Über Esteban Ocon
Das Pilotenaufgebot von Renault 2016 durfte sich wirklich sehen lassen, denn hier fuhren lauter Meister: Der Däne Kevin Magnussen ist Formel Renault 3.5-Champion von 2013. Der Engländer Jolyon Palmer ist GP2-Champion 2014. Und der Franzose Esteban Ocon ist Formel-3-Meister von 2014 und GP3-Champion 2015.
Das Kuriose bei Ocon: Der Max-Verstappen-Bezwinger aus der Saison 2014 arbeitete zwar als dritter Fahrer von Renault, doch er besitzt einen langjährigen Vertrag mit Mercedes-Benz! Ocon hat Ende 2015 einen Langzeitvertrag im Rahmen des Nachwuchsprogramms von Mercedes-Benz unterzeichnet.
Ocon zu Beginn der Saison 2016: «Meine Karriere wird seit Ende 2014 von Mercedes gemanagt, nach dem Gewinn des GP3-Titels in Abu Dhabi wurde ich als Mercedes-Junior verpflichtet. Und das bleibt auch so, selbst wenn ich dritter Mann bei Renault bin. Ich bin Mercedes-Benz und Renault sehr dankbar, dass sie das möglich machen.»
Einer der grössten Fürsprecher für Ocon bei Renault war Frédéric Vasseur. Der Teamchef von ART Grand Prix war Steigbügelhalter zum GP3-Titel seines französischen Landmannes, später wurde Vasseur Sportdirektor im Formel-1-Rennstall, und natürlich wusste er, wie wichtig es für die Grande Nation ist, auch einen der ihren im Aufgebot zu haben.
Mit Talenten kennt sich Vasseur prima aus. Unter vielen mehr hat er bei ART gearbeitet mit: Nico Rosberg, Lewis Hamilton, Nico Hülkenberg, Jules Bianchi, Stoffel Vandoorne, Valtteri Bottas, Romain Grosjean und Sebastian Vettel.
Ocon kletterte im Eilzugtempo die Rennsportkarriereleiter hoch: Von 2006 bis 2011 fuhr er Kart, mit dem französischen Titel 2011 und EM-Rang 2 als Höhepunkte.
Ab 2012 war Ocon im Autosport anzutreffen, zudem wurde er ins Nachwuchsprogramm von Lotus-Chef Gérard Lopez aufgenommen. Ocon fuhr ein Lehrjahr in der Formel Renault, 2013 wurde er dort Gesamtdritter im Eurocup, dazu fuhr er erste Formel-3-Rennen.
In der Formel 3 startete Ocon 2014 richtig durch: Bereits beim vorletzten Rennen sicherte er sich den EM-Titel, vor Tom Blomqvist und dem vielgepriesenen Max Verstappen.
Ocon testete als Zückerchen für seinen Titel in Abu Dhabi einen Lotus und auch einen zwei Jahre alten Ferrari auf deren Hausstrecke Fiorano.
Für ART Grand Prix trat der Franzose dann 2015 in der GP3-Serie an, wo er sich im letzten Rennen der Saison in Abu Dhabi den Titel holte. Und er sass für Tests im Renner von Force India. Das sollte noch Folgen haben.
2016 war sein Terminkalender prall gefüllt: Für Mercedes sollte er als Nachfolger von Pascal Wehrlein DTM-Rennen fahren, für Renault begann er die Saison als GP-Reservist und Freitagtestfahrer. Aber im Sommer 2016 nahm Ocons Karriere eine andere Richtung: Bei Manor Racing war Rio Haryanto das Geld ausgegangen, Ocon übernahm.
Dabei schlug sich Esteban so gut, dass er im Herbst als Force-India-Fahrer für 2017 verkündet wurde. Ausschlag gegeben hatte sein oben genannter Test 2015. Das Band zu Renault ist vorderhand wenn nicht gerissen, so doch verknotet – und sein früherer Fürsprecher Fred Vasseur ist im Januar 2017 als Teamchef von Bord gegangen.
2017 führte Ocon seine Formel-1-Lehre an der Seite von Sergio Pérez fort. Und der Mexikaner spürte bald Gegenwind: Ocon kam nicht nur ständig ins Ziel (in Brasilien verhinderte Romain Grosjean die 25. Zielankunft des Franzosen in Folge), er holte auch in 20 Rennen 18 Mal Punkte! Mit fünften Rängen in Spanien und Mexiko als beste Ergebnisse eroberte Ocon den tollen achten WM-Rang.
2018 lief es nicht ganz so gut (WM-Rang 12), dennoch sind sich alle Fachleute einig: Dass ein Fahrer vom Talent Ocons 2019 keinen Stammplatz hat, das stellt der Formel 1 ein miserables Zeugnis aus. Bei Force India war nach dem Besitzerwechsel kein Platz mehr, da Co-Inhaber Lawrence Stroll natürlich seinen Sohn Lance in ein Auto setzt. Bei Williams blieb Ocon ebenfalls aussen vor. Damit erhielt Ocon für 2019 die Rolle des Reservisten bei Mercedes.
Das Ziel des baumlangen Esteban bestand immer darin, 2020 wieder Grands Prix zu fahren, Ende August 2019 bestätigte Renault – das Fahrerduo der kommenden zwei Jahre heisst Daniel Ricciardo und Esteban Ocon.
Esteban tauchte schon einmal im Gelb der Franzosen auf: 2016 war er dritter Fahrer. Abiteboul über den Vertrag von Ocon: «Wir sind sehr glücklich, dass wir in den nächsten zwei Jahren mit Esteban arbeiten können. Er hat die Höhen und Tiefen dieses Sports kennengelernt, und er versteht, dass ein Pilot jede Gelegenheit beim Schopf packen muss.»
Natürlich erwähnt Abiteboul hier mit keiner Silbe, dass er einer der Gründe dafür ist, wieso der junge Ocon 2019 kein Grand-Prix-Fahrer ist. Vor der Sommerpause 2018 gab es ein Handschlagabkommen zwischen Mercedes-Teamchef Toto Wolff und Renault-Teamchef Abiteboul. Dann erhielt der Franzose die Gelegenheit, Daniel Ricciardo zu verpflichten, griff sofort zu, und weg war die Chance für Ocon.
Wolff meinte später süss-sauer: «Ich mag Cyril. Aber wenn er ein Gentleman mit Handschlagqualität werden will, muss er erst wieder zu einem Gentleman werden. Wie wir alle wissen, war es im Vorjahr eine sehr unglückliche Situation, dass er zwischen den Stühlen gelandet ist. Er hätte sich zwei Cockpits aussuchen können, und am Ende hatte er keines.»
Abiteboul weiter: «Der innere Antrieb von Esteban ist in seinem rennfreien Jahr noch stärker geworden. Wir wollen sein Talent und seinen Ehrgeiz in die nächste Phase unseres Aufbaus investieren. Er hat gezeigt, dass er regelmässig punkten kann und wie professionell er arbeitet. Er hat als Reservist bei Mercedes-Benz sein Wissen vertiefen können.»
Ocon selber meint: «Ich bin stolz, dass ich ein Renault-Werksfahrer werde. Ich bin mit dem Werk von Enstone aufgewachsen, zunächst als Entwicklungsfahrer 2010 bei Lotus, später mit Renault. Ich fühle mich diesem Rennstall verbunden. Sie haben mir die Tür zum grossen Sport aufgestossen. Ich bin auch stolz, dass ein solcher Rennstall mir das Vertrauen ausspricht und mich wieder zum Grand-Prix-Fahrer macht. Ich werde alles daransetzen, mich für dieses Vertrauen mit guten Leistungen zu bedanken.»
Berechtigte Frage: Bleibt Ocon über ein langfristiges Abkommen an Mercedes gebunden? Antwort: nein. Mercedes bestätigt auf Anfrage von SPEEDWEEK.com: «Das Wort Leihgabe wäre in Sachen Ocon falsch gewählt.»
2019 sass Ocon also ein Jahr aus und war Reservist von Mercedes-Benz und Racing Point. Aber das Warten sollte sich für den baumlangen Esteban lohnen – Mercedes entschied sich zwar, 2020 ein weiteres Jahr auf Bottas zu setzen, dafür ersetzte Ocon bei Renault den Deutschen Nico Hülkenberg.
Ocon zeigte in der Corona-verkürzten Saison 2020 im Renault gute Leistungen und wurde solider WM-Zwölfter, mit 10 Punktefahrten in 17 Läufen und mit einem fabelhaften zweiten Platz hinter seinem früheren Stallgefährten Sergio Pérez beim Grossen Preis von Sakhir.
In einem Rennen, in welchem viele Fahrer Fehler machten, und Mechaniker und Strategen in der Boxengasse obendrein, in diesem Rennen behielt der Ocon kühlen Kopf und ergriff die Gelegenheit beim Schopf – in seinem 65. Formel-1-WM-Lauf durfte er zum ersten Mal aufs Siegerpodest, als Zweitplatzierter des Sakhir-GP hinter Sergio Pérez.
Esteban sagte im Ziel, leicht verlegen: «Ich habe so geheult im Auto, das könnt ihr euch nicht vorstellen! Ich habe nicht die leichteste Saison erlebt, oft sind Rennen nicht so verlaufen, wie ich es erhofft hatte, manchmal wegen eigener Fehler, manchmal wegen Dingen, die nicht in meiner Macht lagen.»
«Aber ich habe nie aufgegeben, ich wusste: Früher oder später kommt dieser eine Moment, und der ist jetzt da. Ich bin sehr erleichtert.»
«Bei jedem neuen Rückschlag habe ich mir gesagt: Gut, dann arbeite ich noch härter, irgendwann wird sich das alles auszahlen. Du darfst einfach nie den Glauben an dich selber verlieren.»
«Ich bin dankbar, hatte ich Daniel Ricciardo als Massstab an meiner Seite. Ich habe mich in dieser Saison an seiner Seite gesteigert, auch wenn das in vielen Rennen nicht ersichtlich wurde. Ich konnte den Abstand auf ihn Schritt um Schritt verringern. Ich bin mit meiner Entwicklung in diesem Jahr zufrieden. Aber dass ich im zweitletzten Rennen der Saison noch meinen ersten Podestplatz einfahren durfte – das ist für mich wirklich die Kirsche auf der Torte.»
2021 wurde aus dem Renault-Auftritt in der Königsklasse Alpine, mit metallic-blauen Rennwagen statt gelb-schwarzer Boliden. Ocon erhielt mit Fernando Alonso einen Superstar als Teamgefährten, aber Esteban behauptete sich – WM-Elfter mit 74 Punkten, während der Spanier Gesamtzehnter mit 81 Zählern wurde.
Beim Knaller-Ergebnis von Ocon hatte Alonso die Finger im Spiel: In Ungarn wehrte sich Fernando mit Zähnen und Klauen gegen den aufrückenden Lewis Hamilton, während, von einem Startunfall profitierend, Ocon sensationell die Spitze übernahm, wo er sich ein Rennen lang gegen Sebastian Vettel wehrte.
Ocon vor Vettel vor Hamilton – ob irgend ein Wettverrückten auf einen solchen Zieleinlauf beim Ungarn-GP spekuliert hat? Nach einem herrlich verrückten Rennen haben wir mit Esteban Ocon den 111. GP-Sieger in der Formel 1 seit 1950. Der 24-Jährige hat im 78. Anlauf gewonnen, es ist seine zweite Podestplatzierung in der Königsklasse nach Sakhir 2020.
Der eine oder andere Fan wird sich gefragt haben: Wann hatte Ocon zuvor letztmals ein Rennen gewinnen können? Antwort: 2015 in der GP3. Wenn wir Alpine als rein französische Mannschaft betrachten (auch wenn das Chassis in England gebaut wird), so handelt es sich um die erste Kombination aus französischer Fahrer in französischem Auto als GP-Sieger seit Alain Prost 1983 auf dem Österreichring!
«Eigentlich bedaure ich nur eines», sagte der neue GP-Sieger. «Dass meine Familie wegen der ganzen komplizierten Reisevorschriften hier nicht vor Ort sein konnten. Nur ihre Anwesenheit hätte noch toppen können, was hier eben passiert ist.»
«Ich weiss gar nicht recht, was ich sagen soll. Wir haben im Team darüber gesprochen – der nächste Schritt muss ein Sieg sein. Denn im vergangenen Jahr haben wir Podestränge eingefahren und Appetit auf mehr bekommen.»
«Ich hatte in dieser Saison einige schwierige Momente. Nach einem guten Saisonbeginn war einige Rennen lang der Wurm drin. Aber meine Mannschaft hat immer an mich geglaubt, und mir selber war klar, dass ich nicht auf einmal vergessen hatte, wie man einen Rennwagen fährt.»
Dann gab Alpine dem langen Ocon ein neues Chassis, und auf einmal haben wir wieder den alten, pardon, jungen Esteban erlebt. In Ungarn hat er dem Druck von Sebastian Vettel standgehalten, mit der Routine eines GP-Veteranen. «Einfach war das nicht, der Druck war schon enorm.»
«Ganz wichtig für mich war auch, was sich weiter hinten abgespielt hat. Wer weiss, wie dieser Grand Prix geendet hätte, wäre Lewis Hamilton sofort an meinem Stallgefährten Fernando Alonso vorbeigegangen? Riesenkompliment an Fernando, dieser Sieg gehört auch ihm. Was habe ich vor der Saison nicht alles zu hören bekommen, als klar wurde, dass Fernando mein Stallgefährte sein würde. Jetzt weiss ich: Alles, was da über Alonso erzählt wird, ist falsch.»
«Wow-wow-wow, allez les Bleus! Ich fasse es nicht! Was für ein verrücktes Rennen, welch süsses Gefühl. Es war nicht immer einfach in dieser Saison. Riesenkompliment an Fernando Alonso, dieser Sieg gehört auch ihm. Wer weiss, was passiert wäre, hätte Hamilton früher an ihm vorbeigehen können. Der Druck von Seb war enorm, zum Glück konnte ich ihn hinter mir halten. Aber ich wusste: Ich kann mein Team nicht enttäuschen, meine Jungs haben immer an mich geglaubt.»
«Ich habe immer davon geträumt, in der Formel 1 auf einem Siegerpodest zu stehen. Jetzt ist es wahr, und es hat sich noch schöner angefühlt, als ich mir das immer vorgestellt habe.»
«Ich fand es einfacher, die Führung gegen Vettel zu verteidigen, als im Mittelfeld zu kämpfen! Auch wenn Seb grossen Druck aufrecht erhielt. Ein lustiges Detail: Heute Morgen habe ich mit meinen Jungs noch darüber diskutiert, dass ich hier eine nicht so gute Bilanz habe. Ich schätze, diese Statistik habe ich nun korrigiert!»
Wurde es einmal knapp? Esteban: «Ja, einige Male konnte Vettel aufrücken, als ich Antonio Giovinazzi überholen wollte. Da wurde es ziemlich ungemütlich. Zum Glück konnte ich Vettel gerade so hinter mir halten. Es war ein Moment, in dem ich nicht mehr das Gefühl hatte, alles unter Kontrolle zu haben. Aber zum Glück ist alles gut gegangen.»
2021 ging der heisse Tanz zwischen Ocon und Alonso weiter, nach vielen schmeichelhaften Tönen gerieten die beiden in Brasilien tüchtig aneinander. Dieses Mal hatte Ocon das bessere Ende für sich – WM-Achter mit 92 Punkten, Alonso WM-Neunter mit 81. Fernando Alonso in Brasilien: «Es ist schon enttäuschend, wenn sich der eigene Stallgefährte so verhält, aber gut, noch ein Rennen, dann ist es vorbei.»
Alpine-Teamchef Otmar Szafnauer musste ein Machtwort sprechen: «Ich habe unseren Fahrern klargemacht, dass keiner über dem Team steht und dass es reihenweise Fahrer gibt, die sich die Finger danach lecken, für uns anzutreten. Ich hätte kein Problem damit, sie auf die Strafbank zu setzen.»
Ocon meinte zum Saisonabschluss Abu Dhabi: «Ich fand einige Aussagen von Fernando enttäuschend. Für mich gab es keinen Grund, solche Kritik zu äussern. Ich respektiere ihn und seine Leistungen sehr. Aber ich bin ernüchtert.»
«Es stimmt, dass ich Einiges nicht gut fand, was er gegenüber den Medien gesagt hat, aber diese Gefühle behielt ich lange für mich. Es ist gut, dass sich unsere Wege getrennt haben.»
Dann behauptet Ocon: «Um ehrlich zu sein, habe ich 98 Prozent der Arbeit erledigt und er 2 Prozent. Ich war überarbeitet. Ich habe all diese Entwicklungsarbeit im Simulator erledigt und auch noch all diese Marketing-Auftritte.»
Fernando Alonso wechselte Ende 2022 zu Aston Martin, der neue Stallgefährte von Ocon bei Alpine heisst Pierre Gasly – ausgerechnet jener Mann, dem Esteban vor Jahren spinnefeind war.
Alpine-CEO Laurent Rossi glaubt: «Esteban und Pierre werden nicht schlechter als jedes andere Fahrer-Duo zusammenarbeiten. Sie sind Landsleute, sie kennen sich seit den Nachwuchsklassen. Sie werden beide als der nächste Champion aus Frankreich gesehen, das ist wohl einer zu viel. Es wird Spannungen geben, ganz sicher, aber keine, die wir nicht meistern können. Aber natürlich wird jeder zuerst den Teamkollegen schlagen wollen.»
Und Ocon sagt zu diesem Thema: «Pierre und ich sind älter und ein wenig weiser geworden. Wir wissen, dass der Rennstall im Mittelpunkt steht, nicht der Fahrer.»