Beispiel Italien: Was blüht uns bei Ausgangssperre?
Keiner weiß, wann die Ampel in Italien wieder auf grün schaltet
Seit bald zwei Wochen ist ganz Italien ein Sperrgebiet – oder «eine geschützte Zone», wie es Premier Giuseppe Conte bevorzugt formuliert. Das klingt nicht nur wie ein Katastrophenfilm, es fühlt sich immer mehr auch danach an.
Der Alltag für 60 Millionen Menschen spielt sich bis auf wenige Ausnahmen nur noch in den heimischen vier Wänden ab. Denn laut dem Regierungsdekret vom 9. März, das vorläufig bis zum 3. April gilt, darf sich derzeit nur in Bewegung setzen, wer einen triftigen Grund vorzuweisen hat.
1. Wer zur Arbeit muss.
2. Aus dringenden und unaufschiebbaren Gründen, um zum Beispiel Lebensmittel einzukaufen.
3. Wenn es aus gesundheitlichen Gründen unvermeidbar ist.
In der Praxis sieht es so aus: Wer sich zu Fuß, mit seinem Auto oder seinem Bike fortbewegt, muss eine ausgefüllte und unterschriebene Eigenerklärung mit sich führen, die man sich online besorgen kann. Wer grundlos unterwegs ist, zum Beispiel auf einer Motorrad-Tour, dem drohen nach Paragraf 650 des italienischen Strafgesetzbuches Geldbußen von bis zu 206 Euro oder sogar bis zu drei Monate Haft. Inzwischen sind die Ordnungshüter dazu übergegangen, die Fahrzeuge bei Missachtung der Ausgangssperre zu beschlagnahmen, auch hier in Südtirol.
Die Maßnahmen sind auch dringend notwendig, denn in keinem anderen Land auf der Welt sind im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 mehr Menschen verstorben: In nur 24 Stunden waren es zuletzt 627 – ein trauriger Rekord, der die Anzahl der Todesfälle auf insgesamt 4032 ansteigen ließ (Stand 20. März).
Ein Licht am Ende des Tunnels ist derzeit noch nicht in Sicht. Angelo Borrelli, Chef des italienischen Bevölkerungsschutzes, meinte am Freitagabend: «Vielleicht erreichen wir den Höhepunkt nicht in der kommenden Woche, sondern in der darauffolgenden.» Das ist wenig beruhigend, denn vor wenigen Tagen wurde uns noch Hoffnung darauf gemacht, dass wir den «Peak» mit dem Ende dieser Woche hinter uns gebracht haben könnten.
Es ist fast schon so, als würde man einer Lottoziehung beiwohnen – nur eben ohne Gewinner, wenn Borelli jeden Tag kurz nach 18 Uhr die aktuellen Zahlen zur Corona-Krise bekannt gibt. Tag für Tag hoffen wir auf gute Nachrichten und ein ums andere Mal werden wir enttäuscht. Und ganz ehrlich, nach bald zwei Wochen, in denen wir massiv in unserer Freiheit eingeschränkt sind, leidet auch die Moral. Denn dass wir am 3. April endlich wieder unsere Freunde, Arbeitskollegen und Großeltern sehen dürfen, glaubt angesichts der inzwischen mehr als 47.000 bestätigten Coronavirus-Fällen keiner mehr. Laut Experten dürfte zudem die Dunkelziffer nicht erfasster Menschen, die den Virus in sich tragen, hoch sein.
Übrigens: Während es zum Beispiel in Tirol und Bayern trotz der Einschränkungen erlaubt ist, seinen Lebenspartner zu treffen, ist die Liebe in Italien – sonst für romantische Gondelfahrten oder Vespa-Spritztouren bekannt – kein dringender und unaufschiebbarer Grund. Wer also nicht zusammenwohnt, kann nur ernsthaft darüber nachdenken, einen Zweitwohnsitz anzumelden.
Drastische Kontrollen: Von der Handyortung bis zum Heer
Auch die Polizeifahrzeuge, die sogar in unserem beschaulichen Dorf durch die Straßen fahren und die Leute über Lautsprecherdurchsagen zur Vernunft bringen wollen, sorgen für ein mulmiges Gefühl: «Dies ist eine Zivilschutzwarnung, verlassen Sie ihr Haus nur in dringenden Fällen.»
Wer sich trotzdem nach draußen wagt, muss damit rechnen, von den italienischen Ordnungshütern kontrolliert zu werden. In sieben Tagen wurden mehr als eine Million Menschen überprüft, teilte das Innenministerium am Mittwoch mit. Dabei gab es 43.000 Anzeigen wegen Missachtens der Ausgangssperre. Allein am Donnerstag waren es dann 9407.
In der Lombardei wird sogar auf die Daten der Mobilfunknetzanbieter zurückgegriffen. Dabei werden aus Privacy-Gründen aber nicht einzelne Smartphones überwacht, sondern die Signale insgesamt mit der Situation vor der Ausgangssperre vergleichen. Aus einer ersten Auswertung ging hervor, dass die Bevölkerung ihre Bewegungen um 60 Prozent reduziert hat – laut dem lombardischen Präsidenten Attilio Fontana zu wenig. Er forderte die italienische Regierung am Freitag unter anderem dazu auf, das Heer in den Krisenherd nach Norditalien zu entsenden. 114 Soldaten, die sich bisher im Gebiet befinden, seien nichts. Denn auch die aus China herbeigeeilten Ärzte hätten festgestellt, dass noch immer zu viele Menschen unterwegs seien.
Weil die Zahl der Infizierten weiter steigt, verschärfte Rom unterdessen wie angekündigt die Maßnahmen: Seit heute sind in ganz Italien alle öffentlichen Spielplätze, Park- und Grünanlagen gesperrt und «Spiel- und Freizeitaktivitäten im Freien» untersagt, wie der italienische Gesundheitsminister Roberto Speranza erklärte. Passend: Speranza bedeutet übersetzt Hoffnung.
Ein Schlupfloch gibt es immer noch, das schon zuvor für Unsicherheit sorgte und immer wieder ausgenutzt wird: Sport ist auch weiterhin erlaubt – aber nur in unmittelbarere Nähe zum Wohnsitz und immer unter Einhaltung der vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen wie dem Mindestabstand.
Manchen Gemeinden ist das zu vage, so stellte etwa der Bürgermeister von Conegliano in der Region Venetien per Verordnung klar, dass jeder, der mehr als einen Kilometer von seinem Haus entfernt der körperlichen Betätigung nachgeht, umgehend angezeigt wird. Wer zum Einkaufen geht, täte zudem gut daran, den Kassenbon für die Kontrollen aufzuheben.
Luca Zaia, Präsident der Region Venetien, legte außerdem fest, dass man sich nicht weiter als 200 Meter vom Wohnort entfernen darf, wenn man mit seinem Hund raus geht.
Nach der Lombardei und der Emilia Romagna ist Venetien mit seinen fünf Millionen Einwohnern die am drittstärksten betroffene Region Italiens. Dort will man nun flächendeckend auf Covid-19 testen.
Selbst Profis müssen ohne Motorrad auskommen
Angesichts der nationalen Notlage trat der Sport längst in den Hintergrund, dafür macht sich auch der italienische Motorradverband FMI stark. Am heutigen Samstag wurde die Aussetzung aller Aktivitäten und Veranstaltungen um weitere drei Wochen bis zum 27. April verlängert.
Weiterhin gilt, dass Rennfahrer, die an Serien auf nationalem und internationalem Niveau antreten, an Trainings-Sessions teilnehmen dürften – allerdings nur unter Beisein von medizinischem Personal und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. In der Praxis ist das aussichtlos, denn kein Arzt kann sich angesichts der nationalen Notlage die Zeit an der Strecke vertreiben. Deshalb sperren alle Pistenbetreiber, die unter dem FMI-Schirm arbeiten, zu.
Einzige Möglichkeit für die Profis sind private Strecken, aber auch Valentino Rossi kündigte bereits an, dass auf seiner Ranch keine kollektiven Trainingseinheiten stattfinden werden und bis auf weiteres maximal zwei Fahrer gleichzeitig fahren sollen.
Generell sollten Risikosportarten wegen der Coronavirus-Notlage tunlichst vermieden werden. Denn wer sich verletzt, würde die ohnehin schon überforderten Ärzte und Krankenpfleger zusätzlich belasten. Rettungswagen sind vielerorts im Dauereinsatz und somit Wartezeiten unvermeidbar – kürzlich passiert in der Provinz Parma, wo ein zum Glück nur leicht verletzter Radfahrer darum gebeten wurde, wenn möglich doch bitte mit dem Privatauto ins Krankenhaus zu fahren. Aber wer will das in der aktuellen Situation schon?
Deshalb gilt: Wer nicht aus dem Haus muss, sollte es auch nicht tun – unabhängig davon, welche Einschränkungen gerade gelten und welche Schlupflöcher noch offen sind. Nur wenn jetzt alle ihre sozialen Kontakte drastisch einschränken, kann die Verbreitung von Covid-19 eingedämmt und das, was bei uns in Italien bereits trauriger Alltag ist, verhindert werden.
«Andrà tutto bene», redet man sich hier ein. Alles wird gut. Aber nur, wenn wir jetzt auch wirklich verantwortungsvoll handeln.