Rennabsage, Schlägerei, Knast und dann Windstärke 10
Tommy Kunert und Marco Hundsrucker 1996 auf einem 1000er-Gespann in England
Die 1000er-Seitenwagenklasse, Mehrzylinder bis 180 PS, in England, Australien und Neuseeland seit Jahrzehnten erfolgreich Standard, wurde Mitte der 1990er-Jahre auch in Deutschland bekannt. Der bekannte Grasbahn-Promotor Ian Barclay (†) und später auch Ex-Grasbahncrack Lew Coffin (†), brachten britische Teams für Demonstrationsläufe auf deutsche Bahnen. Zu wirklichen Rennen ist es aber in der Folge aus verschiedenen Gründen in Deutschland nicht gekommen (Speedweek.com berichtete zuletzt am 8. April 2021 ausführlich darüber).
Es gab damals deutsche Gespann-Piloten, die sich für die 1000er interessierten. Die mehrfachen Europameister Thomas Kunert und Josef Onderka erwägten ernsthaft einen Einstieg in diese spektakuläre Seitenwagenklasse und auch der Hainburger Peter Murmann war den Mehrzylindern nicht abgeneigt.
Ende Oktober 1996 sollte dann wieder das renommierteste englische Grasbahnrennen, die «Ace of Aces», im kleinen Dorf Middle Wallop (Stockbridge) in der Grafschaft Hampshire stattfinden. Race-Director Ian Barclay hatte dazu deutsche Teams eingeladen, an der Qualifikation zum bestbesetzten Rennen Englands teilzunehmen. Die 1000er-Gespanne sollten vom Veranstalter gestellt werden.
So fuhren «Tommy» Kunert und Beifahrer Marco Hundsrucker samt Mechaniker Guido «Disco» Stettner sowie Peter Murmann mit Beifahrer Jürgen Ewig in Richtung Calais, um anschließend mit der Fähre nach Dover überzusetzen. Von dort bis zur Rennbahn in Stockbridge waren es dann noch knapp 240 km.
Das Training mit dem zur Verfügung gestellten Gespann erwies sich jedoch für beide Teams als dermaßen enttäuschend, dass sie auf die Qualifikationsläufe am Samstag verzichteten. Die gesamte Seitenwagen-Elite der Insel war angereist und alle Teams, «heiß wie Frittenfett» auf dieses Spektakel, benötigten ihr eigenes Material.
Nur der Brite Terry Phillips stellte sein Speedway-Bike zur Verfügung, welches Kunert und Murmann zur Quali benutzen sollten. Das hatte aber keine Federung, dadurch schaukelte sich die Yamaha FZR auf dem rauen Kurs auf und war nur schlecht zu stabilisieren, wie Kunert später beteuerte. Am Ende war’s egal, denn am Sonntag wurde das Rennen wegen der nächtlichen schweren Regenfälle abgesagt.
Also außer Spesen nichts gewesen? Von wegen, denn für die Deutschen hätte der England-Ausflug fast noch ein ganz böses Ende genommen. Was war passiert? Nun, da war ein Besuch im Pub, dann eine Schlägerei, ein Unfall, eine Übernachtung im Knast und dann eine gefährliche Überfahrt mit der Fähre durch den Kanal von Dover nach Calais bei Windstärke 10.
Aber der Reihe nach. Nach der Rennabsage saßen Kunert, Murmann und Co., sowie eine Reihe von Mitgliedern anderer Teams, unter ihnen auch «Nussknacker» Robert Barth aus Memmingen, erst einmal gemütlich zusammen in einem englischen Pub, um die Zeit bis zur Abfahrt der gebuchten Fähre «sinnvoll» zu nutzen.
Die fröhliche Stimmung war bei der deutschen Kohorte aber plötzlich schlagartig vorüber, als sie bemerkten, dass Skinheads draußen anfingen, ihre Autos zu demolieren. Kunert flitzte damals als Erster nach draußen, hatte aber auf seine Frage, was das denn wohl bedeuten solle, gleich eins über den Schädel bekommen.
Peter Murmann ließ sich anschließend nicht lumpen, streckte den Typen mit einem Faustschlag nieder und lief hinter den anderen her. «Disco» Stettner nahm auch seine Beine in die Hand sowie einen Hocker, den er einem von den Briten ins Kreuz pfefferte. Der schaffte es dann gerade noch, über die Straße zu rennen.
Nein, nicht ganz, denn seine feigen Kumpels, die mit dem Auto flüchten wollten, kachelten ihren Kameraden dabei unglücklicherweise um und begingen anschließend auch noch Fahrerflucht. Die herbeigerufene Polizei entschied sich dann aufgrund der unübersichtlichen Situation erstmal dazu, die «Foreigners» Kunert, Murmann und «Disco» in den Knast zu verfrachten.
Wie sich anschließend herausstellte, waren die Übeltäter polizeibekannte englische Fußball-Hooligans, die die deutschen Kfz-Kennzeichen zum Anlass genommen hatten, die Transporter zu demolieren. Trotzdem dauerte es bis Montagnachmittag, also fast 24 Stunden, ehe Kunert, Murmann und Stettner aufgrund der eindeutigen Beweise ihrer Unschuld wieder freigelassen wurden.
Das war aber noch nicht das Ende der Geschichte, denn jetzt kam der Hurrikan Lili mit ins Spiel, der zwei Briten tötete und insgesamt Sachschäden in Höhe von 150 Million Pfund auf der Insel anrichtete.
Marco Hundsrucker erinnerte sich jetzt im Gespräch mit SPEEDWEEK.com an die Ereignisse zurück: «Nachdem wir die drei nach der Entlassung aus dem Knast wieder aufgesammelt hatten, mussten wir uns beeilen, um die Fähre nicht zu verpassen. Zum Essen sind wir bei der ganzen Aufregung nicht gekommen und so hatten alle Hunger ohne Ende. Als wir die Fähre endlich erreicht hatten, haben wir im dortigen McDonalds erstmal ordentlich zugelangt. Das hat sich dann später als gar nicht so gut erwiesen, denn die Überfahrt war der Horror, solch ein Sturm, Riesenwellen, das Schiff ist hin- und hergerollt, der Wahnsinn. Das Geschirr ist aus den Auslagen gefallen und wir haben stundenlang auf dem Boden gesessen, da die Fähre nicht in den Hafen einlaufen durfte.»
Peter Murmann sagte damals nach der glücklichen Rückkehr: «Die Überfahrt mit der Fähre war der Horror schlechthin. Um 20.45 Uhr sind wir in Dover ausgelaufen, sind im Kanal hin- und hergekreuzt und konnten erst am nächsten Morgen gegen 6 Uhr mit einer total demolierten Fähre in Calais einlaufen. Ich hatte wirklich Angst, mit dem Kutter abzusaufen. Damals habe ich gedacht, nie mehr England.»
Nachruf:
Peter Murmann starb am 28. Dezember 2020 plötzlich und unerwartet. Der Hainburger, beruflich beim dortigen Bauamt in leitender Position tätig, wurde nur 58 Jahre alt. Er war ein Motorsportler durch und durch. Seine vielfältigen motorsportlichen Aktivitäten begannen im Jahr 1980. In der Saison 1995 fuhr er zusammen mit Beifahrer Stefan Müller (†) hinter Thomas Kunert/Wolfgang Maier (D) auf Platz 2 der Grasbahn-Seitenwagen-EM in Melsungen. Eine sportliche Heimat fand Peter Murmann in den letzten Jahren bei der DHM (Deutsche Historische Motorradmeisterschaft), wo er mit seiner 750er Suzuki aus dem Jahr 1992 in der B-Klasse erfolgreich unterwegs war.