Michelin in der MotoGP: Eine Gratwanderung mit 280 PS
Die Katastrophe von Sepang 2016: Kaputter Hinterreifen an der Ducati von Loris Baz
Michelin musste schon beim ersten großen IRTA-Test in Sepang im Februar 2016 viel Kritik einstecken, als sich am zweiten Tag um 10.14 Uhr mitten auf der Start/Zielgeraden an der Avintia-Ducati von Loris Baz bei genau 290,4 km/h der Hinterreifen in seine Bestandteile auflöste.
Michelin mutmaßte zuerst, es habe sich um einen technischen Defekt an der Desmosedici gehandelt. Dieser Verdacht wurde vion Ducatio sofort dementiert. Danach wurde das Avintia-Team verdächtigt, den vorgeschriebenen Reifendruck von 1,5 bar um 0,05 bar unterschritten zu haben, um mehr Performance aus dem Hinterreifen herauszuholen.
«Zuwenig Luftdruck bedeutet immer mehr Performance, aber es steigt das Risiko, dass sich die Lauffläche ablöst», schildert ein langjähriger MotoGP-Reifentechniker. «Wenn ein Stück Gummi rausfliegt und du noch 200 oder 300 Meter weiter Vollgas fährst, kriegt die Konstruktion irgendwann auch Stress.»
Heute verbreitet die Michelin-PR-Abteilung sogar das Märchen, der Hinterreifen von Baz sei damals wegen eines Plattfußes geplatzt.
«Wie soll ein Reifen explodieren, wenn nach einem Plattfuß die Luft draußen ist», wundert sich ein renommierten MotoGP-Reifen-Ingenieur.
Beim Thema Krisenbewältigung kann Michelin vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten dazulernen.
Offenbar hatte Michelin in Sepang 2016 ein mulmiges Gefühl, denn die Franzosen haben damals diesen weichen A-Compound in der Hitze von Malaysia naxch dem Baz-Desaster mit sofortiger Wirkung aus dem Verkehr gezogen. Er durfte an den nächsten eineinhalb Tagen nicht mehr verwendet werden. Für den dritten Grand Prix in Texas Im April wurde damals ein widerstandsfähigerer Reifen entwickelt.
Man habe die weiche Mischung des Hinterreifens, also den A-Compound, aus der Allocation herausgenommen, schilderte Piero Taramasso, Track Operations Manager für MotoGP bei Michelin, in Sepang 2016 im Gespräch mit SPEEDWEEK.com. Das sei eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen. An den restlichen eineinhalb Tagen wurde ausschließlich der härtere B-Compound an die Teams ausgeliefert.
Von einem Plattfuß sprach damals niemand.
Übrigens: Beim zweiten Grand Prix 2016 löste sich an der Pramac-Ducati von Scott Redding die Lauffläche vom Hinterreifen. Dieser peinliche Vorfall passierte bei Live-TV im FP4, in dem normalerweise mit den harten Rennreifen gefahren wird.
Michelin musste dann für die 20 MotoGP-Rennrunden des Argentinien-GP 2016 einen Pflichtstopp zum Reifenwechsel (trotz trockener Fahrbahn) vorschreiben, also ein «flag to flag»-Race, weil keine Mischung die Distanz überlebt hätte.
Können 0,05 bar Unterschied entscheidend sein?
Kann es wirklich sein, dass das Avintia-Team in Sepang 2016 den Reifenplatzer verursacht oder heraufbeschworen hat, weil das Team mit 0,05 zu wenig Reifendruck am Hinterrad gefahren ist und den empfohlenen Reifendruck von 1,5 bar unterschritten hat, um dem Fahrer mehr Grip am Hinterrad zu vermitteln?
Diese Vermutung des einstigen Michelin-Technik-Direktors Nicolas Goubert und seines Projekt-Managers Piero Taramasso wird nicht nur von vielen Fans und Beobachtern bezweifelt, sondern auch von echten Experten für Rennreifen.
Als «Riesenschwachsinn» bezeichnet unser MotoGP-Reifen-Ingenieur diese Behauptung von Michelin. Wegen 0,05 weniger Luftdruck passiere so eine Katastrophe nicht, sind sich die Fachleute einig.
Tatsache ist, dass zum Beispiel die Bridgestone-Reifentechniker (die Japaner lieferten die Einheitsreifen von 2009 sieben Jahre lang bis Ende 2015) von Beginn an deutlich mehr Wert auf die Kontrolle des Reifendrucks legten als die Spezialisten von Michelin. «Die Kontrolle des Luftdrucks war bei Bridgestone immer extrem wichtig», schildert ein erfahrener MotoGP-Crew-Chief.
Mitglieder der Boxencrews von Repsol-Honda und Movistar-Yamaha erzählten bereits 2015, es sei ihnen bei etlichen Probefahrten mit Michelin aufgefallen, dass sich von den Franzosen niemand wirklich darum kümmerte, ob der Reifendruck akkurat eingestellt war. Es machte sich Verwunderung breit.
Denn bei Bridgestone wurde der Reifendruck in den MotoGP-Trainings bei jedem Stopp sorgfältig kontrolliert und aufgeschrieben.
Es wurde Bilanz darüber geführt, wie hoch der Reifendruck im Fahrbetrieb in die Höhe kletterte, bei jedem Team und jedem Fahrer.
Als Michelin 2015 in Malaysia zum ersten Mal testete, fiel den Teamtechnikern auf, dass Michelin dieses Thema stark vernachlässigte. «Die Franzosen legen auf die Kontrolle des Reifendrucks keinen Wert», war zu hören.
Der Luftdruck wurde in der Früh bei kalten Reifen gemessen, dann fuhren die Testfahrer los.
Die alten Hasen in den Technikcrews der Teams hielten das schon 2015 für ein Sicherheitsrisiko. Denn üblicherweise sollte der Druck erst gemessen werden, wenn die Reifenwärmer nach einer Stunde von den Reifen entfernt werden. Dann sollte der so genannte «Warmluftdruck» gemessen werden. Bridgestone ließ die Piloten immer mit einem Warmluftdruck von 1,5 bar losfahren. Auf Strecken wie Mugello, Sachsenring und Sepang ging der Luftdruck dann beim Fahren hoch auf 1,7 oder 1,8 bar, bei Honda wurde mitunter sogar ein Fahrluftdruck von 1,9 bar angezeigt.
Die Michelin-Datenblätter offenbarten schon in der Saison 2015, dass mit etwas weniger Luft gefahren wurde als bei Bridgestone, verrieten die Teams.
Außerdem gilt der Unterbau der Michelin-Reifen schon seit Jahren als verhältnismäßig weich im Vergleich zu Bridgestone. Basierend auf dem weicheren Unterbau verwendet Michelin dann einen etwas härteren Gummi.
Die Bridgestone-Strategie in der MotoGP-Klasse sah anders aus: Die Japaner setzten auf einen härteren Unterbau, dafür von der Tendenz her auf etwas weichere Gummimischungen.
Der Vorteil des weicheren Unterbaus: Auf Strecken mit hohen Temperaturen wie in Malaysia erzielt ein Reifenhersteller auf diese Weise einen größeren «contact patch», eine größere Auflagefläche.
Das kann sich vorteilhaft auswirken, aber bei der Abstimmung kommt es üblicherweise mit dem weichen Unterbau zu Schwierigkeiten, das Motorrad in Balance zu halten. Und es kommt mitunter zu Deformationen der Reifen, das führt zu unterschiedlichem Fahrverhalten während der Renndistanz.
Gratwanderung: Viel Grip, trotzdem hitzebeständig
Die Anforderungen für einen MotoGP-Reifenhersteller sind gewaltig. Bis zu 280 PS, 1000 ccm, 157 kg, Geschwindigkeiten bis zu 350 km/h – das sind nur einige Parameter der MotoGP-Maschinen, die berücksichtigt werden müssen.
Die Reifen müssen also hitzebeständig sein, die Fahrer wünschen sich aber trotzdem perfekten Grip in allen Lebenslagen.
Eine heikle Gratwanderung für alle Reifenerzeuger.
Bridgestone hatte ja auch seine dramatischen Erlebnisse. 2004 zerplatzte bei Kawasaki-Werksfahrer Shinja Nakano in Mugello ein Hinterreifen, bei Makoto Tamada (Honda) beim Test in Sepang.
Auch neun Jahre später erlebte Bridgestone in Phillip Island ein Desaster, als 2013 wegen des neuen, aggressiven Asphalts die MotoGP-Hinterreifen maximal zehn Runden durchhielten.
Danach konstruierte Bridgestone für die Saison 2014 wesentlich härtere, hitzebeständigere Reifen.
Trotz dieser leidvollen Bridgestone-Erfahrungen brachte Michelin 2015 für Colin Edwards keine besonders widerstandsfähigen Reifen zum Phillip-Island-Test. Tatsächlich kam es dann zu «junk out»-Vorkommnissen, also zum Davonfliegen von Teilen der Lauffläche.
Durch den extremen Grip und die erhöhte Belastung auf den Hinterreifen ist die australische Rennstrecke eine besondere Bewährungsprobe für die Reifen. 2013 lösten sich sogar die Moto2-Reifen in Phillip Island in ihre Bestandteile auf, weshalb das Rennen um fast die Hälfte verkürzt wurde. Und in der Supersport- und Superbike-WM erlebte Pirelli sogar im Februar 2018 noch ein Phillip-Island-Desaster.
Es kommt auf der Piste in Australien zu einer Spannung im Reifenkern, den die Experten als «friction» bezeichnen. Wenn weniger Luftdruck verwendet wird, wird dieser «friction»-Effekt noch größer.
Bis zum Reifenplatzer von Sepang 2016 sickerten nie ernsthafte Sicherheitsprobleme von Michelin in der MotoGP-Klasse durch, weil die meisten Tests unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden.
Aber im August 2015 wurde sogar von Auflösungserscheinungen bei einem Hinterreifen von Ducati-Testfahrer Michele Pirro bei Tests in Misano (bei grosser Hitze) erzählt. Cal Crutchlow erwähnte diese Neuigkeit gegenüber den Medien und musste sich dann kleinlaut bei Michelin entschuldigen.
Seither vermuteten die Fachleute, Michelin könne durch den weichen Unterbau und den «friction»-Index noch öfter Sorgen bekommen. Denn die Hinterreifen werden zwischen Konstruktion und Gummiauflage zu stark gestresst und belastet – und dadurch deformiert.
Die MotoGP-Fahrer berichteten anfangs einhellig von einem sehr hohen Gripniveau des Michelin-Hinterreifens. Der Reifen vermittelte durch den weichen Unterbau einen tadellosen «contact patch». Aber dieses hohe Gripniveau geht offenbar manchmal bei bestimmten Verhältnissen und Asphaltbeschaffenheiten auf Kosten der Konstanz und damit der Sicherheit.
Ob Michelin den weichen A-Compound, der nach dem Baz-Crash in Sepang aus dem Verkehr gezogen wurde, jemals wieder eingesetzt hat, entzieht sich unserer Kenntnis
Die MotoGP-Teams vermuten, dass in Clermont Ferrand nach dem Bridgestone-Vorbild an einem spürbar härteren Compound für die A-Mischung gearbeitet wurde, um den internen Stress im Reifeninneren zu verringern.
Außerdem blieb Michelin nichts anders übrig, als die Luftdruck-Strategie zu ändern und konsequenter auf den Warmluftdruck der Reifen zu achten.
Bridgestone verstärkte «casing» für die 1000-ccm-Bikes
Bridgestone verwendete 2002, 2003 und zu Beginn der Saison 2004 einen anderen Unterbau als später nach den Crashs von Nakano und Tamada im Jahr 2004. Nach dem Mugello-Nakano-Kawasaki-Desaster im GP-Training 2004 entwickelten die Japaner eine neue Konstruktion für die Hinterreifen, der mehr Sicherheit gewährleistete.
Michelin hat den Vorderreifen zwischen den November-Tests 2015 und Sepang im Februar 2016 deutlich verbessert. Danach haben die Franzosen auch den A-Compound-Hinterreifen widerstandsfähiger gestaltet. Aber vorher löste sich bei Redding im FP4 in Argentinien (2. Saison-GP) an der Pramac-Ducati hinten dramatisch die Lauffläche ab.
Bridgestone sammelte 2012, 2013, 2014 und 2015 mit den neuen 1000-ccm-MotoGP-Raketen wertvolle Erfahrungen. Das «casing» wurde nach der 800-ccm-Ära (2007 bis 2009) verstärkt, es wurde nach dem Australien-GP 2013 intern sogar «heat casing» genannt. Dieser verstärkte Unterbau wurde nötig, um auch in Zukunft auf der Lauffläche mit weicheren Gummimischungen fahren zu können.
Ein Rennreifen besteht aus einer Karkasse, dann wird zwischen der Karkasse und der Auflagefläche noch eine hitzebeständige Gummischicht (quasi als Schutzschild) eingebaut. Die oberste Gummischicht wird auf die ersten beiden Schichten draufvulkanisiert.
Und was treibt Bridgestone heute? Bei Brigestone Europe werden für das YART-Yamaha-Team die Slickreifen für die Endurance-WM entwickelt und viele andere Projekte betreut.