Helmut Zwickl ist tot: Trauer um Journalisten-Legende
Nicht immer ist der gelernte Beruf auch die Liebe fürs Leben: Helmut Zwickl, einer der herausragenden Formel-1-Journalisten seiner Epoche, war gelernter Drogist und arbeitete zunächst als Chemiker in einer Farbenfabrik.
Aber zu diesen Berufen fühlte sich Helmut nicht berufen – was ihm wirklich im Blut lag, war das Schreiben.
Mit den ersten kleinen Stories bei der Tageszeitung «Kurier» kam Zwickl Anfang der 60er Jahre genau richtig, um den Aufstieg und die folgende Euphoriewelle um Jochen Rindt mitzuerleben.
Als Rindt aus heiterem Himmel 1965 mit einem privat eingesetzten Ferrari die 24 Stunden von Le Mans gewann, war für Zwickl klar, dass er freischaffender Journalist werden will.
Es war eine Zeit, in welcher die Fahrer mit einer Handvoll Journalisten noch auf Du waren, Zwickl gewann leicht das Vertrauen der Stars wie Rindt, Stewart, Fittipaldi, Andretti & Co., die merkten – dieser Mann weiss nicht nur, wovon er spricht und schreibt, er weiss auch, was man besser nicht schreibt.
Die Sprache von Helmut Zwickl war einzigartig, seine Texte fundiert, geprägt von Fachwissen und virtuoser Wortwahl. Seine Bücher wie «Jenseits von schnell» (über Jim Clark), «Hinrichtung eines Champions» (über Jochen Rindt) oder «Weltmeister durch technischen k.o.» (über den WM-Titelgewinn von Porsche) wurden von den Fans verschlungen und sind noch heute ein Festschmaus.
Nach eigenen Angaben hat Helmut Zwickl von 560 Formel-1-Rennen vor Ort berichtet, «aber irgendwann hatte ich es leid, von Schnöseln im Teenager-Alter schwachsinnige Antworten zu erhalten», wie er mir einmal seinen Unmut klagte.
Der Ehrenpass, den ihm Formel-1-Zirkusdirektor Bernie Ecclestone überreicht hatte, blieb jahrelang unberührt bei den Akkreditierungsstellen liegen – Helmut hatte keine Lust mehr auf diese neue Königsklasse.
Zwickl vermisste die Zugänglichkeit der Stars, die er jahrzehntelang begleitet hatte. Besonders Rindt, Niki Lauda und Nigel Mansell waren ihm freundschaftlich verbunden.
Stattdessen baute Helmut Zwickl die Ennstal-Classic auf, heute eine weltweit führende Veranstaltung für klassische Autos, später die Planai-Classic, das Pendant für die Winterzeit. Fabelhafte Fahrzeuge in grandioser Natur, am Lenkrad einige der grössten Stars des Sports wie etwa Stirling Moss, für den die Ennstal zum Pflichttermin wurde.
Mein Seilgefährte, mein Vorbild
Ich habe mein Archiv durchforstet. Aber ich finde kein einziges Bild, das Helmut Zwickl und mich Seite an Seite zeigt, als Seilgefährten am Grand-Prix-Schauplatz für das Wochenblatt MOTORSPORT aktuell.
Wieso nicht? Erstens, weil sich der Berichterstatter damals nicht in den Mittelpunkt stellte; zweitens, weil wir unsere Arbeit wichtig nahmen und keine Zeit für solchen Schnickschnack hatten.
Einer der Gründe, warum ich Helmut Zwickl über die Massen zu schätzen wusste: Er konnte Zusammenhänge immer in die richtigen Proportionen rücken.
Wenn wir gemeinsam in São Paulo zur Interlagos-Rennstrecke hochgefahren sind, kamen wir an einer Brücke vorbei. Unter der Brücke lebten Menschen in Kartonschachteln. Wenn wir im Stau standen und zur Seite blickten, waren wir Auge in Auge mit Menschen, die nicht wussten, wie sie ihr nächstes Essen beschaffen sollen. Wir dagegen wurden dafür bezahlt, rund um die Welt zu fliegen, um von Formel-1-Rennen zu berichten. Von Helmut habe ich gelernt, das nie zu vergessen.
Unvergessen, wie Helmut seine Berichte in eine erstaunlich widerstandsfähige Baby-Hermes tippte. Und sein verlässlicher Kumpel Otto Burghart das Manuskript einer ahnungslosen Telex-Spezialistin brachte, um von ihr einen Lochstreifen herstellen zu lassen.
Später staunten wir gemeinsam über das Wunder Telefax. Die heutigen Kids würden sich über die Steinzeit der Telekommunikation schlapplachen. Wenn sie es uns überhaupt abkaufen würden, womit wir uns abmühten.
Es wurde zwischen Helmut und mir ein kleines Ritual, sich vor dem Start die Rechte zu drücken, kurz und fest: «Gutes Rennen!» So als würden sich Helmut und ich gleich selber in den Pulverdampf eines WM-Laufs stürzen, zusammen mit 24 anderen Rennfahrern (ja, damals hatten wir ein Feld aus 26 Autos).
Wir haben uns immer als Seilgefährten verstanden, weil wir wussten – wir können uns in jeder Situation auf den Anderen verlassen und ihm vertrauen.
Wieso ich Helmut immer bewundern werde: Für seine wunderbare Sprache, für seinen «Wiener Schmäh», für einen Humor, trocken wie ein guter Martini, für sein Fachwissen, für seine Hingabe, für die Charakter-Eigenschaft, sich selber nicht so ernst zu nehmen, für seine Bereitschaft, Erinnerungen bei langen Abendessen zu teilen, für seine Fähigkeit, den Menschen das gute Gefühl zu geben, fair behandelt zu werden.
Eine Recherche wie für das Buch «Weltmeister durch technischen k.o.» über die Langstrecken-Saison von Porsche 1969 wäre heute überhaupt nicht mehr möglich. Helmut erhielt jeden Zugang, denn die Porsche-Truppe wusste: Dieser Mann ist hart, aber immer fair, und er kann schweigen wie eine Gruft.
Als Helmut im Kreise von Familie und Freunden seinen 80. Geburtstag feierte, berichtete ich in Mexiko-Stadt aus dem Autódromo Hermanos Rodríguez. Dazu fällt mir eine Geschichte ein.
Helmut in Mexiko am Frühstückstisch. Eine aparte Dame bringt einen Teller mit Eiern und Speck und Bohnen, einer Tomate, «the full monty» eines englischen Frühstücks halt.
«Caliente, caliente!» sagt sie mit Nachdruck und überreicht mit einem zauberhaften Lächeln den Teller, und Helmut findet: «So eine nette Frau, was immer sie auch sagt.»
Kurz darauf fliegt der Teller quer über den ganzen Tisch, nach einer Nanosekunde fallengelassen aus ahnungslosen Wiener Händen, das Essen spritzt in alle Windrichtungen, und seither weiss Helmut, dass «caliente» übersetzt «heiss» heisst.
Helmut Zwickl hat in einer Phase aus der Formel 1 berichtet, in welcher die Fahrer den Fan mit auf die Reise nehmen konnten. Mein Seilgefährte würde anhand der modernen Phrasen das Gesicht eines mürrischen Wolfs aufsetzen und die Nackenhaare sträuben, vielleicht auch knurren.
Zum Glück haben er und ich eine Zeit erlebt, da konnten wir zu einem Formel-1-Fahrer hingehen, einfach so, ihm eine Frage stellen, und wir haben tatsächlich so etwas wie eine brauchbare Antwort erhalten.
Heute hetzen die meisten Piloten zwischen Box und Team-Gebäuden hin und her, um auch ja nicht von aufsässigen Berichterstattern angesprochen zu werden. Kimi Räikkönen nahm schon mal das Handy ans Ohr, auch wenn überhaupt niemand dran war. Funktionierte jedes Mal.
Helmut hat mit Fahrern wie Rindt, Lauda oder Mansell Freundschaften entwickelt, die auf Vertrauen und Verschwiegenheit basierten. Die Rennfahrer spürten: Helmut verfolgt keine versteckten Pläne, sondern ist der Wahrheit und der Liebe zum Motorsport verpflichtet. Das verband Racer und Berichterstatter.
Viele Fahrer und Teamchefs haben das Herunterbeten von Worthülsen zur Kunstform erhoben. Sie reden, aber sie sagen nichts.
Einige geben an gewissen Tagen nur noch TV-Interviews, die Zeitungs- und Internet-Journalisten gucken in die Röhre. Da hilft ein Medien-Communiqué des Rennstalls nicht die Bohne. «Heute war ein produktiver Tag», wird da einem Fahrer in den Mund gelegt, wo alle doch sehen konnten, dass er im Allgemeinen hinterherfährt und im Besonderen sein Auto in die Botanik gepfeffert hat.
Das wäre eine Steilvorlage für Helmut zu einer saftigen Kolumne!
Ich stelle mir gerne vor, was die Rennställe mitteilen und wie die Übersetzung von Helmut aussehen würde.
«Der Wagen ist noch in einem frühen Stadium der Entwicklung.»
(Wir haben ein wirklich grottenschlechtes Auto gebaut und keine Ahnung, was wir damit anstellen sollen.)
«Wir hatten eine kleine technische Angelegenheit, die uns zwischendurch am Fahren gehindert hat.»
(Feuer! Feuer! Feuer! Alle Mann in Deckung!)
«Die Probleme haben uns an der Vorbereitung nicht gehindert.»
(Besser als jetzt wird es nicht mehr.)
«Die Zeiten von Freitag sind nicht aussagekräftig.»
(Die Zeiten sind überaus aussagekräftig, und am Samstag werden wir über Quali 1 nicht hinauskommen.)
«Das Feedback unseres neuen Fahrers XYZ ist exzellent.»
(Oh Gott, der Kerl ist nicht nur langsam, er ist auch noch strunzdumm. Immerhin ist er reich.)
«Offenbar gibt es Raum für Verbesserungen.»
(Es gibt keine Chance auf Besserung.)
«Wir versuchen noch immer, die Reifen zu verstehen.»
(Wir verstehen die Reifen nicht und werden es auch nie.)
«Die Leistungsdichte im Mittelfeld ist sehr hoch.»
(Wir werden WM-Neunter.)
«Die Strecke von Melbourne ist nicht repräsentativ.»
(In Barcelona werden wir noch schlechter sein.)
«Heute war ein guter Tag.»
(Heute war ein grauenvoller Tag.)
Helmut hat das einmal so auf den Punkt gebracht: «Die menschliche Komponente der Fahrer wird immer minimaler. Die heutigen Piloten sind geklonte Kart-Kids, sie liefern keine Beiträge mehr aus dem Grenzbereich, den wir früher fasziniert protokollieren konnten. Heute erzählt niemand mehr etwas. Entweder er kann es nicht oder er will es nicht oder er darf es nicht – jedenfalls entsteht damit ein Dialog des Schwachsinns.»
Helmuts Liebe zur Formel 1 hat sich merklich abgekühlt, als sich ein ungebetener Gast ins Fahrerlager schlich, verstohlen wie ein Dieb: die politische Korrektheit.
Es passte nicht zum Weltbild von Helmut, dass Fahrer nicht mehr frei von der Leber weg reden dürfen oder von Mediendelegierten bevormundet werden. PR-Gewäsch wurde von ihm schonungslos entlarvt und zersetzt, mit Worten so ätzend wie Salzsäure. Irgendwann war es ihm leid, von Teenagern stromlinienförmige Antworten zu erhalten, und er hat der Formel 1 den Rücken gedreht.
Worum ich Helmut nie beneidet habe: Es wurde damals viel gestorben. Der Tod war ständiger Begleiter. Mir ist schleierhaft, wie Helmut damit umgehen konnte.
Zwickl und ich haben Schulter an Schulter das schwarze Wochenende von Imola 1994 erlebt, als wir Roland Ratzenberger und Ayrton Senna verloren haben. Helmuts Ruhe und Professionalität waren wie der Fels von Gibraltar in tosender See, ich bewundere bis heute, wie sachlich er mit dieser Tragödie umgegangen ist. Zuerst kam der Job, für Trauer war später noch Zeit.
Auch in unruhigen Momenten die Lage richtig einschätzen zu können, das zeigte sich auch in Japan: Helmut und ich sitzen in Suzuka. Der alte Presseraum war angeordnet wie der Hörsaal einer Uni, steil aufsteigend, mit Zweierbänken.
Ich tippe in meinen Tandy 200, ungefähr der Ururur-Grossvater eines modernen Laptops. Auf einmal beginnt der Tisch sich zu bewegen. Ich denke: «Muss Helmut so blöd mit dem Bein herumhampeln? Ich treffe ja fast keine Taste mehr.»
Also drehe ich mich zu Zwickl, um das Einstellen des lästigen Wippens anzuregen. Dann wird mir schlagartig klar, was hier los ist: «Erdbeben? Ist das ein Erdbeben?»
Unruhe entsteht im Saal. «Helmut, sollen wir nicht losrennen?»
Typisch Helmut, dass er auch hier sofort die Situation erfasste und Ruhe bewahrte: «So lange die Menschen auf der Haupttribüne nicht losrennen, rennen auch wir nicht los.»
Helmut, du wirst mir fehlen.