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Andrea Dovizioso: Vom Zufallssieger zum Titelanwärter

Von Günther Wiesinger
Andrea Dovizioso beim Jerez-GP 2020: Platz 3

Andrea Dovizioso beim Jerez-GP 2020: Platz 3

Andrea Dovizioso bestreitet die achte Saison für Ducati, er hat für die Roten viel geleistet. Wir zeigen, wie er sich mit mehr als 30 Jahren noch auf ein höheres fahrerisches Niveau gehievt hat.

Der Motorradrennsport beschert uns jedes Jahr, fast jedes Wochenende, saftige Überraschungen. So ging Movistar-Yamaha-Neuling Maverick Viñales 2017 nach den Wintertests 2016/2017 als haushoher Favorit für den MotoGP-Titel in die Saison. Aber er gewann nach Le Mans im Mai kein Rennen mehr. Auch 2018/2019 ging Viñales als Winter-Champion in die Saison – und schaffte mit Ach und Krach den dritten WM-Rang.

Andrea Dovizioso ist kein Mann für die Wintertests und auch nicht für starke Leistungen in den freien Trainings an einem GP-Freitag. Er ist inzwischen erfahren und selbstsicher genug, um sein Können in erster Linie in den Qualifyings und in den Rennen in die Waagschale zu werfen. Dafür kämpfte er beim Finale in Valencia 2017 gegen Superstar Marc Márquez noch um den MotoGP-WM-Titel. Ein Fahrer, den damals vor der Saison niemand auf der Titelrechnung hatte, denn er lag nach der Saison 2016 nicht weniger als 171 Punkte hinter Marc Márquez an fünfter Stelle der WM.

Und der Italiener hatte siebeneinhalb Jahre lang von Donington 2009 bis zum Malaysia-GP 2016 kein MotoGP-Rennen gewonnen.

Andrea Dovizioso gewann zwar 2004 die 125-ccm-WM auf Honda, in der 250er-WM ging ihm der Titel durch die Lappen. Er galt dann lange Zeit als Rennfahrer, dem das gewisse Etwas fehlte, das Sieger-Gen. In der MotoGP-WM gewann «Dovi» zwar im Regen von Silverstone im Juli 2009 auf der Repsol-Honda, dann triumphierte er aber erst wieder nach sieglosen 2653 Tagen am 29. Oktober 2016 auf der Ducati im Regenrennen von Sepang. Bis dahin galt er eigentlich als hoffnungsloser Fall, wenn von den MotoGP-Titelanwärtern 2017 die Rede war. Da standen ihm Stars wie Rossi, Stoner, Lorenzo, Pedrosa und später Márquez vor der Sonne.

Kein Wunder: Ein Fahrer, der nur alle siebeneinhalb Jahre gewinnt, und dann nie auf trockener Fahrbahn, der im Frühjahr 2016 fast wegen Andrea Iannone aus dem Ducati-Werksteam geflogen wäre, der 2016 bis zum Brünn-GP in der WM hinter Ducati-Privatfahrer Héctor Barbera lag – wie sollte der gegen die wahren Stars bestehen?

Weil Ducati endlich erstmals seit 2007 (damals mit Casey Stoner) Weltmeister werden wollte, wurde für die Jahre 2017 und 2018 der Mallorquiner Jorge Lorenzo engagiert.

So drehte sich bei Ducati Corse in der Saison 2017 fast alles um den für 12,5 Millionen Euro Jahresgage eingekauften Jorge Lorenzo, um den MotoGP-Weltmeister von 2010, 2012 und 2015.

Lorenzos Verpflichtung war als klarer Misstrauensantrag an die Adresse von Iannone und Dovizioso zu verstehen. Ducati wollte endlich einen aus den «Glorreichen Vier», einen Superstar, der die Vorzüge der Desmosedici perfekt zur Geltung bringen sollte. Um jeden Preis.

Später ist durchgesickert, dass Andrea Dovizioso für die Saisonen 2017 und 2018 bei Ducati sogar eine Gagenkürzung in Kauf nahm, als sich Claudio Domenicali, Gigi Dall’Igna, Paolo Ciabatti und Davide Tardozzi wochenlang nicht darüber klar wurden, ob sie für 2017 den schnelleren Iannone oder den beständigeren Dovizioso an die Seite von Lorenzo stellen sollten.

«Dovi» dürfte bei einer Gage von 1 bis 1,5 Millionen eingewilligt haben. Iannone gab sich damit nicht zufrieden, er wechselte lieber für 3 Mio im Jahr zu Suzuki.

Dovizioso ließ sich durch das Gehältsgefälle gegenüber Lorenzo nicht zermürben. Er konnte ohne Druck in die Saison starten, das Scheinwerferlicht bei Ducati war auf Lorenzo gerichtet, der zeitweise stark schwankende Leistungen zeigte und bald klar im Schatten von «Dovi» stand.

Andrea Dovizioso – kein Typ für Glamour

Im Gegensatz zum schillernden Iannone ist der WM-Zweite Andrea Dovizioso eher bodenständig. Er lebt zurückgezogen, er meidet Privatjets, lebt sparsam, fährt lieber im Privatauto von Forli nach Brünn und Spielberg, hat eine zehnjährige Tochter, sich aber früh von der Mutter getrennt und ist seit Jahren mit Anthony Wests ehemaliger Freundin Alessandra Rossi liiert, ein ehemaliges Grid-Girl.

Während zwischen Dovis erstem und zweitem MotoGP-Triumph 2653 Tage verstrichen, feierte er die Siege Nr. 3 und 4 in der Saison 2017 innerhalb von acht Tagen – im Juni 2017 in Mugello und Barcelona.

Seither hat der Ducati-Held sieben weitere Siege eingesammelt, den letzten beim WM-Finale in Valencia 2018.

Der 33-jährige Italiener, 2004 Weltmeister in der 125-ccm-Klasse auf Honda, schreibt einen großen Anteil an diesen Erfolgen seinem neuen Mentaltrainer Amadeo Maffei und dem verlässlichen Umfeld zu.

Denn Körper und Geist, Instinkt und Rationalität spielen im Spitzensport eine wichtige Rolle – manchmal ist der Sieg eine Frage des Gleichgewichts. Vor allem für Andrea Dovizioso.

Wie eine Pflanze, die sich davor wehrt, sich dem Sonnenlicht zu beugen, wehrt sich Dovi gegen seine Gegner. In seinen ersten neun Jahren in der MotoGP hat er genau ein Rennen gewonnen. Jetzt hält bei elf MotoGP-Siegen – und hat Márquez bei den direkten Duellen in Spielberg 2017, Motegi 2017, Doha 2018 und Spielberg 2019 knapp und spektakulär besiegt.

Die Metamorphose vom verlässlichen Platzfahrer zum Siegertypen und WM-Favoriten ist unübersehbar.

Die Wandlung im Winter 2015/2016

Alle Fans und Gegner fragen sich, wie das neue Erfolgsgeheimnis des Ducati-Stars aussieht. «Dovis Entwicklung hat nicht während der letzten zwei Jahre stattgefunden, sondern im Winter zwischen 2015 und 2016», enthüllt Simone Battistella, Doviziosos Manager seit 15 Jahren.

Wir erinnern uns: Die Ducati Desmosedici offenbarte damals immer noch technische Mängel und Schwächen. Für 2015 und 2016 kam ausserdem Eindringling Andrea Iannone neu ins Team, quasi Dovis neuer natürlicher Feind.

Battistella: «Diese Situation hat eine Reaktion erfordert. Andrea ist nicht der Typ, der eine Szene macht. Darum hat er an den Details geschliffen und gefeilt.»

Die körperliche Fitness wurde in Zusammenarbeit mit den beiden Francescos verbessert: Chionne, dem Physiotherapeuten, und Cuzzolin, dem Sporttrainer.

Der MotoGP-WM-Titelanwärter von Ducati hat eine Leidenschaft fürs Motocross und Kartfahren. So hielt er sich während der vielen Jahre fit. Doch vor dem Jerez-GP 2020 ging ein Cross-Abenteuer schief: Dovi zog sich bei einem regionalen MX2-Rennen einen Schlüsselbeinbruch zu.

In den letzten Jahren hat sich Dovi nicht nur energisch um seinen Körper gekümmert, sondern auch um seinen Geist. Eugenio Lizama ist ein Sportpsychologe, der mit vielen Stars im Motorsport zusammengearbeitet hat. Auch bei Amadeo Maffei und Bruno Demichelis handelt es sich um zwei Psychologen, die sich in den letzten Jahren immer in Andreas Nähe befanden.

Für einen Rennfahrer ist es wichtig, das Gehirn zu trainieren, um die Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Aber es geht auch darum, sich mental auf Schwierigkeiten vorzubereiten, die einen Fahrer auf die Probe stellen und aus der Bahn werfen können. «Ich habe verstanden, dass man keine Ausreden für die eigenen Fehler suchen muss, sondern dass man sie aufspüren und beseitigen muss», hat Dovi wiederholt gesagt.

Dovizioso will in den letzten Jahren seiner Karriere nicht mehr die Komparsen-, sondern die Hauptrolle spielen. Sie liegt ihm inzwischen im Blut. Der Weg nach ganz oben hat begonnen, als er sich bewusst wurde, dass es in seiner motorsportlichen Karriere noch Spielraum für Wachstum gibt.

Deshalb hat sich «Dovi» 2017 und 2018 auch gegen Jorge Lorenzo durchgesetzt, er blieb die Nummer 1 bei Ducati, Danilo Petrucci wurde für 2019 und 2020 sein neuer Teamkollege.

Dovi und die Ducati haben nicht nur den Anfangsbuchstaben des Namens gemeinsam, sondern auch die Kapazität zu träumen und die Gegner zum Zittern zu bringen. Aber momentan sind die Verhandlungen für 2021 ins Stocken geraten. Doch Ducati-Sportdirektor Paolo Ciabatti sagt: «Ich hoffe, dass Andrea die zehn Ducati-Jahre bis Ende 2022 voll macht.»

Dovizioso ist selbstbewusst geworden: «Ich bin gefährlich, aber ich kann mich noch weiterentwickeln.»

Yamaha ist zwar sehr stark gworden, aber Serien-Weltmeister Marc Márquez ist nach der Oberarm-OP angeschlagen, seine Honda wirkt nicht so konkurrenzfähig wie 2019.

Nach drei zweiten WM-Rängen 2017, 2018 und 2019 hoffen Dovi und Ducati auf den ersten WM-Titel für die Roten seit Casey Stoner 2007.

Das ist aber die letzte, großer Herausforderung des roten Mannes.

Und niemand mag sich vorstellen, dass die fruchtbare Zusammenarbeit von D&D nach dieser Saison zu Ende geht.

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