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Justin Wilson: In Erinnerung an den sanften Riesen

Von Mathias Brunner
Justin Wilson und Mark Webber 2003

Justin Wilson und Mark Webber 2003

​31. Juli 2024: An diese Tag wäre der englische Rennfahrer Justin Wilson 46 Jahre alt geworden. Das Schicksal meinte es anders für den GP-Piloten – tödlicher Unfall im August 2015 im IndyCar.

Justin Wilson war in jeder Beziehung herausragend: Mit 193 Zentimetern hatte er Gardemass, aber sicher nicht die ideale Grösse für einen Rennfahrer. Der Engländer biss sich trotzdem bis in die Königsklasse durch.

Justin Wilson war das beste Beispiel, dass man sich allem zum Trotz an die Spitze arbeiten kann, selbst wenn die Voraussetzungen nicht optimal sind. Justin Boyd Wilson kam mit neun Jahren verhältnismässig spät zum Kartsport, da hatten ihm andere Gegner mehrere Jahre Erfahrung voraus. Als Teenager schoss er auf die Höhe von einem Meter dreiundneunzig, wahrlich nicht die beste Voraussetzung, um in den engen Rennwagen einer Arbeit nachgehen zu können.

Wilson kam nicht aus einer reichen Familie, er hatte keinen Mäzen, der Millionen in seine Karriere investierte, er profitierte nicht von einem Nachwuchsprogramm wie es Red Bull oder Ferrari oder McLaren betreiben, nein, er arbeitete sich alleine mit seinem Kämpferherzen hoch.

So fair, aber hart er als Gegner war, so liebenswürdig war er ausserhalb des Cockpits: ein Mann mit einem warmen Lächeln, kein Wunder erhielt er den Spitznamen «gentle giant», sanfter Riese.

Ich lernte ihn im Frühling 2003 besser kennen, als er für Minardi in die Formel 1 kam. Bei der Teampräsentation wirkte er wie ein staunendes Kind an Heilig Abend. Er konnte es noch nicht fassen, dass er es tatsächlich in die Formel 1 geschafft hatte.

Aber auch hier sprach er nur widerwillig von seiner Grösse und welche Kompromisse er immer deswegen eingehen musste. Justin Wilson wollte das einfach nicht als Ausrede gelten lassen, der Brite war der Ansicht – wenn du etwas wirklich erreichen möchtest, dann schaffst du das auch.

Es ist vielleicht bezeichnend, dass der Kämpfer und Rackerer Wilson in der englischen Stahlarbeiter-Stadt Sheffield geboren worden war und am Ende in einer anderen Stahlarbeiter-Stadt seinen letzten Atemzug getan hat, in Allentown, Pennsylvania (USA).

Der Weg in die Königsklasse war lang und steinig.

Nach erfolgreicher Kartkarriere wechselte Justin 1994 in den Automobilsport und gewann auf Anhieb die Junioren-Wintermeisterschaft der Formel Vauxhall (in Deutschland damals bekannt als Formel Opel). Doch Wilson war danach ein Waagrechtstarter. Aus finanziellen Gründen ging es kaum vorwärts, Justin blieb mehrere Jahre lang in der Formel Vauxhall, 1996 wurde er hinter dem späteren Formel-1-Piloten Luciano Burti (Jaguar, Prost, Ferrari) Gesamtzweiter.

1998 folgte endlich der erste Titel: Meister der neuen Formel Palmer Audi mit neun Laufsiegen. Seriengründer Jonathan Palmer (ebenfalls früherer Formel-1-Fahrer) hielt ihm den Steigbügel in die Formel 3000, die Sprungbrettklasse zur Formel 1 (heute Formel 2).

Wilson wurde in der Formel 3000 im Jahre 1999 Gesamt-20., 2000 jedoch Fünfter, und als er den Coca-Cola-Konzern als Sponsor gewinnen konnte, kam der grosse Erfolg bei Nordic Racing: Formel-3000-Champion des Jahres 2001.

Endlich horchten auch die Formel-1-Teams auf: Eddie Jordan lud ihn zu Testfahrten ein, aber Justin passte kaum in den gelben Renner. Wilson war dennoch schneller als der spätere Jordan-Pilot Takuma Sato, doch der Japaner war ein Günstling von Honda, Wilson stand wieder mal mit leeren Händen da.

Der Brite wechselte in die World Series by Nissan (heute: Formel Renault 3.5), wo er Gesamtvierter wurde.

Um endlich den grossen Schritt zu schaffen, liessen sich Wilson und sein Manager Palmer etwas Ungewöhnliches einfallen: sie verkaufen Investment-Anteile an den (wie sie hofften) künftigen Erfolgen des englischen Racers. Der Plan ging auf: Palmer und Wilson konnten mehr als vier Millionen Euro auftreiben, um das Angebot von Minardi-Chef Paul Stoddart für die Formel-1-Saison 2003 anzunehmen.

Wilson kam mit dem unterlegenen Minardi zwar nur auf einen elften Rang in Spanien als bestes Ergebnis (sein Stallgefährte Jos Verstappen, Papa des heutigen Weltmeisters Max Verstappen, war kaum erfolgreicher), doch Justin war schnell genug, um Jaguar auf sich aufmerksam zu machen: Als Jaguar mit Antonio Pizzonia zunehmend unzufrieden war, angelte man sich den langen Wilson. Justin bedankte sich mit Rang 8 in Indianapolis, es sollte sein einziger WM-Punkt in der Formel 1 bleiben.

Schliesslich verlor Wilson ein weiteres Mal ein Cockpit – dank Geld von Red Bull kam bei Jaguar der junge Österreicher Christian Klien an Bord, es war der erste Schritt zur Verwandlung von Jaguar in Red Bull Racing.

Wilson bemühte sich um den Platz eines Formel-1-Testpiloten, erhielt aber keinen, also tat er, was er schon einige Jahre zuvor erwogen hatte – Wechsel in die beste Monoposto-Meisterschaft von Nordamerika, die Champ-Car-Serie (heute IndyCar).

Nach einem ersten Jahr 2004 mit Conquest Racing (Gesamt-11.) folgten die besten Jahre von Wilson: mit RuSPORT wurde er 2005 Dritter (Siege in Toronto und Mexiko), 2006 und 2007 jeweils Gesamtzweiter (beide Male hinter Sébastien Bourdais).

Vor allem die Regelmässigkeit, mit welcher Wilson Spitzenergebnisse einfuhr, begeisterte die Fachleute. Seine Gegner schwärmten von einem harten Gegner, dem sie aber selbst bei Tempi jenseits von 300 km/h immer vertrauen konnten.

2006 heiratete Justin Wilson seine langjährige Freundin Julia, die beiden Töchterchen Jane und Jessica wurden 2008 und 2010 geboren.

Wilson blieb in den USA und fuhr für Newman/Haas, Dale Coyne, Dreyer & Reinbold, erneut für Dale Coyne (2013 Gesamtsechster) sowie 2015 teilzeit für Michael Andretti, Justin bedankte sich für das Vertrauen der Familie Andretti mit Rang 2 in Mid-Ohio.

2011 fiel er nach einem Unfall in Lexington wegen eines gebrochenen fünften Rückenwirbels eine halbe Saison aus, 2013 zog er sich beim Finale einen Beckenbruch zu. Aber Wilson kämpfte sich beide Male wieder zurück ins Cockpit.

Das Wort Aufgeben gab es in seinem Wortschatz nicht.

Justin Wilson hatte auf einen Stammplatz bei Andretti 2016 gehofft. Wir werden nie erfahren, ob er den erhalten hätte.

Am 23. August 2015 die Horror-Meldung: Justin Wilson beim IndyCar-Rennen auf dem Pocono Raceway im US-Bundesstaat Pennsylvania schwer verunglückt. Kurz vor dem Ende des Rennens wurde der englische Rennfahrer von Trümmerteilen am Kopf getroffen, von einem Teil der Fahrzeugnase des vor ihm verunfallten Fahrzeugs von Sage Karam. Wilson zog sich dabei so schwere Kopfverletzungen zu, dass er im Krankenhaus starb.

Der Motorsport verlor einen vorbildlichen Racer, immer zugänglich und mit einem warmen Lächeln, von den Gegnern respektiert und von den Fans verehrt wurde, das lebende Beispiel, dass man es mit purem Willen und Talent bis nach ganz oben schaffen kann.

Unfälle wie von Justin Wilson und Jules Bianchi bestärkten die FIA im Bestreben, den Kopf der Einsitzer-Rennfahrer besser zu schützen. Der Titanbügel Halo in zahlreichen Formeln und der Aeroscreen bei den IndyCars sind eine direkte Folge davon.

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