Über Nicholas Latifi
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Nicholas Latifi wird 2020 frischen Schwung in die Formel 1 bringen: Der in Montreal geborene und in Toronto aufgewachsene Sohn eines erfolgreichen, kanadisch-iranischen Unternehmers ist ein Strahlemann in der Art von Daniel Ricciardo.Latifi musste lange auf seine Formel-1-Chance warten, denn der Weg in die höchste Rennsportkategorie war steinig. Latifi war ein Spätzünder, erste Rennen fuhr er erst mit 13 Jahren, da haben andere Talente schon Jahre auf den Kartbahnen hinter sich. Ab 2012 sass er im Rennwagen (Skip Barber Winterseries, dann Rennen in der italienischen Formel 3). Rang 5 in der englischen Formel-3-Meisterschaft 2013 und Platz 10 in der Formel-3-EM 2014 deuteten nicht auf einen kommenden Villeneuve hin. Ab 2014 sass Latifi bereits in einem GP2-Renner (heute Formel 2).
In der GP2 und in der Formel 2 ging es auf und ab: 27. 2015 (aber nur die Hälfte der Rennen bestritten), 16. 2016 (erster Podestplatz), 5. 2017 (erster Sieg), dann Rückfall 2018 mit Schlussrang 9, 2019 jedoch dann die stärkste Saison – acht Podestränge, davon vier Siege mit DAMS, zweiter Schlussrang hinter Nyck de Vries.
In Sachen Formel 1 dockte Latifi als Testfahrer 2016 bei Renault an, am 5. Mai 2016 sass er erstmals im GP-Renner. 2017 testete er mit den Franzosen in Barcelona und auf dem Hungaroring. 2018 wechselte er als Testfahrer zu Force India (heute Racing Point, ab 2021 Aston Martin), in Kanada gab er sein Debüt am GP-Wochenende, mit einem Einsatz im ersten Freitagtraining.
2019 sammelte Latifi als Freitagtestfahrer bei Williams an sechs GP-Wochenenden Erfahrung.
Um die Zukunft der Formel 1 müssen wir in Sachen Fahrtalente keine Sorgen machen: Die GP-Sieger Charles Leclerc und Max Verstappen sind kommende Weltmeister, Lando Norris, Alex Albon oder George Russell haben das Zeug zum GP-Sieger. Für 2020 ist ein weiteres Formel-2-Talent in die Königsklasse aufgestiegen – Nicholas Latifi.
«Es hat sich nicht nur im vergangenen Jahr gezeigt, dass die Formel 2 ein guter Prüfstein für die jungen Fahrer ist», findet der Kanadier, der bei Williams den Platz von Robert Kubica übernommen hat und sich an der Seite von George Russell beweisen muss.
«Das war nicht nur im vergangenen Jahr so. Wenn man weiter zurückgeht und auf Charles Leclerc und Pierre Gasly blickt, dann sieht man, dass es immer Fahrer gab, die in die Formel 1 aufgestiegen sind und sich gleich von Anfang an beweisen konnten. Und natürlich steigert das mein Vertrauen, ich hoffe, dass mir das auch gelingen wird», erklärt Latifi, der speziell mit Blick auf den McLaren-Star Lando Norris und AlphaTauri-Rückkehrer Pierre Gasly zuversichtlich bleibt. «Sie haben die Meisterschaft im vergangenen Jahr auch nicht gewinnen können, trotzdem haben sie sich extrem gut geschlagen, deshalb mache ich mir auch keine Sorgen, auch wenn ich den Titel leider nicht holen konnte.»
Ein Grossteil des Feldes bestehe mittlerweile aus jungen Talenten, gegen die er bereits auf der Rennstrecke gekämpft hat, betont der Rennfahrer aus Montreal. «So gesehen ist nicht alles unbekannt für mich, es ist also kein Sprung ins kalte Wasser», ist sich der Formel-2-Zweite von 2019 sicher.
Für seine Debütsaison hat sich Latifi deshalb auch viel vorgenommen. Er schwärmt: «Ich schätze, es wird sicherlich cool sein, gegen die etablierten Jungs im Rennen zu kämpfen. Bei meinen Einsätzen im ersten Training habe ich die Strecke bereits mit ihnen geteilt, das ist also nichts gänzlich Neues für mich. Aber es wird sicher super, erstmals richtig gegen sie antreten zu können.»
«Aber es wird auch eine Herausforderung», weiss der Formel-1-Neuling. «Wir wissen noch nicht, wo ich zu Saisonbeginn im Vergleich zu George noch stehen werde. Das kann man als Team noch nicht wissen, aber ich werde mein Bestes geben, um mein Potenzial vollständig auszuschöpfen und meine beste Performance zu zeigen», verspricht er.
Es folgten drei schwierige Jahre mit Williams für Latifi, und dies vorrangig aus zwei Gründen. Erstens baute der englische Traditionsstall keine guten Autos und wurde 2020 und 2022 WM-Letzter. Zweitens hatte Latifi 2020 und 2021 den Mercedes-Nachwuchsfahrer George Russell an seiner Seite, von dem alle wussten – das ist ein kommender GP-Sieger mit Titelpotenzial.
2022 fuhr Latifi an der Seite des erfahrenen Alex Albon und zog erneut den Kürzeren. Damit war das Ende der GP-Karriere des Kanadiers besiegelt, Williams engagierte für 2023 den US-Amerikaner Logan Sargeant.
Es ist vielleicht bezeichnend, dass Latifi am meisten Schlagzeilen mit einer Aktion erzeugte, welche mit einem Unfall zu tun hatte.
Die dramatische, alles entscheidende letzte Runde des WM-Finales 2021 zwischen Max Verstappen und Lewis Hamilton wurde nur wegen Nicholas Latifi überhaupt möglich. Fünf Runden vor Schluss des Grossen Preises von Abu Dhabi setzte der Kanadier seinen Williams in die Pistenbegrenzung, Formel-1-Rennleiter Michael Masi blieb nichts Anderes übrig als eine Safety-Car-Phase zu verhängen.
Der Rest ist bekannt: Masi liess einige Nachzügler an Leader Lewis Hamilton und am Safety-Car vorbei, dadurch kam Verstappen (der von Red Bull Racing inzwischen weiche Reifen erhalten hatte) direkt hinter Hamilton zu liegen, Masi gab kurz vor Rennschluss das Rennen frei, und diese Chance liess sich Max nicht nehmen – er überholte Hamilton, gewann und wurde so Weltmeister. Viele Fans sind bis heute über die Art und Weise verärgert, wie die WM zu Ende ging.
Und Auslöser Nicholas Latifi? Er liess sich einige Tage Zeit, dann wandte er sich in einem offenen Brief an die Fans. Dabei stellte er fest: «Es ist schockierend, dass man soziale Medien als Kanal missbraucht, um jemandem beleidigende Nachrichten zukommen zu lassen, und ich verurteile das. Der Hass, die Beschimpfungen und Drohungen in den sozialen Medien haben mich nicht überrascht, denn das ist alles Teil der Welt, in der wir heute leben. Was mich hingegen erschütterte, das war der extreme Ton dieser Hass-Nachrichten, der Beschimpfungen und sogar der Morddrohungen, die ich erhielt.»
«Vielleicht werden mich einige Leute belächeln, aber ich habe diese Drohungen sehr ernst genommen. Es reicht ein angetrunkener Fan am Flughafen oder du stösst aus Versehen jemanden in der Menge an – heute braucht es so wenig, bis jemand die Nerven verliert.»
«Als ich in den Tagen nach Abu Dhabi nach London zurückkehrte, engagierte ich Personenschutz. Ich besuchte mit meiner Freundin das Winder Wonderland, da hatten wir Bodyguards dabei. Das klingt vielleicht übertrieben, ich weiss, aber mir war das wichtig.»
«Die Leute werden immer ihre Meinung haben, und es gehört dazu, eine dicke Haut zu haben, wenn du ein Athlet bist. Doch viele der Nachrichten, die ich letzte Woche erhalten haben, waren aber weit über der Grenze des Erträglichen.»
Latifi erklärte, dass sich Lewis Hamilton bei ihm gemeldet hatte: «Ein paar Tage nach Abu Dhabi hat er mir eine Nachricht geschickt. Was meine Botschaft damals an die Fans angeht, so ist er ganz auf meiner Linie. Auch Leute von Mercedes haben sich gemeldet, dazu weitere Fahrer und Team-Mitglieder anderer Rennställe. Meine Worte haben sie berührt, denn das war ja nicht das erste Mal, dass soziale Netzwerke für solche Bedrohungen missbraucht worden sind. Diese Netzwerke bringen viel Gutes, sie erlauben es den Menschen, sich mehr einzubringen. Aber es gibt eben auch die Kehrseite.»
Immer wieder in diesen drei Jahren Formel 1 beklagten sich Fahrerkollegen von Latifi über das Pistenverhalten des Kanadiers. Ein Beispiel. In der siebten Runde des Singapur-GP 2022 krachte es: Williams-Fahrer Nicholas Latifi drängte den Alfa Romeo-Piloten Guanyu Zhou in die Mauer, Aus für beide Piloten. Für die Rennkommissare war das eine glasklare Angelegenheit – Latifi trage alleine die Schuld, für den Japan-GP ergab das eine Strafe von fünf Rängen zurück in der Startaufstellung.
Der Chinese Zhou schimpfte in Singapur wie ein Rohrspatz über Latifi: «Vielleicht könnte er auch mal in den Rückspiegel schauen, wenn’s geht.»
Latifi ist 2022 zum Buhmann der Formel 1 geworden, Stars wie Verstappen oder Hamilton regten sich über ihn auf, und in Grossbritannien ist Nicholas ohnehin unten durch: Viele Hamilton-Fans sind noch heute überzeugt, dass Latifi ihren Lieblingsfahrer den Titel gekostet hat.
In Suzuka wehrt sich der kommende Ex-GP-Pilot gegen das Urteil der Rennkommissare in Singapur: «Ich verstehe die Strafe aus dem Gesichtspunkt, dass ich in jenem Moment meine normale Linie fahre und daher Zhou keine Wagenbreite Raum lasse. Was ich nicht akzeptiere, ist die Unterstellung, ich sei unregelmässig gefahren, denn meine Linie ist dort immer die gleiche. Und ich finde, es wurde auch zu wenig beachtet, dass sich Zhou in meinem toten Winkel befindet.»
«Was ich aber wirklich nicht verstehe: die Strafe von fünf Rängen zurück. Ich meine, Bottas hat mal in Ungarn nach dem Start Auto-Bowling gespielt und dafür gab es fünf Ränge. Ist mein Vergehen etwa gleich einzustufen? Zudem – die Strafe wurde ausgesprochen, bevor mit uns Piloten geredet wurde. Das finde ich nicht in Ordnung. Wir waren beide aus dem Rennen, die Kommissare hätten genügend Zeit gehabt, uns vorzuladen und mit uns zu reden, sich Bilder vom Unfall anzusehen und all das. Wieso sie das dieses Mal nicht getan haben, das weiss ich nicht.»
Zu seinem wohl letzten Formel-1-Jahr sagt der Kanadier: «Fakt ist, dass ich mit dieser Art Rennwagen zu wenig gut zurechtgekommen bin und dass wir letztlich auch kein gutes Auto hatten. Aber so geht das eben in diesem Sport. Ich habe meine drei Saisons in der Königsklasse geliebt, und den sieben Platz damals in Ungarn werde ich mein Leben lang nicht vergessen.»