MX Jahresrückblick 2022-1: Der Triumph von Ken Roczen
Ken Roczen gewann 2022 den Auftakt der Supercross-Saison
Das zu Ende gehende Jahr 2022 markierte das lange herbeigesehnte Ende der Corona-Pandemie. Die damit verbundenen Irrungen, Wirrungen und Beschränkungen, die uns mehr als zwei Jahre lang in Schach gehalten haben, sind Geschichte. So gab es mit dem Beginn der Motocross-Saison 2022 nur noch vereinzelte Beschränkungen öffentlicher Veranstaltungen und die Rennen konnten ab dem Frühjahr wieder vor gefüllten Zuschauertribünen im Freien stattfinden, nachdem in Deutschland schon zum zweiten Mal in Folge die komplette Supercross-Saison abgesagt werden musste.
In den USA begann am 8. Januar die Supercross-Saison 2022 mit einem Paukenschlag, denn Ken Roczen gewann den Saisonauftakt in Anaheim, obwohl er sich Ende Dezember noch ziemlich krank fühlte. Tausendsassa Kai Haase qualifizierte sich bei seinem ersten US-Einsatz prompt fürs Abendprogramm, stürzte aber sowohl im Vorlauf als auch im LCQ nach unverschuldeten Kollisionen. Der Berliner brach sich danach beim Training den Fuß und musste seine bis dahin erfolgreiche US-Mission vorzeitig abbrechen.
Schon eine Woche später ging auch Ken Roczen in den Whoops von Oakland heftig zu Boden. Sein Teamkollege Chase Sexton touchierte ihn dabei heftig am Kopf und zerstörte seinen Helm. Roczen war angeschlagen, doch er biss auf die Zähne und konnte im Rennen antreten. Doch dieser Zwischenfall nagte am Selbstvertrauen und auch am Vertrauen in sein Fahrwerk. Beim nächsten Rennen in San Diego strauchelte er erneut - wieder in den Whoops. 2018 erlebte er hier seinen zweiten Horrorcrash mit Cooper Webb und wurde damals verletzt aus dem Petco Parc abtransportiert. Wer aber Ken Roczen Ende des Jahres bei der Supercross-WM und beim Supercross Paris erlebt hat weiß, dass das Waschbrett nun einmal seine große Stärke ist. Heute wissen wir, dass er zu Saisonanfang kein Vertrauen mehr zu seinem Fahrwerk finden konnte.
Ende Januar wurde der Deutsche im Rennen von Anaheim-2 in Führung liegend von Jason Anderson abgeräumt, wodurch er sogar auf Tabellenrang 9 zurückfiel, während der spätere Champion Eli Tomac (Yamaha) hier seinen ersten Saisonerfolg feierte.
In Glendale ging Anfang Februar das erste Triple Crown Event des Jahres über die Bühne. Roczen fühlt sich auf der Werks-Honda nicht wohl, so dass er einen kompletten Neuanfang versucht und zum Vorjahres-Setup zurückkehrt, während Tomac erneut gewinnt. Zum nächsten Rennen reist sogar der Präsident von American Honda, Noriya Kaihara, nach Anaheim, um sich selbst ein Bild vom Zustand seines HRC-Werksteams zu machen. Was der Präsident dort erlebt, ist eine Katastrophe, denn der beste Honda-Fahrer des Abends kommt nicht aus den eigenen Reihen! Bester Honda-Pilot des Abends wird Vince Friese im 250er Finale. Privatier Friese ist mit 31 Jahren dazu noch einer der ältesten Fahrer im Feld. In Minneapolis stürzt Roczen erneut und kann mit P8 nur noch Schadensbegrenzung betreiben. Beim nächsten Triple Crown Event von Arlington erwischt es Roczen wieder in den Whoops und er wird nur auf P13 gewertet.
Allen ist klar: Roczen steckt Ende Februar in einer schweren Krise. Vater Heiko Klepka und der Fahrwerksspezialist Rolf Ringwald machen sich aus Europa auf den Weg nach Florida, um zu retten, was noch zu retten ist. Doch sie kommen zu spät. Nach dem nächsten Rennen in Daytona, Lauf 9 von 17, zieht der Deutsche am 9. März endgültig die Reißleine und legt bis zum Beginn der Motocross-Saison Ende Mai eine Pause ein.
Anfang Februar fällt in der WM die Vorentscheidung. Jeffrey Herlings gewinnt das Vorsaisonrennen in Toledo. Er stürzt beim KTM-Fotoshooting in Red Sand und bricht sich dabei den Fuß. Herlings muss Anfang Februar operiert werden und die Motocross-WM soll am 20. Februar in England beginnen. Zwar verbreitet das KTM-Team zu diesem Zeitpunkt noch Zweckoptimismus, Herlings habe schließlich auch nach Ausfällen schon Meisterschaften gewonnen, doch die Verletzungen, die noch von früheren Unfällen Probleme bereiten, sind zu schwer. Herlings wird die gesamte Saison 2022 aussitzen und das Feld Anderen überlassen müssen.
Dass der Wintermonat Februar kein besonders guter Zeitpunkt für ein Rennen auf den verregneten britischen Inseln ist, zeigt der Reality-Check. Sturmtief Eunice fegt über England und reißt das halbe Fahrerlager in Stücke. Das Vorzelt von F&H Kawasaki wurde komplett zerstört. Auch der eilig zusammengestellte Notfallzeitplan wird binnen weniger Stunden zu Makulatur. Der Saisonauftakt in Matterley Basin ist nicht durchführbar und wird um eine Woche verschoben. Der französische MX2-Weltmeister und MXGP-Aufsteiger Maxime Renaux (Yamaha) gewinnt überraschend das Qualifying. Im Rennen setzt sich dann erwartungsgemäß der favorisierte Tim Gajser (Honda) durch und legt damit den Grundstein für seinen 5. Titelgewinn.
Der für Anfang Mai geplante WM-Lauf im russischen Orlyonok wird wegen des eskalierenden Krieges in der Ukraine von der FIM aus dem Kalender gestrichen. Allen russischen und belorussischen Sportlern wird vom Weltverband die Teilnahme an internationalen Wettkämpfen untersagt, selbst wenn sie seit Jahrzehnten außerhalb Russlands im Ausland leben. Betroffen sind unter anderem Grand-Prix-Sieger Evgeny Bobryshev, MXGP-Pilot Vsevolod Brylyakov und der junge EMX-Pilot Nikita Kucherov. Ihre internationalen Karrieren sind durch diese Entscheidung de facto beendet.
Tim Gajser hat in der MXGP-WM kaum Konkurrenz und ist nicht aufzuhalten. Er gewinnt auch den Mantova-Grand-Prix in Italien und den ersten Übersee-Grand-Prix in Argentinien. Erst beim 4. WM-Lauf in Portugal Anfang März kann Jorge Prado den schnellen Slowenen bezwingen, aber schon in Trentino, im lettischen Kegums und in Maggiora schlägt Gajser mit eindrucksvollen Doppelsiegen zurück. Zu diesem Zeitpunkt hat Gajser in der WM-Tabelle schon einen Vorsprung von 81 Punkten. Es folgt die brutale Hitzeschlacht im Sand von Riola Sardo auf Sardinien Mitte Mai. Calvin Vlaanderen holt auf der privaten Gebben van Venrooy Yamaha den Grand-Prix mit einem erstaunlichen Doppelsieg und sorgt damit für eine der wenigen Überraschungen der WM-Saison 2022.