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Pit Beirer: Über die Sieger, die Spannung und Walkner

Von Günther Wiesinger
KTM-Motorsport-Direktor Pit Beirer erzählt, warum er heute bis zum Zielstrich um den Dakar-Sieg gezittert hat, wieso es keine Teamorder gab und was er mit Matthias Walkner plant.

Der 14. und letzte Renntag bei der Rallye-Dakar 2023 bescherte dem Red Bull-KTM-Werksteam mit Kevin Benavides und Toby Price einen Doppelsieg, und die rot-weiß-rote Pierer Mobility AG räumte mit Husqvarna-Werksfahrer Skyler Howes auch noch den dritten Podestplatz ab.

Pit Beirer, Motorsport-Direktor der Pierer Mobility AG, erlebte das Finale der Marathon-Rallye in Saudi-Arabien live mit und schilderte nach der Zielankunft im Interview mit SPEEDWEEK.com seine Eindrücke.

Pit, die Dakar verlief bis zum letzten Tag so spannend wie selten zuvor. Zwei Tage vor Schluss galt noch Skyler Howes als Favorit, gestern führte Toby Price, doch am Ende siegte Kevin Benavides. Wann hast du erstmals an den Sieg geglaubt?

Ja, die Dakar ist einfach ein unheimlich harter Wettkampf, ein erbarmungsloses Rennen.

Natürlich haben wir zuerst einmal bei uns in der Gruppe geschaut, ob wir mehr als einen Titelkandidaten in der Pierer-Mobility-Familie haben.

Es war schon einmal beruhigend, als wir am Ruhetag noch drei ganz heisse Eisen im Feuer hatten. So eine erfreuliche Konstellation hatten wir eigentlich am Ruhetag schon länger nicht mehr.

Wir haben den Vorsprung auf die Gegner kontinuierlich in kleinen Schritten aufgebaut. Aber dann gab es einen Tag, als wir nach dem Regen die Piste eröffnet und mit einem Schlag zehn Minuten Vorsprung eingebüsst haben.

Dann waren es nur noch vier Minuten. Vorher waren es schon mal 15. Da haben wir gesehen, wie schnell 10 oder 15 Minuten weg sein können.

Deshalb war dieser Vorsprung bis zum gestrigen Samstag eigentlich nicht beruhigend. Denn die Dakar 2023 war so unberechenbar, auch durch die vielen Regentage.

Wir waren heute wirklich erlöst, als die Fahrer über den Zielstrich gefahren sind. Und keine Sekunde vorher.

Am Freitag galt noch Skyler Howes als heimlicher Favorit.

Ja, am Samstag hat natürlich der Unfall von Matthias Walkner das ganze Rennen durcheinander gebeutelt.

Zum einen ist der Toby nachher allein auf weiter Flur unterwegs gewesen. Kevin hat dem Matthias beigestanden und musste nach dem Unfall versuchen, seine Konzentration wieder zu finden. Er hat in diesem Moment sein Meisterstück geliefert und es geschafft, sich so zu fokussieren, dass er auf alle Gegner Zeit gutgemacht hat, obwohl er allein unterwegs war, nachdem er vorher durch den Aufenthalt bei Matthias ca. 20 Minuten verloren hat. Er musste seinen Speed ganz allein finden und ist ein unglaubliches Rennen gefahren.

Die Fahrer, das sind ja bei uns alles Freunde, die hocken viele Tage im Jahr jeden Abend beieinander. Skyler hat Matthias liegen gesehen und ist dann selber zweimal gestürzt, weil er unkonzentriert war. Er hat deshalb an dem Tag, an dem er eigentlich voll attackieren hätte müssen, ein bisschen Zeit verloren.

Das sind dann diese Augenblicke, die dieses wahnsinnige Rennen entscheiden.

Das Finale war heute unbeschreiblich. Wir haben selber diesen Druck noch nie erlebt, dass zwei Fahrer mit zwölf Sekunden Abstand auf den ersten zwei Plätzen in den letzten Tag starten.

Denn bei der Tour de France existiert für den Finaltag das Gentlemen’s Agreement, dass man die letzte Etappe geniesst, keine Attacken mehr reitet und die Abstände gleich bleiben.

Existiert dieses ungeschriebene Gesetz bei der Dakar auch? Gibt es da auch einen Nichtangriffspakt?

Naja, den gibt es eigentlich schon, weil die Abstände normal so groß sind und bei sechs, sieben oder acht Minuten liegen, so dass man sagen kann: «Heute passiert auf den letzten 100 km nicht viel. Lasst uns alle überleben und gesund ins Ziel fahren.» Nur bei zwölf Sekunden Differenz kamen heute zumindest noch zwei unserer Fahrer für den Sieg in Betracht.

Toby Price und Kevin Benavides haben uns gestern am Abend fragend angeschaut. Ihre Mienen sagten aus: «Gibt es eh keine Teamorder? Dürfen wir volle Kanne fahren? Oder was tun wir?»

Das war dann ein emotionaler Racing-Moment…

Heute waren noch 140 km zu fahren, das hört sich nicht so viel an. Aber bei zwölf Sekunden kann auf 140 km alles passieren.

Es war dann eine sehr schwere letzte Etappe, sie war nass und rutschig. Die Navigation war teilweise wieder schwierig. Die Jungs sind heute noch einmal «all in» gegangen.

Wenn du gestern zu Kevin Benavides gesagt hättest: Die Reihenfolge bleibt am Sonntag bestehen, Price soll gewinnen, wäre dir der Argentinier wohl an die Gurgel gesprungen?

Ja, es schlagen dann wirklich zwei Herzen in deiner Brust.

Einerseits sollte die Vernunft siegen und du müsstest die Devise ausgeben: «Jungs, am letzten Tag wird nicht mehr angegriffen.»

Aber dann hast du einen Dakar-Sieger und dazu einen Fahrer, der dich hasst bis an Ende deiner Tage.

Außerdem waren beide Fahrer gestern topfit, keiner war verletzt oder angeschlagen. Wir haben dann mit den Fahrern Einzelgespräche geführt und gesagt: «Bitte Jungs, haltet das Ganze unter Kontrolle, kommt gesund heim! Mehr sagen wir nicht, den Rest macht ihr auf der Strecke untereinander aus.»

Es gab also freie Fahrt. Mit dem Risiko, dass am Finaltag Price und Benavides durch Stürze ausscheiden.

Selbst Skyler Howes hätte als Dritter stürzen und ausscheiden können. Deshalb gilt der Dakar-Sieg erst, wenn er auf dem Papier steht.

Skyler war dann heute vernünftig. Er sagte, wenn er noch schneller fahren will als Toby und Kevin, befindet er sich in Lebensgefahr. Er hat gestern schon angefangen, das Podium ein bisschen zu geniessen.

Die anderen zwei Jungs haben einen brutalen Speed vorgelegt.
Daniel Sanders hat uns vor dem Start erzählt, er wolle heute um den Etappensieg fahren. Aber bei der zweiten Zwischenzeit war Kevin schon 40 Sekunden schneller als Daniel. Da haben wir schon gewusst, was da draußen los ist, das war Racing vom Allerfeinsten.

Wir sind heute im Ziel gestanden und hatten kaum Informationen über den Rennverlauf. Sie fahren los, dann zitterst du und fragst dich, ob deine Fahrer heute alle ins Ziel kommen. Das war echt spannend.

Musst du befürchten, dass der 36-jährige Matthias Walkner nach diesem schweren Sturz aufhört?

Ja, der Matthias ist natürlich gestern in die Hölle und zurück. Denn wenn du einmal das Gefühl in den Beinen verlierst, was bei ihm am Samstag passiert ist, fängst du natürlich an zum Nachdenken. Er ist stundenlang auf dieser Bahre festgezurrt gewesen, bis er vom Süden des Landes heroben gewesen ist in Dammam im Krankenhaus. Das waren schon elendige Stunden.

Kein Mensch will von Mathias heute irgendwas darüber wissen, wie seine Karriere weitergeht.

Wir sind vor ein paar Stunden gemeinsam in der Hotel-Lobby gestanden. Er steht auf eigenen Beinen, er besuchte das Team.

Matthias soll jetzt mal in Ruhe heimfliegen und schauen, dass die Schmerzen weggehen und nachher einen Plan für die Zukunft machen.

Wir haben keinen Stress. Wir brauchen jetzt von keinem Fahrer irgendwelche Zukunftsaussichten.

In Matthias brennt schon noch ein Feuer.

Und ich kann von meiner Warte aus nur betonen: Ich würde das Red Bull-KTM-Team für die Dakar 2024 gern unverändert lassen.

Ergebnis Dakar Rallye 2023, Etappe 14

1. Kevin Benavides (RA), KTM, 1 h 15:17
2. Daniel Sanders (AUS), GASGAS, 1 h 15:52, +0:35 sec
3. Toby Price (AUS), KTM, 1 h 16:12, +0:55 sec
4. Pablo Quintanilla (CHI), Honda, 1 h 18:32, +3:15 min
5. Skyler Howes (USA), Husqvarna, 1 h 19:02, +3:45 min

Endergebnis 2023 Dakar Rallye (nach 14 Etappen)

1. Kevin Benavides (RA), KTM, 44:27:20 h
2. Toby Price (AUS), KTM, 44 h 28:03, +0:43 sec
3. Skyler Howes (USA), Husqvarna, 44 h 32:24, +5:04 min
4. Pablo Quintanilla (CHI), Honda, 44 h 46:22, +19:02 min
5. Adrien Van Beveren (F), Honda, 44 h 47:50, +20:30 min

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