Technik-Serie: Lotus-Chef Chapman gibt Vollgas
Elio de Angelis mit dem Lotus 88 bei Testfahrten in Rio.
Gut gemeint ist leider oft das Gegenteil von gut: Die Formel 1 gilt als Schmelztigel der hellen Köpfe, aber nicht jede Entwicklung ist bahnbrechend. Viele erwecken eher den Eindruck: Der Begriff Schnapsidee beschreibt sehr schön, wie die Inspiration zustande gekommen ist …
Das Leben ist nicht immer fair: Einige Einfälle waren ihrer Zeit voraus, andere kamen hingegen etwas zu spät, wieder andere scheiterten an Umständen, die von den Technikern nicht vorhergesagt werden konnten.
In einer kleinen Serie ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchten wir Ihnen zwölf solcher Genie- oder anderer Streiche präsentieren. Wir sind uns dessen bewusst, dass wir dabei möglicherweise einen Kniff kritisieren, den ein anderer Formel-1-Anhänger wunderbar findet. Wenn wir also etwas provozieren, dann immer auch mit Augenzwinkern und ohne bösen Willen.
Aus der Serie «Es schien mir eine gute Idee zu sein», präsentieren wir Ihnen heute:
Doppel-Chassis
Colin Chapman, der vielleicht grösste Trendsetter der Formel 1: Leichtbau, Monocoque-Bauweise, umgekehrte Flügel, um Abtrieb zu erzeugen (am und im Rennwagen), seinen Wagen als rasende Litfasssäule bemalen, Chapman verblüffte die Gegner immer wieder aufs Neue.
Es lag auf der Hand, dass einige Einfälle nicht nur die Konkurrenz vor den Kopf stiessen, sondern auch die – ab und an ziemlich überforderten – Rennkommissare und Regelwerk-Stricker.
Nie traf das mehr zu als beim umstrittenen Lotus 88.
Chapman und seine Mitdenker Peter Wright, Tony Rudd und Martin Ogilvie standen vor einem Problem: Der Lotus 78 hatte als erstes richtiges Wing-Car den Trend gesetzt, im Typ 79 konnte Mario Andretti in der Saison 1978 den WM-Titel erobern. Aber dann schoss Lotus übers Ziel hinaus, der Lotus 80 – grundsätzlich ein Flügel als Auto – war zwei Schritte zu weit gedacht und funktionierte nicht.
Die Gegner hatten inzwischen nicht geschlafen und das Prinzip verfeinert, der Automobilverband hatte gleichzeitig die Schürzen verboten, jene Elemente also, welche seitlichen Luftabfluss bei den Flügel-Elementen in den Seitenkästen verhindern sollten.
Chapman & Co. wussten: Nun musste dringend ein Innovations-Schub her.
Also liessen sie sich ein Auto einfallen, das zwei Chassis-Einheiten mit je einer Aufhängung aufwies. Das innere Chassis (Fahrerzelle und Motor) war verhältnismässig komfortabel gefedert; das äussere Chassis (komplette Verkleidung, einschliesslich Schürzen aus Keramik) hingegen sehr hart. Hintergrund: Mit zunehmendem Tempo, also grösserer aerodynamischer Last, sollte es zu Boden gepresst werden, zur Seite abdichten, und – voilà! – schon haben wir wieder ein Flügelauto, wie es auch wirklich funktionieren sollte.
Der entscheidende Knackpunkt im Reglement: Aus dem Original auf Französisch ging nicht hervor, ob mit «Chassis» nur die Einzahl gemeint war oder das auch als Mehrzahl verstanden werden konnte.
Es begann ein endloses Theater: Vier Mal wurde das Auto von den lokalen Rennkommissaren als legal eingestuft, vier Mal schritt die Motorsportbehörde (damals FISA) ein und untersagte den Einsatz, weil sie das zweite Chassis als (verbotene) bewegliche aerodynamische Hilfe ansahen. Nigel Mansell und Elio de Angelis, die den 88er angenehm zu fahren fanden, waren jeweils gezwungen, auf den Typ 87 umzusatteln.
Beim Heimrennen in Silverstone wurde Chapman mitgeteilt, falls er nochmals seinen Kopf mit dem Doppel-Chassis-Wagen durchzusetzen gedenke, würde man ihn aus der Weltmeisterschaft werfen.
Das Auto hat nie einen WM-Lauf bestritten.
Colin Chapman erlag am 16. Dezember 1982 einem Herzinfarkt.