Lorenzo & Yamaha: Epilog einer großartigen Geschichte
Der Grand Prix von Valencia beendete die Geschichte von Lorenzo und Yamaha vorerst. Es waren neun sehr intensive Jahre. Es war wie ein Mikrokosmos des Lebens, mit Freude und Sorgen, Liebe und Feindseligkeiten. Doch wenn wir die involvierten Menschen fragen, ob sie etwas anders machen würden, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnten: Sie würden nichts ändern!
Das Leben ist keine Geschichte von gut und schlecht, nicht alles ist schwarz oder weiß. Das Leben ist voller Grauzonen. Im Leben eines Sportlers, vor allem wenn es um jemanden auf dem höchsten Level wie bei Jorge Lorenzo geht, trifft dies meist noch mehr zu. Am Ende der Beziehung zwischen Lorenzo und Yamaha können beide Seiten ohne Ärger, aber mit viel Zufriedenheit zurückblicken. Das alles war es wert, ohne Zweifel. Doch das Leben geht weiter und neue Interessen machten die Zusammenarbeit nicht länger möglich.
Lorenzos Zeit bei Yamaha war nicht immer einfach. Man muss das Geschick seines damaligen Managers Dani Amatriaín loben, der Lorenzo in dieselbe «Box» einschleuste, die Valentino Rossi beschlagnahmt hatte. Dort hatte sich Rossi bisher immer ungefährlicher Kollegen erfreut. In der 500-ccm-Klasse hatte er ein Team für sich, danach teilte er sich die Box mit Tohru Ukawa (2002), Nicky Hayden (2003), Carlos Checa (2004) und Colin Edwards (2005-2007). Keiner von ihnen schien Valentino zu stören.
Rossi empfing Lorenzo mit einer seltsamen Art von «Gastfreundschaft». Er ließ eine Trennwand in der Box zwischen ihm und seinem neuen Teamkollegen ziehen. Ein ungewöhnlicher Schachzug, der mit einer banalen Ausrede begründet wurde: Rossi fuhr Bridgestone-Reifen, während Lorenzo auf Michelin unterwegs war.
Ab dem ersten Tag bewies Lorenzo, dass er nicht nur ein Lehrling oder ein Fahrer auf der Durchreise war: drei Pole-Positions in den ersten drei Rennen, immer auf dem Podest und der erste Sieg sowie die WM-Führung in Portugal, dem dritten Rennen. Das war ein Beweis seiner Absichten. Was als nächstes passierte: Der erst kürzlich 21 gewordene und temperamentvolle Lorenzo musste für seine Verwegenheit mit einem schrecklichen Sturz in China bezahlen. Es folgten weitere Anfängerfehler, die dafür sorgten, dass er nicht zum Dolch in Rossis Herz wurde. Rossi war zufrieden, nachdem er in der Corkscrew von Laguna Seca mit seinem nun berühmt-berüchtigten Überholmanöver dann auch noch den Willen von Casey Stoner gebrochen hatte. Lorenzo wurde aber immerhin «Rookie of the Year».
Valentino erzielte fünf Siege in Folge und wurde in Japan drei Rennen vor dem Saisonende Weltmeister. Yamaha feierte diesen denkwürdigen Sieg auf der Heimstrecke ihres größten Konkurrenten, sie genossen jeden Moment. Das waren extrem glückliche Zeiten. Ein hocherfreuter Lin Jarvis glaubte an eine außergewöhnliche und fast unwirkliche Zukunft. «Sie [Rossi, Lorenzo und das Yamaha-Team] machen meinen Job sehr einfach, denn wir haben eine exzellenten Champion, den besten Rookie der Weltmeisterschaft, ein exzellentes Team unter der Führung von Davide Brivio und der technischen Aufsicht von Jeremy Burgess und außerordentliche Ingenieure, die von Masao Furusawa koordiniert werden. Und ich muss nur sicherstellen, dass sich alles weiterhin vorwärts bewegt», erklärte ein glücklicher Jarvis damals in Motegi.
Die Wahrheit ist, dass es alles nicht so einfach war, oder doch?
2009 brachen Feindseligkeiten aus. Der ehrgeizige Lorenzo gab sich nicht damit zufrieden, die Nummer 2 im Team zu sein und wurde zum härtesten Rivalen dem Rossi bisher begegnet war. Die Welt des Rennsports ist voller Lebensweisheiten. Sätzen, die in Stein gemeißelt zu sein scheinen. Einer davon lautet: Dein Teamkollege ist der erste Gegner, den es zu schlagen gilt. Es war der Beginn eines der intensivsten Duelle in der Geschichte der Weltmeisterschaft und eines der produktivsten für Yamaha, die einige Jahre lang riesige MotoGP-Erfolge einheimsten.
Lorenzo ließ sich nicht beirren und war 2009 bereits Rossis härtester Gegner. In dieser Saison und der nächsten konnten wir eine Vielzahl von «Clashes» zwischen ihnen beobachten – jedoch mehr verbal als körperlich. Rossi griff Lorenzo damit an, dass er behauptete, der Spanier würde sein Set-up kopieren. Lorenzo antwortete: «Die Abstimmungen meiner Maschine wird von Ramon Forcada vorgenommen.» Mentale Spielchen waren immer eine von Rossi sehr gut eingesetzten Waffen, aber Lorenzo bot ihm wenig Angriffsfläche. Valentinos Verletzung 2010 in Mugello, die ihn ein paar Wochen außer Gefecht setzte und ihn auch bei seiner Rückkehr einschränkte, machte den Weg für den Spanier endgültig frei, der seinen ersten Titel in der Königsklasse sicherte.
Lorenzo betonte, mit großer Überzeugung, dass er die neue Nummer 1 bei Yamaha ist. Valentino wollte diesen Status aber nicht aufgeben und wurde sehr explizit: Entweder Lorenzo oder ich. Yamaha wählte Lorenzo. Es schien nach den ganzen Erfolgen, die Rossi ihnen eingebracht hatte, eine unfaire Entscheidung zu sein, aber Lin Jarvis dachte bei dieser Entscheidung eindeutig an die Zukunft. Er hatte einen 23-jährigen Champion und einen berühmten 32-jährigen Veteran vor sich, der sich von einer ernsthaften Verletzung erholte. Die Entscheidung war klar. Rossi wechselte am Ende zu Ducati.
Lorenzo festigte seine Position bei Yamaha in den nächsten Jahren – mit großen Erfolgen. 2012 gewann er seinen zweiten MotoGP-Titel. Seine Stärke war offensichtlich. In diesen Jahren war eine ausgeprägte Kampfeslust nicht üblich, denn die Rennen wurden meist in den ersten Runden entschieden, denn Lorenzo und Stoner (der nun für Honda antrat) hatten sich auf die Flucht nach vorne spezialisiert. Sie wurden für den Rest des Feldes uneinholbar. Das erlaubte es ihnen, augenommen eigene Fehler oder unvorhergesehene Zwischenfälle, klare Siege einzufahren. Trotzdem gab es ein paar intensive Kämpfe wie in Jerez, als ein spannender Fight zwischen Lorenzo und Dani Pedrosa entbrannte.
Lorenzos Charakter wurde in diesen Jahren gemäßigt. Er war schon sanfter, als er seinen ersten 250-ccm-Titel gewann und der Druck von seinen Schulter abfiel. Ab diesem Tag begann sich Lorenzo zu verändern. Auf seiner Reise durch die MotoGP-WM entwickelte sich der impulsive Lorenzo zu einem reifen, reflektierten und zudem sehr aufrichtigen Mann. Es war für ihn nicht immer einfach, eine Balance zu finden, denn auch neben der Strecke führte er schwierige Kämpfe. Sein Umfeld machte es ihm nie einfach. In seinen ersten MotoGP-Jahren ereigneten sich einige personelle Veränderungen: Er trennte sich von seinem Manager Dani Amatriaín Ende 2008. Der Ersatzmann, Marcos Hirsch, der zuvor sein Fitnesstrainer gewesen war, beendete die Zusammenarbeit mit ihm Anfang 2012.
Trotz dieser Turbulenzen schaffte es Lorenzo zu gewinnen. Wir können sagen, dass er wie ein Titan war, ein Überlebenskünstler. Er hatte es nie leicht – weder auf noch neben der Strecke. Doch als Rossi 2013 nach seiner frustrierenden Erfahrung mit Ducati zu Yamaha zurückkehrte, änderte sich die Situation in der Yamaha-Box dramatisch. Lorenzo und Rossi wurden keine engen Freunde, aber zumindest herrschten Höflichkeit und Respekt. Etwas, das zuvor nicht existiert hatte.
Nun war der Feind ein anderer: Marc Márquez. Nach einigen Jahren, in denen der WM-Kampf unter ihnen geblieben war, kam ein neues Talent in die MotoGP-Klasse, machte sich die Umstände zunutze und schnappte sich überraschend in der Rookie-Saison den Titel. Und dann wiederholte er den Titelgewinn 2014 mit einer noch stärkeren Leistung.
Während dieses neuen Abschnitts war Lorenzo weiter ein Mann der Top-Resultate. Er holte mehr Siege und Titel für Yamaha, aber er hatte immer mit dem Gefühl der Bevorzugung Rossis zu kämpfen. Egal, wie viel Lorenzo gewann, erhielt er nie den Status als Nummer 1. Und nach der Saison 2015, als er zum dritten Mal zum MotoGP-Weltmeister gekrönt wurde, schlug die eisige Stimmung noch eine tiefere Kluft zwischen den Yamaha-Boxen.
Der Titelkampf 2015 war spannend, denn Lorenzo holte langsam zu einem überraschend starken Rossi auf, der sich auf dem Weg zu seinem zehntel Titelgewinn befand. Doch jedes Mal, wenn der Erfolg in Reichweite kam, passierte etwas, damit Lorenzo wieder verlor, was er erreicht hatte. Dann kam das Rennen in Sepang mit seinen schrecklichen Folgen.
Lorenzo und Rossi distanzierten sich, die abgerissene Verbindung zwischen Lorenzo und Yamaha war nun fühlbar. Was die Feier einer epischen Saison für die zwei Fahrer hätte werden sollen – Yamaha gewann auch den Konstrukteurstitel und Movistar Yamaha die Teamwertung – wurde zu einer Trauerfeier. Sogar die Titel-Feierlichkeiten wurden ausgesetzt. Wer hätte sich das vorstellen können?
Lorenzo setzte seine Arbeit fort. Dann, nach einem im Privatleben stabilen Winter ohne große Veränderungen in seinem Umfeld und auf dem Höhepunkt körperlicher Fitness, war er für die Saison 2016 gewappnet. Doch die fehlende Wärme trieb ihn in die Arme eines anderen Herstellers: Ducati.
Mit einer ungewöhnlichen Dringlichkeit begannen die Vertragsverhandlungen für 2017 bereits vor dem Start der Saison 2016. Rossi war der Erste. Er unterschrieb einen weiteren Zwei-Jahres-Vertrag mit Yamaha. «Das ist gut für Rossi, dass er den Vertrag mit Yamaha verlängert hat, denn er hatte keine andere Wahl», sagte Lorenzo in Katar. «Um bei Ducati zu unterschreiben, braucht man Eier, daher denke ich, dass Lorenzo bei Yamaha bleiben wird», antwortete Rossi. Das ist sicher nicht die beste Arbeitsatmosphäre… Lorenzo dachte darüber nach, es begann ein intensives Tauziehen, das seine Leistungen aber überraschenderweise nicht beeinflusste, denn er bestand den ersten Test in Katar mit einem Sieg. Kurz darauf entschied er, zu Ducati zu wechseln. Lorenzo hatte sich auf der Suche nach noch mehr Motivation für eine neue Herausforderung entschieden.
In den meisten Situationen schwamm Lorenzo stets gegen den Strom. Ein Beispiel hierfür ist sein Großmut. Vielen ist klar, dass er trotz seiner Resultate nicht Yamahas Liebling war, aber er hegte deshalb keinen Groll gegen den Hersteller. Negative Kommentare werden meist vertragsgemäß bestraft, daher wäre es ausreichend gewesen, nichts zu sagen. Doch Lorenzo lobte Yamaha: «Als ich zu Yamaha kam, war ich der Fahrer, der noch viel zu beweisen hatte. Doch sie gaben mir dasselbe Material wie Rossi, der so viel für sie gewonnen hatte.» Das sagte er in Jerez.
«Ich denke, Yamaha hat mich nie schlecht behandelt, nicht als ich hier anfing, nicht zwischendurch und auch nicht am Ende. Sie taten, was sie für richtig hielten, ich bekam immer gute Teile und gute Motorräder. Ich bin Yamaha sehr dankbar, denn ohne sie wäre ich nicht drei Mal MotoGP-Weltmeister», erklärte Lorenzo.
Doch die Wahrheit ist, dass er stets dem Vergleich mit Valentino unterworfen war. Aber seltsamerweise hat Lorenzo die besseren Resultate eingefahren. Während der zwei Perioden, als sie sich eine Box teilten (2008-2010 und 2013-2016), gewann Lorenzo 34 Rennen, Rossi 26. Beide holten zwei Titel: Rossi 2008 und 2009, Lorenzo 2010 und 2015. (Als Rossi bei Ducati war, fuhr Lorenzo 2012 einen weiteren Titel ein.) Trotzdem war Rossi immer der Liebling von Yamaha.
Nun beginnt für Lorenzo eine neue Herausforderung, eine komplett andere Herausforderung: Ducati. Wird das der Moment des größten Drucks während deiner gesamten Karriere sein? «Druck hatte ich, als ich 15 war und noch nichts erreicht hatte. Von meinen Resultaten hing meine Zukunft ab. Nun habe ich mich etabliert, es geht um die Motivation und darum, mit einem Team Geschichte zu schreiben, mit dem selbst Casey Stoner nur einen Titel gewinnen konnte.»
Ende. Das neue Kapitel für Jorge Lorenzo begann am 15. November in Valencia.