Formel 1: Ferrari im Visier eines Geisteskranken

China-GP: Formel-1-Teamchef verzichtete auf Reise

Von Mathias Brunner
Die Rennanlage des Shanghai International Circuit

Die Rennanlage des Shanghai International Circuit

​Das Fahrerlager des gewaltigen Shanghai International Circuit wirkt bis heute weitläufig und blutleer. Und das ist nicht das Einzige, was dem Durchschnitts-Europäer bei der Reise nach China merkwürdig vorkommt.

Beim Grossen Preis von China hängen (auch wir) gerne «in Shanghai» an, dabei liegt die Rennstrecke auf einem ehemaligen Sumpfgelände weit ausserhalb von Shanghai. Zur weltberühmten Passage «The Bund» am Huangpu-Fluss sind es knapp vierzig Kilometer; was beim fortlaufenden Verkehrskollaps leicht mal einige Stunden in Anspruch nehmen kann.

Die Formel 1 wird in China jedes Jahr ein wenig populärer (nicht zuletzt dank Guanyu Zhou), aber jetzt mal ehrlich: Shanghai verfällt nicht in kollektives GP-Fieber, wenn unser Zirkus in die Stadt kommt, nicht wie in Melbourne oder Montreal oder Singapur.

Aber die Mächtigen der Formel 1 glauben nach der Corona-bedingten Zwangspause dieses Rennens: Viele Menschen bedeutet viel Wirtschaftspotenzial. Sie haben Angst, den Anschluss auf Märkten wie China und Indien zu verpassen. Doch Hand aufs Herz: Wie viele Formel-1-Sponsoren aus China und Indien können Sie aufzählen? Eben.

Ein ehemaliger Formel-1-Rennstallbesitzer hat mir einmal gesagt: «Der Mensch ist ein Leben lang Angst-gesteuert. Ohne seine täglichen Sorgen wäre er unglücklich.»

Diese Aussage hat mich verblüfft. Erstens, weil Racer im Herzen unverbesserliche Optimisten sind (und die meisten Menschen im Fahrerlager sind Vollblut-Racer, ungeachtet ihres Berufs). Zweitens, weil sich jeder von uns doch ein sorgenfreies, glückliches Leben wünscht, nicht wahr?

Der Teambesitzer führte das aus, und er hatte da schon einen Punkt. Denken Sie mal darüber nach: Wir fürchten uns wirklich ein Leben lang. Nichts zu essen zu bekommen, allein gelassen zu werden, in der Schule schlecht zu sein, keine Freunde zu haben, keinen Partner zu finden, den Job zu verlieren, krank zu werden und so fort.

Die moderne Medienlandschaft schürt viele Facetten von Furcht, in einigen Ländern gezielt gesteuert von der Regierung. Denn Menschen, die Angst haben, sind gefügig.

Wenn Sie jetzt denken, das ist ein seltsamer Zusammenhang mit dem China-GP: Ich weiss noch, in welchem Klima der Furcht wir vor dem Corona-Wahnsinn nach Shanghai geflogen sind. Nordkoreas Staatschef Kim Jong-un polterte wie ein störrisches Kleinkind, keiner wusste, was dieser Wirrkopf als nächstes anstellt, und damals ging die Vogelgrippe um, von der keiner wusste, was daraus wird.

Diese beiden Themen waren in englischsprachigen Zeitungen wie der «China Daily» oder der «Shanghai Daily» Titelseiten-Material, das Formel-1-Rennen nicht.

Auch bei der Reise von der Schweiz nach Shanghai ist Furcht ein Leitthema, wenn ich ein wenig in Erinnerungen krame. Vor Jahren begann das Abenteuer mit Verspätung – vom Rollfeld mussten wir zum Fingerdock zurückkehren: Der Bordcomputer machte Mucken. Techniker kamen an Bord. Selten ein gutes Zeichen.

(Die Angst, den Anschluss in Dubai Richtung Shanghai zu verpassen ...)

Nach einer längeren Pause ging es doch los, der Anschluss war letztlich kein Problem, uff.

Die Einreise in China kann abenteuerlich verlaufen. Einmal verbrachte ich eine sehr lange Stunde mit einem Beamten, weil ich mein Einreiseformular nicht richtig ausgefüllt hatte. Ein anderes Mal durchleuchteten die Zollbeamten meinen Koffer und wussten nicht, was sie mit dieser seltsamen rosafarbenen Flüssigkeit anstellen sollten (sie hätten damit gurgeln können, denn es war doch nur ein Mittel gegen Halsschmerzen).

Ein anderes Mal kamen drei Grossraumflugzeuge gleichzeitig in Shanghai an, entsprechend viele Menschen warteten auf Einreise.

(Die Angst, zwei Stunden in einer Menschenmenge herumstehen zu müssen und nicht zur Toilette gehen zu können ...)

Doch Überraschung: Für einmal war der Beamte von vorbildlicher Effizienz, nach wenigen Sekunden war ich eingereist. Dann das übliche Warten aufs Gepäck.

(Die Angst, das Gepäck sei von Dubai nicht nach Shanghai geflogen, sondern nach Timbuktu ...)

Die Taxifahrt ins Hotel verlief wie so oft in Shanghai: Haarsträubende Fahrmanöver in jeder Sekunde, endloses Gehupe, und der Fahrer rollte brav – zum falschen Ziel.

Als ich die ersten Schilder «Hongqiao Airport» sah, zwang ich den Fahrer, seinen klapprigen VW zu stoppen. Eine sachdienliche Diskussion am Strassenrand fanden die Passanten hoch interessant, besonders meine schweizerdeutschen Kraftausdrücke.

Ich zeigte erneut meine Karte (mit chinesischen Schriftzeichen versehen, natürlich), der Fahrer beteuerte erneut, er habe alles verstanden (wie schon am Flughafen).

Das ausführliche Kartenstudium des Chauffeurs (samt zeitlupenschnellen Nachfahrens von Strassenlinien mit gelblich verfärbten, Dracula-langen Nägeln) gab Gelegenheit, den ganz normalen Strassenwahnsinn von Shanghai zu verinnerlichen.

Schweinehälften, die träge auf den Gepäckträgern von Rollern wippten, schwer beladene Fahrräder, den Gesetzen der Schwerkraft trotzend, Lastwagen, die sich rauchend und ächzend vorwärts schleppten, ein kurzer Blick aufs Fahrgestell zeigte – hier ist ein Rostdurchbruch nur noch eine Frage der Zeit.

Mit etwas Verspätung erreichte ich mein Hotel, dann Einchecken.

(Die Angst, dass mit der Reservierung etwas schiefgegangen sein könnte und ich gar kein Zimmer habe ...)

Es folgte Arbeit für SPEEDWEEK.com, dann ein schnelles Abendessen.

(Die Angst, dass die Chinesen meine Bestellung eines «hot dog» falsch verstehen könnten ...)

Irgendwann fiel ich ins Bett, natürlich nicht, ohne vorher den Wecker gestellt zu haben.

(Die Angst, zu verschlafen und den Media-Shuttle zu verpassen ...)

Letztlich ging unterm Strich das Meiste gut, und kleinere Pannen gehören nun mal zum Reisen.

Der besagte Teambesitzer löste das alles auf seine Weise: Er flog gar nicht erst nach China.


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