Cal Crutchlow: Warum wir ihn vermissen werden
Cal Crutchlow
Seit der Saison 2016 haben renommierte MotoGP-Stammfahrer wie Bradl, Bautista, Redding, Smith, Pedrosa, Iannone, Lorenzo und jetzt Dovizioso und Crutchlow ihre Jobs verloren. Die meisten dieser Arbeitsplätze fielen dem Jugendwahn zum Opfer. Nur Valentino Rossis Arbeitsstelle bleibt ungefährdet, auch wenn er dieses Jahr sechsmal in Serie (bei zwei Rennen zweimal fehlte er als Corona-Opfer) punktelos blieb und die WM auf dem trostlosen 15. WM-Platz beendete. Sein letzter Sieg (25. Juni 2017) liegt mehr als dreieinhalb Jahre zurück, sein letzter Titelgewinn elf Jahre.
Mit 35 Jahren muss sich jetzt auch Cal Crutchlow mit der Rolle des Testfahrers abfinden, er übernimmt diesen Job bei Yamaha von Jorge Lorenzo. Der Engländer erhitzte mit seinen Aussagen oft die Gemüter, er eckte mit undiplomatischen Sprüchen an, seine Kommentare waren manchmal witzig und unterhaltsam, manchmal eher peinlich. Bei den Media Debriefs nahm sein Geschwafel manchmal kein Ende, er plapperte 18 Minuten lang und merkte nicht, dass er sich nach zwei oder drei Minuten zum ersten Mal widersprochen hatte.
Die britischen Reporter hingen jahrelang dankbar an seinen Lippen, kritische Fragen waren nicht vorgesehen, Cal kanzelte manche Berichterstatter gnadenlos ab, wenn er mit deren Fragen oder Ansichten nicht einverstanden war.
Niemand stellte die Frage, warum seine Beliebtheitswerte in Großbritannien selbst nach drei MotoGP-Siegen noch arg zu wünschen übrig ließen. Niemand getraute sich zu erkunden, warum er 20913 bei Ducati dauernd über das Bike lästerte, obwohl sein Teamkollege Dovizioso dauernd 1 oder 1,5 sec schneller war. Und bei Honda kam er über zwei siebte Gesamtränge nicht hinaus. Sein LCR-Honda-Vorgänger Stefan Bradl hatte mit 22 Jahren in der MotoGP-.Klasse schon einen achten WM-Rang erzielt, in den folgenden Jahren wurde er Siebter und Neunter.
Cal Crutchlow schaffte es in der «premier class» nie in den Kreis der Titelanwärter. Er war kein Naturtalent, aber ein harter Arbeiter, ein Konditionswunder, risikofreudig, furchtlos, sturzfreudig, verletzungsanfällig.
Die britischen Medien waren dankbar, denn er entpuppte sich nach Barry Sheene (500-ccm-Weltmeister 1976 und 1977) und Jahrzehnten der Schmach als erster Engländer, der Podestplätze und Siege in der Königsklasse zustande brachte und in die Übermacht aus Italien und Spanien einbrach.
Im Sommer 2018 begann Cal Crutchlow in Interviews über seinen «letzten HRC-Vertrag» zu reden. Er räumte beim Silverstone-GP 2019 ein: «Ich bin über eine einzelne Runde langsamer geworden.»
Danach zog er sich im Training zum Australien-GP einen Trümmerbruch im Knöchel zu, dieser Vollgas-Crash in Turn 1 hätte beinahe sein Karriereende bedeutet.
Cal gewann danach nie mehr ein Rennen. Er schaffte 2019 nur noch einen zweiten und einen dritten Platz, für Siege erreicht es nicht mehr. Und auf seinen Honda-Teamkollegen Marc Márquez verlor er als WM-Neunter bedenkliche 287 Punkte.
Cal Crutchlow betonte jetzt, es sei seine eigene Entscheidung gewesen, seine Karriere als Stammfahrer zu beenden. Aber da ist er wieder einmal sparsam mit der Wahrheit umgegangen. Denn er bewarb sich vor einem Jahr bei Repsol-Honda vehement um den Platz von Jorge Lorenzo, blitzte aber genauso ab wie nach dem Pedrosa-Abschied nach der Saison 2018, als ihm Lorenzo vorgezogen wurde.
Im vergangenen Mai machte sich Cal wieder Hoffnungen auf den Repsol-Platz, aber er zog gegen Pol Espargaró den kürzeren. «Der hat in acht Jahren noch keinen Podestplatz errungen», wetterte Crutchlow.
Danach begehrte Crutchlow den Pol Espargaró-Platz bei KTM, er verhandelte mit Aprilia und fragte bei Ducati wegen des Sitzes von Dovi an. Doch die Roten erinnerten sich wohl an 2013, als Crutchlow die Desmosedici trotz seiner Millionengage täglich rufschädigend durch den Kakao zog.
Seither galt er für ein Werksteam als schwer vermittelbar.
Cal Crutchlow versicherte jahrelang, welch großen Anteil er an der Entwicklung der Honda RCV213V hatte. Gleichzeitig beschwerte er sich über zu wenig Power (2018) oder über zu wenig Feeling für den Vorderreifen (2019) oder alles Mögliche (2020).
Jedenfalls hätte Cal seit Juli 2020 die einmalige Möglichkeit gehabt, sich als Honda-Teamleader zu profilieren und die schwächelnde RC213V wieder konkurrenzfähig zu machen. Aber er stürzte oft, verletzte sich mehrmals, schaffte als bestes Ergebnis einen achten Platz und sackte in der WM-Tabelle auf Platz 18 ab.
Trotzdem: Mit Cal Crutchlow wurde einem Berichterstatter nie langweilig, sein Unterhaltungswert konnte sich sehen lassen, er nahm kein Blatt vor den Mund, auch wenn manchmal Unsinn zum Vorschein kam. Zum Beispiel: «Spielberg ist so gefährlich wie die Tourist Trophy. Jede einzelne Kurve ist zu gefährlich.»
Manchmal wurde ich den Eindruck nicht los: Ein flotter Spruch befriedigte ihn manchmal mehr als eine schnelle Rundenzeit.
Man muss neidlos anerkennen: Der Supersport-Weltmeister von 2009 hat trotz mancher Schwächen der WM seinen Stempel aufgedrückt und sich nach den schlimmen Verletzungen immer wieder an die Spitze zurück gekämpft.
Cal Crutchlow ist ein Mensch mit Ecken und Kanten, er polarisiert, er pfeift auf «political correctness», er wird auch bei Yamaha für Unterhaltung sorgen.
Auch wenn uns Cal manchmal mit seinem selbstverliebten Eigenlob alle genervt hat: Er hat sich als verlässlicher Schlagzeilen-Lieferant immer wohltuend von den langweiligen Phrasendreschern seiner Zunft abgehoben. Deshalb wird er uns fehlen.
Die MotoGP-Karriere von Cal Crutchlow
2011: WM-12. auf Yamaha, 70 Punkte
2012. WM-7. auf Yamaha, 151 Punkte
2013: WM-5. auf Yamaha, 188 Punkte
2014. WM-13. auf Ducati, 74 Punkte
2015. WM-8. auf Honda, 125 Punkte
2016. WM-7. auf Honda, 141 Punkte
2017. WM-9. auf Honda, 112 Punkte
2018. WM-7. auf Honda, 148 Punkte
2019: WM-9. auf Honda, 133 Punkte
2020: WM-18. auf Honda, 32 Punkte