Über Frédéric Vasseur
Frédéric Vasseur hat so viel erreicht in seiner Motorsportkarriere, dass es im Grunde nur eine Frage der Zeit war, bis er in der Formel 1 landen würde. Mercedes-Motorsportdirektor Toto Wolff bezeichnete den Franzosen als «einen der cleversten Menschen, welche ich in dieser Branche kennengelernt habe».
Vasseur ist seit Jahren erfolgreich in den Formelsport-Nachwuchsklassen unterwegs: Seit 1996 betrieb der Absolvent der ESTACA (Hochschule für Aeronautik und Autotechnik, in Laval, Nordwestfrankreich) seinen Rennstall ASM, er trat in der Formel 3 mit Motoren jener Firma an, mit welcher er verbunden blieb – Renault.
Nachdem Renault sich entschlossen hatte, das Formel-3-Projekt nicht weiter zu betreiben, angelte sich Vasseur einen Vertrag mit Mercedes, und nun startete das Team durch: Von 2004 bis 2009 wurden von 80 Rennen 51 gewonnen, die Truppe schien auf Formel-3-EM-Titel und Siege bei den renommiertesten Rennen wie Zandvoort oder Macao abonniert.
2005 gründete Vasseur zusammen mit Nicolas Todt (dem Sohn des FIA-Chefs Jean Todt) den Rennstall ART Grand Prix, mit dem die beiden sowohl in der GP2 als auch in der GP3 mehrere Titel eingefahren haben – und zwar gemeinsam mit den späteren GP-Piloten Nico Rosberg (2005), Lewis Hamilton (2006), Nico Hülkenberg (2009), Esteban Gutiérrez (2010) und Valtteri Bottas (2011). 2015 wurde McLaren-Zögling Stoffel Vandoorne mit ART GP2-Meister, in der GP3 komplettierte Esteban Ocon den Triumph.
Vasseur hatte keine Formel-1-Erfahrung, als er den Posten des Sportdirektors im Renault-Werksrennstall übernahm, aber die hatte Eric Boullier auch nicht, als er 2010 das GP-Team von Renault leitete (heute ist er McLaren-Teamchef).
Um ein Haar wäre Vasseur schon 2010 in der Formel 1 gelandet, als drei neue Rennställe im GP-Sport antraten. Caterham, HRT und Marussia taten das allerdings im Glauben, dass bald eine Budgetobergrenze eingeführt werden würde, aber die kam nie. Ergebnis: Die drei Teams krebsten am Schluss des Feldes umher und gingen dann pleite. Nur Marussia konnte als Manor aus dem Scherbenhaufen gerettet werden und ist 2016 noch dabei.
Frédéric Vasseur meinte zur langen Wartezeit auf die Formel 1: «Mir war letztlich lieber, in einer unteren Kategorie um Siege und Titel zu kämpfen als in der Formel 1 hinterher zu fahren.»
Frédéric Vasseur wusste, dass er sehr viel Arbeit vor sich hatte, wie er zu Beginn der Saison 2016 zugab: «Zunächst einmal ist klar, wenn wir die Teams vom Stand 2010 und 2015 miteinander vergleichen – der Rennstall hat einige Schlüsselfiguren verloren. Was mich hingegen freut: In diesem Rennstall ist nie vergessen worden, wie man effizient arbeitet. Selbst im vergangenen Jahr, als die Situation nicht rosig war, wurden einige tolle Ergebnisse eingefahren, vor allem der dritte Rang von Romain Grosjean in Spa-Francorchamps. Dem Team waren die Hände gebunden, was die Weiterentwicklung des Rennwagens anging. Vor diesem Hintergrund wurde gute Arbeit geleistet.»
Renault-CEO Carlos Ghosn hatte die Ziele der Franzosen klar umrissen: Man ist nicht in die Formel 1 zurückgekommen, um das Feld zu füllen, mittelfristig soll Renault unter die besten drei Rennställe vorstossen, nach drei Jahren soll der Anschluss an die Spitze gefunden sein.
Das wird Fred Vasseur nur von aussen erleben, denn Anfang Januar kam der grosse Knall: Trennung von Renault!
Letztlich ging es um die Frage: Wer hat hier eigentlich das letzte Wort? Jérôme Stoll als Präsident von Renault Sport? Geschäftsleiter Cyril Abiteboul? Oder doch Teamchef Frédéric Vasseur?
Die drei Alphatiere spielten Probleme in der Entscheidungsstruktur herunter. Aber Vasseur gab zu: «Der Grund für die Trennung – wir hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, wie das Team gemanagt werden sollte. An diesem Punkt war es aus meiner Perspektive sinnvoll, den Rennstall zu verlassen. Das ist auch für Renault das Beste. Wenn du in der Formel 1 Leistung bringen willst, dann braucht das Team einen einzigen Leader und eine Art und Weise, wie die Dinge anzupacken sind. Hast du zwei verschiedene Visionen für die Zukunft bedeutet dies nur, dass die Arbeit innerhalb des Teams verlangsamt wird.»
Die Entscheidung reifte gemäss Vasseur nach Gesprächen mit den anderen Führungskräften. «Wir hatten seit dem Saisonschluss in Abu Dhabi 2016 verschiedene Diskussionen, wie wir die Organisation für 2017 am besten aufgleisen wollen. Dann nahm ich ein wenig frei, in der ersten Januar-Woche kam ich zu meinem Entschluss. Es ist viel besser, jetzt die Reissleine zu ziehen.»
«Klar finde ich das auch frustrierend, aber wir haben in vielen Belangen einen guten Job gemacht, vor allem was die zusätzliche Verpflichtung neuer Fachkräfte angeht, was die Verbesserung der Infrastruktur betrifft und auch beim Einsatz des Teams an den GP-Schauplätzen. Die Arbeit mit insgesamt mehr als tausend Fachleuten bei Renault war für mich eine bereichernde Erfahrung. Was mich enttäuscht – wenn wir das Team mit dem Bau eines Hauses vergleichen, so ist inzwischen das Fundament gegossen, und wir haben mit den Grundmauern begonnen, und jetzt höre ich nach dem ersten Meter Mauerbau auf. Aber ich kann gut mit meiner Entscheidung leben.»
«Jetzt nehme ich erst mal eine Auszeit mit meiner Familie, dann sehen wir weiter. Es gab einige Diskussionen über neue Projekte. Aber zunächst will ich die Zusammenarbeit mit Renault sauber abschliessen. Ich habe genügend Pläne, um mich auf Trab zu halten. Ob ein Weg zurück in die Formel 1 führt, weiss ich nicht.»
Anfang Juli 2017 wussten wir es: Der Schweizer Sauber-Rennstall gab bekannt, dass Fred Vasseur Nachfolger von Monisha Kaltenborn wird als Teamchef und Geschäftsleiter des Rennstalls.
Seine erste Amtshandlung: Der Franzose zerriss die Absichtserklärung, die Frau Kaltenborn mit Honda für die Lieferung von Motoren 2018 bis 2020 unterzeichnet hatte. Vasseur: «Da gab es für mich zu viele Fragezeichen. Nehmt nur das Getriebe. Wir haben bei uns nicht die Kapazität, ein Getriebe zu bauen. Wie hätte das mit Honda gehen sollen, wo doch eine Trennung von McLaren in der Luft lag? 2018er Motoren von Honda, letztjähriges Getriebe von McLaren? Nein, das passte für mich alles nicht zusammen.»
Daher arbeitet Ferrari weiter mit Ferrari und wird den aktuellen Motor samt Getriebe der Italiener verwenden.
«Die Arbeit am 2017er Auto begann spät, weil damals die finanzielle Situation des Rennstalls so unsicher war. Für 2018 ist das ganz anders. Wir konnten viel früher beginnen, was selbst nach dem späten Wechsel in Sachen Motor ein Vorteil ist.»
Vasseur gestand Ferrari zu, dass der junge Monegasse Charles Leclerc 2018 zum Grand-Prix-Debüt kommt. Im Dezember der nächste Coup: Alfa Romeo wurde Titelsponsor von Sauber!
Sauber wurde zum Phoenix aus der Asche: Die Schweizer rappelten sich vom Hinterbänkler auf und rückten ins Mittelfeld vor, dank des starken Charles Leclerc konnte am Ende WM-Rang 8 errungen werden. Vasseur krempelte weiter tüchtig um: Er stellte Technikchef Jörg Zander vor die Tür und holte von Ferrari stattdessen Simone Resta. Der grösste Coup des Jahres gelang Vasseur jedoch abseits der Rennstrecke: Anfang September konnte er Kimi Räikkönen überzeugen, zwei Jahre lang für die Schweizer zu fahren, 2019 und 2020.
Gerüchte über Sauber und Kimi tauchten schon im Frühsommer auf. Aber Vasseur sagt: «Zum Zeitpunkt, als diese ersten Stories auftauchten, gab es null Kontakt zu Kimi. Alles begann am Monza-Wochenende, unmittelbar nachdem Ferrari Kimi mitgeteilt hatte, dass er durch Leclerc ersetzt werde.»
Ein Wegbereiter zum neuen Vertrag mit Sauber war Beat Zehnder. Kimi ist dem langjährigen Teammanager der Schweizer immer freundschaftlich verbunden geblieben. Vasseur weiter: «Beat und Kimi reden die ganze Zeit. Aber ich wollte immer abwarten, wie sich das mit Ferrari entwickelt, bevor ich daran denke, Kimi Räikkönen in einen Sauber zu setzen.»
Hat Ferrari zum Sauber-Deal die Weichen gestellt? «Nein», sagt Fred Vasseur, «Ferrari war in die Verhandlungen nicht eingebunden. Aber ich glaube, sie sind sehr froh, dass diese Lösung gefunden worden ist. Die Verhandlungen verliefen sehr geradlinig. Wir haben uns zwei Mal getroffen, dann war alles geregelt. Im Grunde lief das so ab. Wir setzten uns auf einen Kaffee zusammen, und ich habe Kimi gefragt: „Was willst du machen?“ Er meinte: „Ich will Rennen fahren.“ Daraufhin sagte ich: „Gut, dann machen wir das gemeinsam.“»
«Ich glaube, Kimi hatte finanziell verlockendere Angebote als unseres. Und es ist für uns finanziell eine grosse Sache, einen Top-Fahrer zu holen. Aber ich glaube, es ist für Kimi eine noch grössere Sache, Sauber zu vertrauen. Das zeigt, wie motiviert er noch immer ist. Er hat sofort die richtigen Fragen gestellt: „Wie weit reicht die Kooperation mit Ferrari?“ Oder: „Mit welchen Technikern würde ich arbeiten?“ Oder: „Wie weit ist die Arbeit am 2019er Auto?“ Er hat sich ganz auf sportliche Fragen konzentriert. Das hat mir Eindruck gemacht. Ich sagte ihm, dass wir uns weiter im Aufbau befänden, dass er aber eine wichtige Rolle für uns spielen würde, nicht nur aufgrund seiner Erfahrung und seines Talents, sondern auch als Signal an Geldgeber. Ich sagte, ich wolle nur mit ihm zusammenarbeiten, wenn er auch wirklich hinter uns stehe. Kimi meint: „Wenn ich etwas als nutzlos erachte, dann mach ich es auch nicht.“»
«Kimi liebt den Rennsport durch und durch. Er wird sich bei uns wohlfühlen. Er wohnt nicht weit vom Werk entfernt und wird viel Zeit bei uns verbringen. Einer der ersten Sätze bei unserem Gespräch war: „Das ist prima, dann kann ich oft bei euch vorbeischauen.“ Ich spüre, wie er in die Arbeit eingebunden werden will. Und dazu stehen bei uns alle Türen offen. Ich sehe ihn auch als Motivator fürs Team. Es ist eine grosse Kiste, einen Weltmeister und 21fachen GP-Sieger zu verpflichten. Diese Saison hat überdies bewiesen, dass er nichts von seinen Fähigkeiten eingebüsst hat.»
Der 2019er Sauber entstand unter der Leitung des früheren Ferrari-Chefdesigners Simone Resta. Vasseur: «Kimi kennt Simone gut. Er weiss, dass wir die Arbeit am neuen Wagen sehr früh begonnen haben, früher als die meisten anderen Rennställe. Es muss ein realitisches Ziel sein, 2019 fünfte Kraft in der Formel 1 zu werden.»
«Auch in Sachen Marketing ist Kimi eine andere Hausnummer. Wir werden 2019 nur drei Weltmeister am Start haben, Sebastian Vettel, Lewis Hamilton – und Kimi. Wir haben bereits Angebote von Geldgebern erhalten. Das hätte ich in diesem Ausmass nicht erwartet.»
«Kimi wird bei uns unter weniger Druck fahren als bei Ferrari. Er kann das Rennfahren geniessen. Das heisst nicht, dass wir hier die Zügel schleifen lassen. Aber er wird gewiss mehr Zeit für die technische Seite des Jobs haben und für die Beziehung mit seinen Ingenieuren als bei Ferrari.»
«Die Reaktion im Sauber-Werk auf die Verpflichtung war enorm. Ich stand eben im Design-Büro, als die E-mail mit der Bestätigung an die Mitarbeiter ging, und die Leute sagten – wow! Kimi Räikkönen wird es uns auch erleichtern, neue Leute zu finden. Es war nicht leicht, ausländische Fachkräfte vom Arbeitsplatz Schweiz zu überzeugen. Die Zusammenarbeit mit Alfa Romeo hat schon einiges geändert. Auf einmal erhielen wir viel mehr Bewerbungen. Das Gleiche passiert nun nach Kimis Verpflichtung. Die Leute sagen sich: „Wenn Kimi Räikkönen Vertrauen zu Sauber hat, dann kann ich das auch haben.“»
Räikkönen brachte 2019 genau das, was sich Vasseur vom GP-Sieger versprochen hatte: Wenn der Alfa Romeo-Sauber punktefähig war, dann fuhr der Finne diese Punkte nach Hause.
Dennoch war die Saison insgesamt eine Enttäuschung: Am Ende schaute für den Rennstall aus dem Zürcher Oberland nur Schlussrang 8 heraus. Fazit von Vasseur: «Nie war der Mehrkampf im Mittelfeld härter. Wenn du da nicht an jedem GP-Wochenende Top-Leistung bringst, bleibst du eben ohne WM-Zähler. Wir haben nicht jedes Mal das Beste aus unseren Möglichkeiten gemacht und haben dafür die Quittung erhalten.»
Im ersten Saisonteil 2019 war Alfa Romeo-Sauber ein Einwagen-Team. Es dauerte bis zum neunten Saisonrennen, um Antonio Giovinazzi endlich mal in den Punkten anzutreffen. Der Italiener stand nach einem jämmerlichen Fahrfehler in Belgien kurz vor dem Rauswurf. Retten konnte er sich schliesslich mit einem starken Auftritt beim Heimspiel in Italien, bei dem er den weggeschmissenen neunten Rang nachholte, wie Frédéric Vasseur erklärt. «Der Crash war für alle ein grosser Schock, denn wir hatten eine gute Chance, Punkte zu holen. Antonio kämpfte sich nach vorne und ganz am Schluss hatte er dann den Crash.»
Danach habe man sich mit dem Crash-Piloten zusammengesetzt und Klartext geredet, offenbart der Franzose. «Wir hatten eine harte Diskussion, denn diese Dinge können deine Karriere entscheiden. Wir dachten über die Zukunft nach und mussten in der Woche nach dem Rennen über die Situation sprechen. Er reagierte sehr gut darauf.»
Das war für Vasseur sehr wichtig, wie er betont. «Es lastete ein Riesendruck auf seinen Schultern, denn wir hatten beim Heimrennen von Alfa Romeo sehr viele wichtige Gäste vor Ort dabei. Ich denke, er hat in dieser Situation einen super Job gemacht», lobt das Team-Oberhaupt, und mahnt: «Das Problem von Antonio war, dass die Performance von uns zurückging, als er gerade in Top-Form war. Du kannst deinen Teamkollegen schlagen, aber wenn es sich um die Plätze 14 und 15 handelt, dann wird das nicht so sehr wahrgenommen, wie wenn es beispielsweise um den sechsten oder siebten Rang geht, dann sprechen alle darüber.»
Dank Kimi Räikkönen und Fred Vasseur ging es aufwärts – nach den blamablen letzten Plätzen 2016/2017 wurde der Rennstall aus dem Zürcher Oberland von 2018 bis 2020 solider Achter in der Markenwertung. Nach einem Durchhänger 2021 (als das Team wegen des schwachen Antonio Giovinazzi quasi als Einwagen-Rennstall auftrat) folgte eine Steigerung auf Rang 6 in der GP-Saison 2022, mit den neuen Flügelautos, mit frischem Wind in Sachen Fahrer – Valtteri Bottas und Guanyu Zhou.
Dank Kimi Räikkönen und Alfa Romeo erhielt das Team viel mehr Aufmerksamkeit. Denn 2018 kehrten die Turiner als Sponsor in den GP-Sport zurück, ab 2019 hiessen die Rennwagen offiziell nicht mehr Sauber, sondern Alfa Romeo.
Alfa Romeo war eine Marke der ersten Stunde in der Formel 1: Die ersten beiden Weltmeister – Giuseppe Farina und Juan Manuel Fangio – sassen 1950 und 1951 in den zeitlos eleganten Alfa Romeo 158 und 159, die zärtlich «Alfetta», also kleine Alfa, genannt wurden. Die Alfetta wurde zu einem der erfolgreichsten Grand-Prix-Renner – 47 von 54 Grands Prix wurden gewonnen, angefangen schon 1938, unterbrochen vom Zweiten Weltkrieg.
Als sich die italienische Regierung vor der Saison 1952 weigerte, Alfa Romeo zu helfen, um das inzwischen dreizehn Jahre alte Modell Alfetta zu ersetzen, beschloss der Alfa-Vorstand, den Stecker zu ziehen. Aus heutiger Sicht unfassbar: Die beiden WM-Titel 1950 und 1951 wurden mit insgesamt nur neun Motoren errungen!
1977 gab der Alfa-Vorstand dem feisten Carlo Chiti (Markenzeichen: Regenmantel, auch bei 40 Grad im Schatten wie bei den Testfahrten in Rio de Janeiro) den Auftrag, ein neues Formel-1-Auto zu bauen, ermutigt von guten Ergebnissen von Brabham mit einem Alfa-Motor 1977 und 1978. Das Ergebnis war der Alfa Romeo 177, der (entgegen seines Namens) erst in Belgien 1979 debütierte.
Die Italiener schafften es, einen Wagen zu bauen, der schon beim ersten Einsatz technisch veraltet war. Der Zwölfzylinder-Flachmotor passte schlecht zu einem Flügelauto (daher wechselte auch Brabham zurück um besser geeigneten Cosworth-V8), das Monocoque war zu voluminös und um fast vierzig Kilogramm zu schwer. Der Rennwagen konnte trotz aller Bemühungen von Brambilla und Bruno Giacomelli keinen WM-Punkt einfahren.
Im Jahr darauf, mit einem etwas zeitgemässeren Renner, sah es besser aus. Bruno Giacomelli stellte den Alfa in Watkins Glen auf die Pole. Ein wichtiges Erfolgserlebnis für das ganze Team, das bei Testfahrten in Hockenheim 1980 Team-Leader Patrick Depailler verloren hatte.
1981 litten die Alfa, nun mit Mario Andretti als Nummer 1, an mangelnder Standfestigkeit. Für 1982 wurde das Team von EuroRacing eingesetzt, die Motoren stammten aber noch immer aus dem Werk. 1983 ein Highlight: zwei zweite Plätze für Andrea de Cesaris. Doch längst bauten Firmen wie BMW, Renault, TAG-Porsche, Honda und Ferrari bessere Turbo-Motoren. Der Alfa-V8-Motor war zu durstig und zu wenig kraftvoll.
Alfa Romeo hat im Rahmen der Formel-1-WM 112 Grands Prix bestritten und 10 davon gewonnen, keinen davon als Hersteller in der Neuzeit. Das letzte Engagement – 1985 als «Benetton Alfa Romeo» mit Eddie Cheever und Riccardo Patrese, war eine Katastrophe: null Punkte. Mit dem WM-Finale in Adelaide (Australien) verschwand Alfa in der Formel-1-Versenkung. Für dreissig Jahre!
Fast schüchtern kehrte die Marke dann zurück: Auf der Motorverkleidung des 2015er Formel-1-Ferrari wurde das Alfa-Emblem spazierengefahren, nicht mehr das Fiat-Logo. Damit hat sich ein Kreis geschlossen: Gemäss Angaben von Ferrari tauchte das berühmte Pferdchen des früheren Alfa-Werksfahrers Enzo Ferrari erstmals 1932 auf einem Alfa Romeo auf – auf einem von der Scuderia Ferrari eingesetzten Alfa 8C 2300 MM, beim 24-Stunden-Rennen von Spa-Francorchamps. Wenige Jahre darauf übernahm Ferrari die Renneinsätze von Alfa Romeo.
Alfa steht seit 1910 als Abkürzung für «Società Anonima Lombarda Fabbrica Automobili» (also Aktiengesellschaft Lombardische Automobilfabrik), Romeo kam im Dezember 1915 hinzu, als die Rüstungsgesellschaft von Nicola Romeo das Sagen in der jungen Firma übernahm.
Als Markenzeichen ist seit gut hundert Jahren unverändert: In der linken Seite ein rotes Kreuz auf weissem Grund (die Farben der Stadt Mailand), rechts eine grüne Schlange mit Drachenkopf und Krone, auf blauem Grund, auch dies Teil des Mailänder Stadtwappens. Die Schlange mit einem Kind im Mund geht auf eine Legende aus den Kreuzzügen zurück, als ein Mitglied der Mailänder Familie Visconti bei Rom einen Sarazenenfürsten tötete und dessen Wappenschild an sich nahm. Auf das Schild war angeblich eine Schlange mit Kind im Mund gemalt.
Als Audi 2022 die Fühler Richtung Sauber ausstreckte, war klar – die Epoche Alfa Romeo neigt sich dem Schluss zu. Die Italiener verkündeten wie erwartet: Ein Formel-1-Engagement in dieser Form geht Ende 2023 zu Ende. Audi übernimmt schrittweise Anteile an Sauber, der offizielle GP-Einstieg der Marke mit den vier Ringen erfolgt Anfang 2026.
Wo dann Fred Vasseur sein wird? Schwer zu sagen. Im Dezember 2022 bestätigte Ferrari – der Franzose wird beim berühmtesten Rennstall der Welt Nachfolger von Mattia Binotto.
Ferrari-CEO Benedetto Vigna: «Wir freuen uns sehr, Fred Vasseur willkommen heissen zu dürfen. Uns hat Eindruck gemacht, wie er sein technisches Sachverständnis über all die Jahre mit Führungsqualitäten in Einklang gebracht und grosse Erfolge gefeiert hat. Vasseur ist ein geborener Leader, und das wird dem Rennstall frische Energie geben.»
Fred Vasseur sagt: «Es ist eine grosse Ehre für mich, das Steuer der Scuderia Ferrari zu übernehmen. Für jeden wie mich, der so grosse Leidenschaft für den Motorsport spürt, ist Ferrari der Gipfel. Ich kann es nicht erwarten, meine Arbeit in Maranello aufzunehmen. Und ich werde alles daran setzen, die grosse Geschichte von Ferrari weiterzuschreiben und für die Tifosi auf der ganzen Welt die bestmöglichen Ergebnisse zu erringen.»
Auf den Franzosen kommt sehr viel Arbeit zu. Ferrari ist seit Kimi Räikkönen 2007 ohne Fahrer-WM-Titel, seit 2008 haben die Italiener keinen Konstrukteurs-Pokal mehr gewonnen. Vasseur wird die Ärmel sehr weit hoch krempeln müssen, um die zahlreichen Baustellen bei den Italienern aus der Welt zu schaffen.
Baustelle 1: Entwicklung
Egal ob mit Fernando Alonso, mit Sebastian Vettel oder mit Charles Leclerc – letztlich zerschellten die Titelhoffnungen von Ferrari daran, dass die Konkurrenz effizienter entwickelte. Ferrari begann 2022 mit dem unumstritten schnellsten Auto, aber dann fielen die Italiener hinter Red Bull Racing zurück, gegen Ende der Saison mussten sich die Roten auch von Mercedes auf der Nase herumtanzen lassen.
Baustelle 2: Standfestigkeit
Motorschaden bei Charles Leclerc in Spanien (in Führung liegend), Motorschaden für den Monegassen auch in Baku, damit war auch das Rennen in Kanada kompromittiert, weil Charles nach dem Einbau neuer Motorteile nach hinten rücken musste. Spektakuläres Motorfeuer bei Carlos Sainz auf dem Red Bull Ring.
Beim Grossen Preis von Mexiko wirkte Ferrari zahnlos, und endlich gab Teamchef Mattia Binotto erstmals zu, was wir in der Höhenluft von Mexiko-Stadt geahnt hatten. «Wir mussten Leistung zurückfahren, um in Sachen Standfestigkeit auf der sicheren Seite zu bleiben.»
Baustelle 3: Rennstrategie
In Monaco verlor Lokalheld Charles Leclerc wegen einer ungeschickten Boxenstopp-Strategie die Führung. In England holte Ferrari Leclerc unter Safety-Car nicht an die Box, erneut fiel der Monegasse zurück. Ausgerechnet Ferrari-Stallgefährte Carlos Sainz gewann.
In Ungarn erhielt Leclerc den harten Reifen mit auf den Weg, obschon längst klar war, dass diese Mischung an jenem Tag eine schlechte Wahl ist. In Brasilien wurde Leclerc in der Quali auf Intermediates auf die Bahn geschickt, alle anderen Fahrer waren auf Slicks.
Das sind nur einige Beispiele für Patzer am Kommandostand, dazu kamen endlose Diskussionen am Funk zwischen Fahrer und Technikern. Fred Vasseur wird mit all dem aufräumen müssen.
Baustelle 4: Boxenstopps
Gewiss, auch bei anderen Rennställen sitzt beim Reifenwechsel nicht jeder Handgriff. Aber Ferrari taucht in der Jahresliste von F1-Logistiker DHL in Sachen Reifenwechsel-Speed nur auf Rang 4 auf, Klassenbester ist Red Bull Racing. Das übelste Beispiel: Als Carlos Sainz in Zandvoort an die Box kam, lagen für den Spanier die falschen Reifen bereit. Mehrfach wurden in der Saison Fahrer zu spät an die Box gerufen, so wie in Brasilien Leclerc.
Baustelle 5: Hackordnung
Wir haben den grössten Respekt vor Carlos Sainz, immerhin hat der 28-jährige Madrilene in seiner ersten Saison 2021 mit Ferrari gleich mal Leclerc hinter sich gelassen. Aber mit dem 2022er Auto kam Charles besser zurecht, Leclerc war der Einzige, der Verstappen in Sachen Speed regelmässig die Stirn bieten konnte. Ferrari muss sich den Vorwurf gefallen lassen: Hätten die Italiener von Anfang an auf Leclerc gesetzt, hätte man länger vom Titel träumen dürfen.
Baustelle 6: Psychologie
Wenn wir schon bei Charles Leclerc sind: Das Verhältnis zwischen Mattia Binotto und seinem Star-Fahrer erkaltete im Sommer; der Monegasse ist einer jener Fahrer, die das Gefühl vermittelt bekommen müssen, wirklich geliebt zu werden, dann kann er sich ideal entfalten. Vasseur ist seit Jahren eng mit Charles befreundet und gilt als Piloten-Versteher.
Baustelle 7: Mentalität
Es ist Mattia Binotto an der Spitze des Ferrari-Rennstalls nicht gelungen, einen Hunger zu erzeugen, wie er die Teams von Mercedes-Benz und Red Bull Racing beseelt. Die Teamchefs Toto Wolff und Christian Horner haben in Sachen Einstellung fast identische Worte gesagt: «Wir gehen jedes Rennen an, als hätten wir noch keinen einzigen Grand Prix gewonnen.»
Es reicht nicht, das grosse Ferrari zu sein, die Mitarbeiter müssen den Erfolg mit jeder Faser ihres Körpers wollen. Sieger-Mentalität beginnt im Kopf. Fred Vasseur muss das bei seinen Mitarbeitern verinnerlichen.
Baustelle 8: Politik
Die vielleicht kniffligste aller Baustellen für Fred Vasseur. Der langjährige Ferrari-Designer Aldo Costa, der sich 2012 zu Mercedes abseilte, hat gesagt: «Bei Ferrari bist du unter ständiger Beobachtung. Die Medien machen Druck, die Tifosi machen Druck, die Aktionäre machen Druck, der Barista macht Druck, bei dem du am Morgen einen Espresso trinkst.»
Der Druck von aussen, durch die hohen Erwartungen der Tifosi und durch eine gnadenlose Presse, das ist das Eine. Das Andere ist der interne Druck. Es braucht eine klare Linie des Ferrari-Präsidenten John Elkann, es braucht einen Benedetto Vigna als Ferrari-CEO, der sich nicht in die Belange des GP-Rennstalls einmischt. Aussagen aus der Führungsetage dürfen auf dem dünnen Eis der italienischen Medienlandschaft nicht den leisesten Knackser erzeugen.
Fred Vasseur steht vor der grössen Aufgabe seiner Karriere.