ecken und Kanten.
Die Nummer 58 ließ sich nicht verbiegen. Als die Dorna den Japan-GP 2011 nach der Atomkatastrophe von Fukushima einfach von April auf Oktober verlegte und viele Im GP-tross Angst vor den Strahlen hatten, ließ sich SIC in der Boxengasse provokativ mit einem Geigerzähler fotografieren.
Die «Gazzetta dello Sport» breitete das Simoncelli-Drama nach dem Unfall 2011 auf elf Seiten aus.
Ausgerechnet Valentino Rossi hatte den in Runde 2 gestürzten Simoncelli überfahren und ihm dabei vielleicht die tödlichen Verletzungen zugefügt. Valentino rumpelte über Marcos Oberarm und riss ihm dabei mit der Vordergabel den Helm vom Kopf.
Natürlich wurde die Frage erörtert, warum der agv-Helm davon geflogen sei. Lag es daran, dass Simoncelli wegen seines Wuschelkopfs einen zwei Nummern größeren Helm trug als seine Kopfgröße verlangt hätte? AGV-Entwickler Vittorio Cafaggi: «Der Helm musste davonfliegen. Jeder Kinnriemen muss einer gewissen Belastung standhalten. Dann muss er reißen. Die Halterung am Kinn wurde rausgerissen. Wäre der Helm nicht davon geflogen, wäre Marcos Kopf abgerissen worden....»
Portugal 2011: Der Krach mit Lorenzo
Rossi und Simoncelli waren die besten Freunde – und sie wären 2012 Geschäftspartner geworden. Rossis Firma «VR46 Apparel» sollte 2012 die Merchandising-Produkte von Super-SIC vertreiben.
Nicht gerade ein Herz und eine Seele waren hingegen Simoncelli und Lorenzo. Der damalige Yamaha-Star regte sich 2011 mehrmals über den aufmüpfigen und respektlosen MotoGP-Eindringling aus Italien auf, weil dieser mehrmals in Kollisionen mit namhaften Gegnern verwickelt wurde.
Vor dem Portugal-GP 2011 saßen Lorenzo und Simoncelli bei einer Pre-Event-Pressekonferenz nebeneinander. Lorenzo sagte sinngemäss zu seinem Nachbarn: «Der MotoGP-Sport ist gefährlich genug, wir brauchen keine solchen Manöver. Wenn du so etwas noch einmal machst...»
Simoncelli fiel ihm vorlaut ins Wort. «Was passiert dann? Komme ich dann ins Gefängnis», erkundigte er sich grinsend. Das Video ist ein Renner auf «you-tube».
Aber nach dem Tod von Marco war Jorge Lorenzo genau so tief betroffen wie alle anderen Fahrerkollegen.
Valentino Rossi beschrieb später einmal den Charakter von Simoncelli anhand eines Beispiels. «Nach dieser Pressekonferenz habe ich Marco am Abend beiseite genommen und ihm dringend eingeschärft, zumindest in nächster Zeit ein bisschen mehr aufzupassen bei den Zweikämpfen. Doch beim nächsten Rennen in Le Mans hat er Dani Pedrosa abgeschossen, Dani hat einen Schlüsselbeinbruch erlitten. So war Marco halt...»
Sepang: Tolpatschige Rettungsaktion
Die Rettungsaktion der malaysischen Streckenposten wurde von Zuschauervideos sofort als tolpatschig enttarnt. Sie luden den leblosen Simoncelli auf eine Trage und liefen Richtung Dreifach-Leitplanke, hinter der ein Rettungsauto wartete. In der Eile stolperte ein Helfer, danach entglitt den aufgeregten Rettern vorübergehend die Trage. Sie plumpste mitsamt Simoncelli in die Wiese.
Aber der Honda-Werksfahrer war bereits tot. «Marcos Herz hat wegen der schweren Brustkorbverletzungen bereits auf der Strecke zu schlagen aufgehört», berichtete Race-Director Paul Butler.
Das bestätigte auch Papa Paolo Simoncelli. «Ich war an der Unfallstelle. Marco war bereits tot. Ich nahm seine Hand, ich sprach ihn an. Aber er war bereits gestorben.»
Für den geschockten Paolo Simoncelli brach die Welt zusammen. «Ein Zufall», seufzte er. «Zehn Zentimeter Unterschied hätten gereicht, um die Schulter zu verletzen anstelle des Genicks. Leider ist Marco genau zwischen Nacken und Kopf getroffen worden. Sogar im Tod war er so schön. Ich liebe ihn zutiefst...»
Paolo war sich bewusst: «Nach dem Begräbnis beginnt für uns die Einsamkeit.»
«Marco war etwas Besonderes»
Papa Paolo hatte seine Eisdiele verkauft, um Marcos Rennkarriere mitfinanzieren und ihn zu allen Rennen begleiten zu können.
«Marco war etwas Besonderes. Das haben die Leute erahnt und gespürt. Er war froh, ein einfaches Leben führen zu können, mit seinem Hund, im Grünen. Alles Unkomplizierte hat ihm gefallen. Nur selten ist ihm ein böses Wort über die Lippen gekommen, nur wenn er sich dazu gezwungen fühlte. Er war immer ehrlich und offen. Vielleicht war das der Grund für seinen frühen Tod, Man sagt, der liebe Gott holt die Besten zu sich. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Aber ich hoffe, dass es so ist», sinniert Paolo.
Er habe sich von Marco vor jedem Rennen mit einer Umarmung verabschiedet, erzählte der Senior. «Auch an diesem Sonntag in Sepang. Es hat nichts geholfen. Am Tag zuvor hat er zu mir gesagt: ‹Ich bin müde. Ich will heim.›»
«Ich habe Marco gelehrt, ein Krieger zu sein und nie aufzugeben... Ich weiss nicht, ob ich das Richtige getan habe», grübelte Paolo nach dem Unglück. «Wenn er den Motorradsport verlassen hätte, wäre er noch am Leben.»
«Vor dem Unglücksrennen in Malaysia hat Marco wegen der Hitze in einem Pool mit Eiswürfeln gebadet», schilderte Papa Simoncelli. «Er wollte unbedingt gewinnen. Er war in Bestform und überzeugt, früher oder später MotoGP-Weltmeister zu werden.»
Marco Simoncellis Leichnam wurde eingeäschert. «Wir hatten ein Abkommen», gab Paolo später preis. «Er würde mich eines Tages einäschern lassen und meine sterblichen Überreste auf seinem Nachttisch aufbewahren; so war es vereinbart. Und von Zeit zu Zeit würde er mit mir eine Runde im Garten drehen. Er hat mich reingelegt. Er hat uns alle übers Ohr gehauen.»