Exklusiv: Was die «Reifenhexe» zu sagen hat
Anne Mühlemeier, Schwester der Autorin Suse Mühlemeier, war als Fahrwerkstechnikerin im Auftrag von alpha Racing unterwegs und begleitete unter anderem Markus Reiterberger zu seinen Einsätzen bei der Asiatischen Superbike Meisterschaft ARRC. Im Sommer 2023 verlor sie bei einem Motorradunfall ihr Leben – und ihre Schwester machte sich auf, hinter die Kulissen der Motorsport-Welt zu blicken. Mit dem Fokus auf Frauen.
Exklusiv bei SPEEDWEEK.com werden schon vor dem offiziellen Starttermin des Buches mit dem Titel «Bikeberufene» erste Kapitel veröffentlicht.
Sofia – Die Reifenhexe
«Ich bin studierte Chemikerin und seit über 30 Jahren bei Michelin. Ich war im Fahrradrennsport, habe Tischtennisschläger gemeinsam mit einem französischen Top-Athleten entwickelt und habe auch ein Patent auf eine Schuhsohle für Arbeitssicherheitsschuhe. Das alles habe ich im gleichen Unternehmen machen können, aber es stimmt schon, dass ich mir immer so meine Nischen gesucht habe und immer nah am kompetitiven Sport dran war. Was mir daran immer gut gefallen hat, ist die Geschwindigkeit. Die Funktionsweise passt zu mir. Du kannst nicht zehn Jahre warten, um einen neuen Reifen oder Tischtennisschläger für den Spitzensport zu entwickeln. Und vor allem jetzt an der Rennstrecke musst du manchmal richtig schnell denken können. Ich habe vor einiger Zeit mal einen Abstecher in den Tiefbau gemacht, aber ehrlich gesagt, da waren mir die Fristen zu lang.
Heute bin ich Materialentwicklerin. Mein Bereich ist die Entwicklung der letzten Schichten des Reifens, die die Rennstrecke berühren. Was ich mache, umfasst die großen Serien, wie MotoGP, nationale Serien oder auch die MotoE. Was aus Entwicklersicht auch superspannend ist, ist die Super-Motard-Serie - ein Mix aus Kartstrecke und Terrain mit entsprechend unterschiedlichen Untergrundtemperaturen. Die Reifen sind dort sehr verschiedenen Bedingungen ausgesetzt und wir lernen ständig dazu. Was wir da machen, ist ja keine exakte Wissenschaft. Wir entwickeln etwas im Labor, testen es, extrapolieren und schauen, wie es sich dann auf der Rennstrecke verhält.
Neben den technischen Herausforderungen macht es für mich an der Rennstrecke aber vor allem der Austausch mit den Fahrern und den Teams aus. Und man darf dabei nicht unterschätzen: die letzten Schichten des Reifens, die die Rennstrecke berühren, sind ein sehr emotionaler Bereich. Da kann dir schon passieren, dass ein Fahrer wutentbrannt von einer Runde zurückkommt und dir – weil du gerade zufällig in der Box bist – ins Gesicht wirft: ‚Es ist alles die Schuld deiner verdammten Scheißreifen!‘ Das nimmst du dann, steckst es in die Tasche und wartest ab, bis sich die Wogen geglättet haben, um zu verstehen, was das eigentliche Problem ist.
Viele der Fahrer sehen mich fast wie ihre Mutter. Das ist der Vorteil, wenn man schon so alt ist wie ich. Der Austausch findet ganz natürlich statt und es ist kein Geschlechterthema da. Mein Spitzname an der Rennstrecke ist La Sorcière – Hexe, und das ist respektvoll gemeint, da ich viele Dinge scheinbar zaubern kann.
Das Leben im Paddock finde ich faszinierend. Du musst dir vorstellen, abends so um 20 oder 20.30 Uhr – wenn alles fertig ist. Es ist Nacht geworden und das Lärmen der Motorräder ist vorbei, es ist ganz ruhig. Dann stehen im Paddock noch Gruppen von Leuten zusammen, alle mit unterschiedlicher Teamkleidung. Sie reden ruhig oder lachen gemeinsam. Das sind die Mechaniker und Techniker. Und obwohl sie aus unterschiedlichen Teams kommen, haben sie viele Dinge gemeinsam erlebt; sie kennen sich. Und du kannst dir sicher sein, da reden sie nicht über Motorräder. Nein. Sie berichten von der Familie, fragen nach: ‚Wie gehts den Kindern, deiner Frau? Geht der Jüngste schon in die Schule?‘ Du hast das Gefühl, dass das eine andere Welt ist als am Tag und ich finde das wunderbar.
Rückblickend auf meine Karriere, denke ich, es sind Geduld und ständige Neugier, die mich dort hingebracht haben, wo ich bin. Aber deswegen bin ich noch lange kein Rollenmodell – das ist lediglich eine Geisteshaltung.»
Wer mehr über die Frauen im Motorsport erfahren möchte, kann sich auf der Website von Suse Mühlemeier umsehen oder gleich die Bestellung für das Buch unter bikeberufene.com abgeben.