Von Kloten nach Noida
Ein ganz normaler Tag in Delhi
Wie reist man als Formel-1-Globetrotter standesgemäss zum ersten Grossen Preis nach Indien?
Natürlich mit «Kingfisher», der Fluggesellschaft von Force-India-Chef Vijay Mallya!
Die Reise von London-Heathrow nach Delhi verläuft einigermassen störungsfrei. Das Essen schmeckt, die Sitze sind bequem, die Stewardessen bildschön und hilfsbereit – also ungefähr das Gegenteil dessen, was wir in Maschinen angeblich renommmierter Airlines erleben. Und wenn Kinder schreien oder einige Passagiere ihr jährliches Bad noch nicht absolviert haben, dann gehört das heutzutage zu Flugreisen wie Force zu India.
Die Einreise erfolgt überraschend unspektakulär: SPEEDWEEK hat ja wiederholt darüber berichtet, wie kompliziert das Visa-Prozedere für manche gewesen ist, die Formalitäten vor Ort jedoch werden in 20 Sekunden erledigt.
Wir wechseln Geld und erhalten ungefähr ein Kilogramm bunter Scheine.
Unser Hotel holt uns netterweise vom Flughafen ab: Der Fahrer spricht nur unwesentlich besser Englisch als ich Indisch, aber wir kommen irgendwie schon klar.
Im Toyota-Minivan werde ich den anderen beiden Mitreisenden vorgestellt. Den einen bringe ich auf der Stelle um, der andere entkommt mir leider – ich kann Mücken nicht ausstehen. Schon gar nicht aus einem Land, in dem sie Dengue-Fieber oder Malaria übertragen.
Vor einer Reise in unbekannte Welten empfiehlt es sich, den Reiseführer seines Vertrauens zu konsultieren. Bei mir ist das, unter anderen, «Lonely Planet». Dort stand: «Sollten Sie mit dem Gedanken spielen, in Indien selber Auto zu fahren – TUN SIE ES NICHT!»
Der Rat ist weise: Der Verkehr hier ist ein ständiger Unfall im Entstehen. Nach wenigen Sekunden ist glasklar, wieso fast alle Autos so zerdellt sind. Überhaupt würde der Zustand der meisten Fahrzeuge einem durchschnittlichen westeuropäischen Kfz-Prüfer die Tränen in die Augen treiben, und es wären keine Tränen der Rührung.
Der normale indische Fahrer hupt mit der einen Hand, mit der anderen schaltet er, mit der dritten hängt er am Handy oder gestikuliert, da bleibt nicht mehr viel Kapazität zum Lenken. Entsprechend werden aus vier Fahrspuren sechs, alles wird gnadenlos zusammengehupt, auch wenn nicht überraschend die Spur gewechselt wird. Blinker? Also, ich bitte Sie!
Der Fahrer freut sich: «Sie haben Glück, heute ist ein Feiertag. Wir sollten also nur ungefähr eine Stunde bis zum Hotel haben. Gestern hatte ich vier …»
Wir sprechen von einer Fahrstrecke von 31 Kilometer.
Auf einen Schweizer, dem ja ein Hang zur Ordnungsliebe nachgesagt wird, wirkt der Verkehr leicht verstörend: Frauen sitzen im Damensitz, also quer, auf Motorrädern. Ihr Kopfschutz besteht aus einem Kopftuch. Grün-gelbe Tuk-Tuks, nur noch von ihrer Farbe zusammengehalten, tuktukken durch das Gewusel. Fahrräder kommen uns entgegen der Fahrtrichtung entgegen, der eine oder andere Lastwagen auch, sie haben in der Regel ihre Ausfahrt verpasst und suchen nun offenbar den kürzesten Weg zur Neugeburt.
Knatternde Mopeds, Roller mit vier Passagieren (ein Mann, eine Frau, zwei Kinder, keine Rinder), Räder mit uralten Menschen, gefährlich schwankend, Fussgänger mit Lasten auf dem Kopf, Busse mit Mitfahrern auf dem Dach, Lastwagen mit jeder erdenklichen Ladung, Edel-Limousinen (wie sehen die in vier Wochen aus?), rauchende Tuk-Tuks, der eine oder andere Hund – bei diesem ganzen Tohuwabohu erstaunt dann doch, wie gelassen die Verkehrsteilnehmer bleiben, die unablässige Huperei mal ausgeklammert. Aber da ist kein böses Wort zu hören und kein Vogel zu sehen. Der Mensch schickt sich ins Chaos.
Wir stehen an einer Ampel: Eine junge Frau klopft ans Fenster, im Arm ein Zweijähriger. Er hat keine Hände. Die Frau macht eine Bewegung, die bedeutet – wir brauchen was zu essen. Ich muss an dieser Stelle zugeben: Ich bin hin und her gerissen im Umgang mit Bettlern und gewiss nicht der Geschickteste. Weil mich einerseits die Menschen und ihr Schicksal traurig machen, weil ich aber andererseits weiss, wie viele Bettler nur ein Zahnrädchen im organisierten Verbrechen sind.
«Einfach ignorieren!» rät mein Fahrer. «Es ist nicht ganz einfach, aber Sie werden sich daran gewöhnen.»
Vom reinen Äusseren komme ich als Inder ja nicht ganz durch: Helle Haut, Sommersprossen, Kupferschopf, da glaubt einem kein Mensch, dass man eigentlich aus Madras stammt (sofern ich das akzentfrei behaupten könnte).
Die Folge ist logisch, und auch in diesem Punkt hat «Lonely Planet» völlig Recht: Auf Schritt und Tritt wird man angesprochen. Das beste Restaurant, der günstigste Taxi-Tarif, dazwischen jemand, der einem die Schuhe schmutzig macht, damit sie ein – wie aus dem Nichts auftauchender – Schuhputzer reinigen kann. Allerlei Krimskrams wird angeboten, im Laden gleich um die Ecke gibt es natürlich die tollsten Souvenirs, neugierige Hände wandern an Stellen, wo sie raschelndes Bargeld vermuten. Da ist mir jener Kerl schon fast sympathisch, der vorgibt, er wolle einfach sein Englisch trainieren und ein wenig mit mir reden. Aber sicher doch. Diese chronische Belästigung ist schwer zu ertragen und macht das Land nicht unbedingt erfreulicher.
«Einfach ignorieren!» rät mein Fahrer erneut. «Es ist nicht ganz einfach, aber Sie werden sich daran gewöhnen.»
Und dieser Schmutz!
Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine so schmutzige Stadt gesehen (und ich war jetzt auch schon in zwei oder drei). Im Radio läuft «Obscured by Clouds» von Pink Floyd, und nichts könnte passender sein, selbst wenn die Wolken nicht von Petrus stammen. Was alles an Müll auf den Strassen herumliegt, spottet jeder Beschreibung. Sind hier die Müllmänner im Dauerstreik?
«Was meinen Sie?» fragt unser Fahrer zurück, und es wird klar, dass für ihn dieses Strassenbild ganz normal ist.
Glücklicherweise kommen wir bei einer Oase an: Unser Hotel ist sauber und nett, bietet allerdings ein interessantes akustisches Phänomen – im Zimmer ist die Huperei so laut wie draussen. Zum Glück hören wir das aber nicht so, wenn einer der häufigen Regionalzüge vorbeidonnert.