Jorge Lorenzo: «Ich will mich nicht verbiegen»
Jorge Lorenzo: «Ich kann vor der Kamera keine Späße machen wie andere Fahrer. Und das will ich auch nicht.»
Es spielt keine Rolle, dass Jorge Lorenzo ein Motorrad fährt. Er könnte auch einen Ball treten oder werfen, laufen oder schwimmen. Seine Koordination, Begabung, Feinfühligkeit und dieser Hauch Magie – all diese Dinge sind in diesem Elixier enthalten, das wir Talent nennen – haben ihn in seinem Beruf an die Spitze gebracht. Sie zeigen, dass er ein außergewöhnlicher Mensch ist.
Er ist MotoGP-Weltmeister und hat diesen Titel schon mehrfach gewonnen. Er wurde erst küzlich 29 Jahre alt und hat bereits eine Karriere hinter sich, die von Managern, Freunden und Ratgebern, der turbulenten Beziehung zu seinem Vater, wahrer Poesie auf zwei Rädern, Bewunderung, Ruhm und Reichtum geprägt wurde. Und das alles in einem Sport, in dem alles vorbei sein kann, sobald man sich das nächste Mal mit einem schwarzen Streifen Gummi auf dem Asphalt bewegt.
Sein Landsmann und Yamaha-Markenkollege Pol Espargaró sagt: «In diesem Feld ist Jorge der Einzige, der fahren kann wie Jorge. Meiner Meinung nach ist sein Talent unmenschlich. Sein Stil ist einzigartig. Er ist sehr fein und fährt sehr runde Linien. Zudem geht er sehr sanft mit dem Gas um.»
Die Hospitality von Movistar Yamaha ist fast menschenleer. Jorge ist von der offiziellen Pressekonferenz vor dem Start des Rennwochenendes zurück und sitzt auf einen Kaffe wartend an einem der zahlreichen Tische. Wir erhalten ein selbstsicheres Nicken vom Spanier und Press Officer Alberto Gomez nimmt mit mir Platz.
Es ist schwer, sich an einen Motorradrennfahrer zu erinnern, der wie Lorenzo ist. Als Teenager kam er in die MotoGP-WM – alles fing an seinem 15. Geburtstag an – seitdem ist er ein sehr wichtiger Bestandteil der Weltmeisterschaft. Ich will gar keine Schätzung riskieren, wie viele Interviews dieses gedankenvolle, ziemlich ernste, aber einnehmende Individuum schon gegeben hat. Er fixiert seinen Gegenüber mit einem aufmerksamen Blick und stochert in einem Fruchtsalat herum, während er sich erfolgreich in einer Fremdsprache artikuliert. Er spricht gut Englisch und auch Italienisch.
Wir wollen hier mehr darüber sprechen, wie er sein Leben führt und nicht nur über die Bikes, was er mit einem leisen «perfecto» beantwortet. Vielleicht entspringt das nur meiner Vorstellungskraft, aber es könnte ein kleines Zeichen der Erleichterung gewesen sein, dass wir nicht über Ducati und seinen sensationellen Transfer zum italienischen Werk nach neun Jahren bei Yamaha sprechen.
Die MotoGP-WM befindet sich in einer Ära, in der Spanier und Italiner überlegen sind, was Resultate und Ruhm angeht. Doch das Startfeld aus 22 Fahrern kann auch als farbenfrohes Patchworkmuster betrachtet werden. Es zeichnet sich durch Extravaganz, Rücksichtslosigkeit, Theatralität, ungestüme Handlungen, Verwegenheit, Witz und Perfektionismus aus. Lorenzo wird als bestimmt und distanziert beschrieben, aber ich erkenne dies in unserem Gespräch nicht. Auch bei anderen Anlässen, bei denen ich mit ihm zu tun hatte, erkannte ich diese Züge nicht an ihm. Stattdessen lernte ich einen sehr guten Zuhörer kennen, der gerne mit anderen interagiert, fast als würde er stets beobachten, ob er vielleicht etwas Neues lernen kann.
Ich erhielt den Eindruck, dass er ein Mann ist, der nicht hinters Licht geführt wird. Wenn doch, dann sicher nicht lange. Er weiß auch sehr genau, wie gut er wirklich ist, nachdem es ihm jahrelang immer wieder von vielen Menschen erzählt wurde. Auch 2016 hat er bereits unvergleichliche Leistungen gezeigt. Sein Rennen zum fünften WM-Titel und dem dritten in der Königsklasse in Valencia 2015 war nicht weniger als fehlerfrei. Es war eine faszinierende fehlerlose Beständigkeit unter unsäglichem Druck und unter Beobachtung durch das größte Mikroskop der Fans seit Beginn der MotoGP-Ära. Es war vielleicht Lorenzos beste Stunde. Und zu diesem Zeitpunkt besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass noch mehr kommen…
Ich erinnere mich an eine Pressemitteilung des Derbi-Rennteams, die ich am zweiten Tag des Grand Prix in Jerez 2002 vom Spanischen ins Englische übersetzen sollte. Es war dein 15. Geburtstag und du durftest deinen ersten Grand Prix bestreiten. Nun bist du kürzlich 29 Jahre alt geworden. Du hast also fast dein halbes Leben im Paddock verbracht. Fühlt es sich so an, als wäre seitdem viel passiert?
Ja, ja, denn mein berufliches – und auch privates – Leben hat sich stark verändert. Ich wechselte Teams und Kategorien, aber auch Freunde, Manager und die Menschen um mich änderten sich. So viele Menschen. Es sind viele gute, aber auch schlechte Dinge in diesen 14 Jahren meiner WM-Karriere passiert. Ich habe viel gelernt und als Fahrer, Profi und Athlet eine große Entwicklung durchgemacht. Viele Dinge sind passiert.
Ich erinnere mich auch, dass ich eine Dokumentation sah, als du Rennen und den ersten Titel in der 250-ccm-Klasse gewonnen hast. Du hast im Fitnessstudio trainiert, dein Sixpack poliert und warst sehr ehrlich, als zu sagtest, dass du ein kleiner Angeber bist. Dieser Kerl scheint sich stark von der heutigen Person zu unterscheiden. Wie bewertest du die Vergangenheit?
[Lächelt] Ich denke, dass ich schüchtern war und das verbergen und nicht öffentlich zeigen wollte. Ich wollte zeigen, dass ich härter und stärker bin, als ich es vielleicht in Wirklichkeit war. Dabei legte ich ein Verhalten an den Tag und benutzte in Interviews gewisse Wörter, die den Lesern und TV-Zuschauern den Eindruck vermittelten, dass ich ziemlich arrogant bin, oder? Trocken, nicht? Ich denke, das ist der Eindruck – auch wenn er jetzt nicht mehr so stark ist – den die MotoGP-Fans noch immer haben. Als ich 17 oder 18 war, hatte ich mit «diesen Leuten» nicht so viel zu tun. Ich habe mich sehr verändert, aber ich habe meine Art in der Box zu arbeiten nie geändert und diese paar Minuten bevor ich auf die Maschine steige auch nicht. Ich bleibe sehr ernst und sehr fokussiert. Ich kann vor der Kamera keine Späße machen wie andere Fahrer. Und das will ich auch nicht. Ich will meine Arbeitsweise oder mich nicht ändern, um die Fans zu beeindrucken. Ich will so sein, wie ich bin und mich nicht verbiegen. Wenn du das magst, gut, wenn nicht… Es ist mein Leben und ich werde es leben, wie ich es will. Ich werde mich nicht so verhalten wie du oder andere Menschen es wollen.
Gab es jemals eine Zeit, in der du diesem Fokus auf deine Person entkommen musstest? Als du dachtest: «Fuck, ich brauche eine Pause»? Wenn man an Supercross oder Motocross denkt, dann scheint es, dass die Jungs nur richtig abschalten können, wenn sie verletzt sind…
Ja. Wenn du Talent hast – wie ich glaube es zu haben – dann kann man es auf zwei Weisen machen. Man kann damit zufrieden sein, Dritter, Vierter, Fünfter oder Sechster zu sein, viele Jahre im Geschäft bleiben, Geld verdienen und dann nach Hause gehen. Oder man kann sein Talent bis zum Maximum ausreizen und dafür jeden Tag intensiv arbeiten: acht Stunden täglich im Fitnessstudio oder auf einem Bike und sich immer fragen: ‹Wie kann ich besser werden?› Das ist der Weg, den ich vor langer Zeit gewählt habe. Ich opfere einen großen Teil meines Lebens, um die bestmögliche Leistung zu bringen, die ich erreichen kann. Ich hätte auch den anderen Weg wählen können, hätte ein paar Rennen gewonnen, die Top-3 erreicht und wäre zehn Jahre länger hier geblieben… Doch das ist nicht mein Lebensweg.
Verändern sich die Ziele? In einem Jahr will man einen Titel, danach will man so viel Geld machen, damit man sich sein Traumhaus kaufen kann, danach will man einen bestimmten Gegner besiegen. Ich erinnere mich an Jean-Michel Bayle, der sagte, dass er neben all den Titeln jemanden wollte, der ihm sagt, dass er an einem bestimmten Tag so schön und perfekt gefahren ist. Ich frage mich, ob es dir ähnlich geht? Vor allem wegen der Art und Weise, wie du ein Motorrad fährst.
Jeder motiviert sich anders. Man kann unterschiedliche Wege finden. Manchen geht es um Geld, andere wollen beeindrucken, wieder andere wollen nur Tag für Tag besser werden. Wenn ich Druck spüre – und nervös bin – will ich mich jede Runde steigern. So kann ich den Druck wegnehmen. Das ist eines meiner Geheimnisse: jede Runde besser machen als die letzte. Wenn man anfängt, darüber nachzudenken, was im Rennen passieren könnte – vor allem bei negativen Gedanken – fühlt man sich gestresst. Über die Jahre habe ich gelernt, nur an die nächste Runde zu denken und meinen Fahrstil im Vergleich zu vorangegangenen Runde zu verbessern.
Was bedeutet für dich das «Ultimative»? Du hast schon perfekte Rennen gezeigt, viel gewonnen, Geld verdient, Wohltätigkeitsarbeit betrieben und Kindern geholfen. Was ist das Beste, das du erlebt hast?
Das Leben kann sehr einfach, aber auch sehr kompliziert sein. Es gibt viele Dinge, die sehr wichtig sind: Freunde, Familie und die finanzielle Situation. Dabei muss man sehr vorsichtig sein, denn andere können mit deinem Geld spielen und falsche Entscheidungen treffen. Man muss einen Kompromiss zwischen viel Arbeit und Vergnügen finden. Man wird nie wieder 25 oder 28 sein. Manchmal denke ich: «Warum führe ich dieses Leben weiter und opfere so viel?» Aber dann sagt ein anderer Teil in mir, dass ich etwas verschwende, wenn ich aufhöre. Das Talent, das ich habe, das mir viele positive Dinge im Leben bringen kann. Es ist schwierig, das aufzugeben.
Wie weit wirst du noch gehen?
Wie weit? Ich weiß es nicht. Vor fünf oder sechs Jahren dachte ich, dass ich nur noch zwei oder drei Jahre bleibe und es dann vorbei ist. Diese Zeit ist vergangen und ich genieße noch immer alles, hole gute Resultate und stürze weniger. Plötzlich denkt man nur noch über die nächsten zwei Jahre nach.
Wenn man deine Profile in den sozialen Medien betrachtet, gewinnt man den Eindruck, dass du auch zwischen den Rennen kaum Zeit hast. Es ist immer viel los…
Ich habe sicher die Möglichkeit, mein Leben zu genießen, aber meine Ambitionen und mein Perfektionismus erlauben es mir nicht, es völlig zu genießen, denn ich erwarte das Beste von mir, die besten Resultate und meine Karriere richtig zu nutzen. Das bedeutet, dass nicht viel Zeit bleibt. Zu Beginn meiner Karriere feierte ich nach einem Sieg nicht. Nun mache ich etwas in meinem Motorhome, trinke ein paar Bier, höre Musik und tanze mit dem Team. Abgesehen von diesen Momenten lebe ich wie ein Buddist. Es ist nicht wie bei den Rennfahrern der 70er wie Barry Sheene oder James Hunt. Wenn man so lebt, kommt man nicht mehr an die Spitze. Es ist eine andere Ära. Es ist nicht möglich, die Dinge so auszukosten wie in der Vergangenheit, wenn man gewinnen und Titel holen will.
Wenn du alleine oder mit deiner Freundin zuhause bist und die Tür hinter dir schließt, ist es dann möglich, «Jorge Lorenzo Nr. 99» draußen zu lassen?
Ja. Es ist wichtig, einen Kompromiss zu finden. Ich bin gut darin, mental abzuschalten. Wenn ich im Gym bin, dann bin ich voll konzentriert. Wenn ich zuhause an der PlayStation sitze, mit Freunden ins Kino gehe oder bei meiner Freundin bin, dann bin ich ganz bei ihnen. Es ist wichtig, das zu trennen.
Doch das muss schwierig sein, denn du bist ein international bekannter Sportler…
Eine schlechte Sache, wenn man berühmt oder wichtig im Sport ist, ist die Tatsache, dass man immer von Menschen umgeben ist. Manchmal bringen einen Leute dazu, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht machen will. Das ist nicht so positiv. Doch damit müssen Sportstars umgehen. So gibt es nach dem Karriereende ein paar Dinge, die wir nicht können, denn sie wurden immer von jemand anderem erledigt. Das ist nicht ideal, aber so lebt man, wenn man Geld oder Macht hat.
Hat es ein paar Jahre gedauert, das zu erkennen? Es muss viele Leute gegeben haben, die dir schon sehr jung gesagt haben, du bist der Beste und Dinge für dich erledigen wollten. Hat es gedauert, bis du das unter Kontrolle hattest?
Naja, diese Dinge lernt man, wenn man Fehler macht und Erfahrungen sammelt. Man erkennt, dass manche Teile des eigenen Lebens mit mehr Genauigkeit kontrolliert werden müssen. Andere Bereiche spielen keine so große Rolle und sie können von anderen Menschen für dich erledigt werden. Es ist nicht einfach.
Nun, mit 29 Jahren bist du noch nicht alt, aber ich denke, dass die Anforderungen der MotoGP körperlich sehr groß sein müssen. Die Stürze verursachen Schmerzen, die manchen Morgen ziemlich schwierig machen…
Wenn man zwischen 15 und 20 ist, fühlt man sich auch nach einem schwierigen Rennen am Montag wie ein neugeborenes Baby. Nun ist es komplizierter. Wenn man nun eine Party feiert, braucht man zwei Tage, um sich zu erholen. Es kann wie ein Marathon nach einem schwierigen Rennen sein. Das Schwierigste ist, dass es von Jahr zu Jahr anstrengender wird. Ich bin aber 29 und nicht 40, dann wird es erneut schwieriger. Es ist wichtig, auf die Ernährung zu achten, viel zu trainieren und positiv zu denken. Vor allem muss man genießen, was man tut. Das können wir bei Rossi beobachten, der durch die Ranch und die jungen Menschen um sich jünger wirkt. Das gibt ihm Energie, um in der MotoGP-WM weiterzumachen. Es ist wichtig, einen Traum zu haben, um die Motivation aufrechtzuerhalten.
Worin wird deine nächste große Herausforderung bestehen? Einige kleine Lorenzos vielleicht?
[Lächelt]. Das ist eine große Sache im Leben, Vater zu werden und eine Familie zu gründen. Es ist mir wichtig, dabei nicht zu versagen. Man sollte das Kind, dieses menschliche Wesen, nicht mit der falschen Person bekommen. Man muss sich sehr sicher sein. Es gibt Menschen, die darauf nicht so großen Wert legen, die Kinder bekommen und alles geht schief. Es ist wichtig, die richtige Person dafür zu finden. Ich habe keine Eile. Ich denke, es ist normal, sich eine Familie zu wünschen. Das ist auch für mich sehr wichtig.