Ducati: Genialer Ausweg beim Winglets-Dilemma?
Die spannendste Frage beim MotoGP-Test in Sepang: Wie kompensieren die MotoGP-Hersteller Honda, Yamaha, Ducati, Suzuki und Aprilia (KTM fuhr immer ohne Flügel) die aerodynamischen Nachteile, die durch das Verbot der Winglets entstehen?
Die mutmaßlich richtige Antwort: Ducati-Schlaumeier Gigi Dall’Igna hat offenbar wieder einmal die einfallsreichste und innovativste Lösung ausgebrütet.
Im November war zu diesem Thema bei den Tests nicht viel zu sehen; die Teams fuhren zum Teil noch mit Winglets, bei den meisten MotoGP-Verkleidungen wurden sie einfach demontiert.
Es ist eine alte Weisheit, dass besonders beim ersten Saisontest jeweils ein reges Treiben in der Boxengasse herrscht. Man sieht hier auch Ingenieure anderer Teams vor gegnerischen Boxen stehen, jeder hat eine kompakte Digitalkamera mit Zoom und Blitz in der Hosentasche, die bei günstiger Gelegenheit rasch gezückt wird, um technische Neuerungen an den Konkurrenz-Bikes zu fotografieren und zu studieren.
In Sepang stehen die Boxentore meist sperrangelweit offen, die Mechaniker brauchen frische Luft, sonst würden sie bei 34 Grad verschmachten.
Dadurch haben die hellhörigen Industrie-Spione leichtes Spiel; bei etwas Glück sind in manchen Boxen sogar Bikes ohne Verkleidung zu sehen, wenn auch am ehesten bei den Privatteams, die letztjährige Maschinen einsetzen.
Und welche Erkenntnisse haben die Spione am ersten Testtag in Sepang gewonnen?
Wir trafen auf einen weitblickenden Aerodynamik-Experten, der offenbar dem neuesten Geniestreich von Ducati-Konstrukteur Gigi Dall’Igna auf die Spur gekommen ist. Unser Whistleblower fotografierte eine 2017-Werks-Ducati in der Boxengasse und sah sich die Bilder mit den Augen eines pfiffigen Ingenieurs aufmerksam an.
«Schau’ her. Bei den neuen 2017-Ducati siehst du unter dem Ducati-Schriftzug eine Ausbuchtung, dort unten verbreitert sich die Verkleidung, das ist ungewöhnlich», wundert sich besagter Techniker eines gegnerischen MotoGP-Teams, der sich als Aerodynamiker einen Namen gemacht und beim Ferrari-Formel 1-Team jahrelang die Geheimnisse der Luftströme von Rennfahrzeugen erforscht hat. «Ich vermute stark, dass Ducati die Winglets dort an der Innenseite der Verkleidung angebracht hat. Sie können dort einen Luftstrom erzeugen und eine ähnliche Wirkung wie bei den außen angebrachten Flügeln entfalten. Man kennt ein ähnliches System aus der Rallye-WM. Die Autos hatten solche Spoiler in U-Form einst hinter den Dächern montiert, um Downforce zu erzeugen. Ich schätze, an der Desmosedici werden diese U-Profile in umgedrehter Form an der Innenseite der Verkleidung angebracht.»
Dort müssten die Winglets von der Fläche her kleiner sein, weil sonst der Wasserkühler im Weg steht, auch die Anzahl wird geringer sein als 2016.
Ob diese sinnvoll erscheinenden Vermutungen zu 100 Prozent stimmen, wissen wohl nur die Ducati-Teammitglieder. Niemand kann bei Ducati Corse einfach hinter die Verkleidung blicken...
Theoretisch könnte Ducati vorläufig sogar nur die Verkleidungen testen und die Winglets erst im ersten freien Training beim Katar-GP am 23. März montieren.
Dann würde man sie aller Voraussicht nach nicht so rasch verbieten können.
Tatsächlich: Bei den 2017-Desmosedici Werksmaschinen ist unter dem «U» des Ducati-Schriftzugs ein neuer Lufteinlass zu erspähen, der 2016 noch nicht vorhanden war. Über ihn könnten die innen montierten und hinter der Ausbuchtung befindlichen Winglets angeströmt werden, vermutet unser vertrauenswürdiger Experte.
Die Winglets-Vorschrift ist im gelben Regelbuch sehr kurz gehalten. «Objekte, Hilfsmittel, Formen oder Profile, die aus der Verkleidung oder aus der Karosserie oder aus dem Fahrzeug (wörtlich: bodywork) herausragen und nicht Bestandteil der Stromlinienform (des «body streamlings») sind (zum Beispiel: Flügel, Finnen, Ausbuchtungen etc.) und die einen aerodynamischen Effekt erzeugen können, sind nicht erlaubt», ist da zu lesen.
Es ist zu erwarten, dass jetzt in der Hersteller-Vereinigung MSMA
wieder heftige Diskussionen beginnen: Was versteht man unter einer Ausbuchtung? Bei welchem Umfang beginnt sie?
Fakt ist: Laut Reglement hat Technical Director Danny Aldrigde das letzte Wort. Er kann umstrittene aerodynamische Hilfsmittel jederzeit verbieten – auch in der Moto3 und Moto2.
Aber ein Verbot des mutmasslichen aktuellen Ducati-Systems wäre lächerlich. Denn die außen angebrachten Winglets wurden einzig und allein aus Sicherheitsgründen verboten. Manche Werke und Teams taten nämlich die Befürchtung kund, man könne damit andere Fahrer bei Bodychecks oder Stürzen verletzen. «Unsinn. In Valencia hat Iannone einen Konkurrenten berührt, der Flügel ist sofort abgebrochen», betont Gigi Dall’Igna.
Dass keine Verletzungsgefahr mehr bestehen kann, wenn die Flügel innen liegen, leuchtet wohl jedem halbwegs aufgeweckten Techniker und Funktionär ein.
In der Rallye-WM gab es wegen der Flügel und Spoiler auch Diskussionen. So richtig auf der Karosserie oder auf dem Dach
hatten die Rallyeautos ihre Flügel noch nie. Aber es gab häufig am
hinteren Abschluss des Dachs Spoiler in unterschiedlichen Größen – zum Beispiel beim Peugeot 205 Turbo 16 E2 oder beim Lancia Delta S4.
Seit der Einführung der World Rallye Cars (WRC) galt die Regel: Spoiler dürfen von vorne gesehen nicht über die Fahrzeug-Silhouette herausragen. Dadurch wurden die Flügel relativ klein gestaltet. Das Reglement wurde mit der 2017er WRC-Generation aufgeweicht. Die Flügel dürfen nun 5 cm übers Dach hinausreichen.
Winglets: Gefährlich sind sie jetzt nicht mehr
Gigi Dall’Igna hat die anderen MotoGP-Teams schon vor zwei Jahren mit den Winglets überrumpelt und sich dadurch einen aerodynamischen Vorsprung erwirtschaftet. Doch Honda war gegen diese aerodynamischen Hilfsmittel, die mehr Downforce erzeugen und somit Wheelies unterdrücken sollten.
Auf manchen Pisten brachten die Winglets 0,2 bis 0,3 sec.
Dani Pedrosa verzichtete 2016 das ganze Jahr hindurch auf das Flügelwerk – und gewann trotzdem in Misano. Valentino Rossi bezeichnete sie vor einem Jahr als hässlich, fügte sich aber nachher in sein Schicksal.
Gigi Dall’Igna, der alte Fuchs, dürfte seine Mitbewerber ein weiteres Mal übertrumpft haben. Für das Aprilia-RSV4-Superbike ließ er einst den einzigartigen Kaskadenantrieb auferstehen, der statt der üblichen Kette die Nockenwelle mit Zahnrädern antreibt.
Für 2014 und 2015 ließ er alle Ducati-MotoGP-Bikes für die neue «Open Class» homologieren, während Honda und Yamaha mit dem Factory-Bike-Status fahren mussten. Das hieß: Ducati bekam weichere Hinterreifen, eine unbeschränkte Anzahl von Testtagen, zwölf statt fünf Motoren pro Fahrer und Saison, 4 Liter mehr Sprit im Rennen, die Weiterentwicklung der Motoren war ab dem Saisonstart nicht eingefroren.
So kämpfte sich Ducati nicht zuletzt dank zahlreicher Privilegien wieder zurück an die Weltspitze. Für 2016 gingen dann wegen einer gewissen Anzahl von erreichten Podestplätzen alle Vorteile wieder flöten.
Jetzt dürfte Gigi Dall’Igna der Konkurrenz mit den nach innen verlegten Winglets abermals ein Schnippchen geschlagen haben.
«Im Reglement ist nach meiner Interpretation nur von der Verkleidungsaußenseite die Rede. Dort dürfen jetzt keine Flügel mehr angebracht werden», erklärte ein MotoGP-Ingenieur. «Von der Innenseite ist im Regelwerk nichts zu lesen...»
Der nächste MotoGP-Test findet von 15 . bis 17. Februar in Phillip Island/Australien statt. Bis dahin kann kein Werk neue Verkleidungen designen, neue Innenflügel entwickeln und sie dann noch zeitnah produzieren und im Windkanal testen. Falls Ducati tatsächlich mit Inside-Winglets fährt, könnten die Mitbewerber frühestens beim Losail-Circuit-Test (10. bis 12. März in Doha) mit Nachahmer-Produkten vorstellig werden.