Über George Russell
George Russell kam mit einer makellosen Bilanz in die Formel 1: GP3-Titel 2017, Formel-2-Champion 2018, besser kann das ein junger Fahrer nicht machen, um sich für die Königsklasse zu empfehlen. Passend dazu die Heimatstadt des Mercedes-Schützlings, das englische King’s Lynn. Witziges Detail: Aus dieser 43.000-Einwohner-Stadt kam auch ein anderer Grand-Prix-Fahrer – der heutige Sky-F1-Experte Martin Brundle.
George Russell durchlief die klassische moderne Rennschule: Er sass mit acht Jahren im Kart und gewann im Laufe der Zeit dreizehn Meistertitel. Dabei war er der erste Fahrer, der einen EM-Titel in der Klasse KF3 erfolgreich verteidigen konnte.
Ab 2014 sass Russell im Rennauto. Im Finale eroberte er gegen seinen direkten Gegner Arjun Maini den Titel in der britischen Formel 4. Parallel dazu trat er in der Formel Renault an und wurde Gesamtvierter. Für seine guten Leistungen im ersten Jahr als Autorennfahrer gewann George den «McLaren Autosport BRDC Award» und erhielt neben 100.000 Pfund einen Test im Formel-1-McLaren.
Russell war bereit für den nächsten Schritt und der hiess Formel 3. Schon am ersten Wochenende der Formel-3-EM in Silverstone konnte er einen Laufsieg erringen, aber der Rest des Jahres verlief nicht ganz so mühelos: Sechster Schlussrang. Ein Jahr später verbesserte er sich auf Gesamtrang 3, mit zwei Siegen.
Richtig durchgestartet ist Russell, als er ab 2017 für den erfolgreichen ART-Rennstall antrat: Titel gleich im ersten Jahr GP3, das brachte auch einen Platz im Junioren-Team von Mercedes-Benz.
George Russell fuhr auf Mercedes-Vermittlung erste Freitagtrainings im Rahmen der GP-Wochenenden, in einem Force India. 2018 fuhr er zum Formel-2-Titel, parallel dazu begleitete er das Weltmeister-Team Mercedes zu vielen Rennwochenenden, da er inzwischen zum dritten Mann bei den Silberpfeilen befördert worden war.
Mercedes war auch Steigbügelhalter für die Saison 2019: WM-Debüt mit Williams. Russell hat einen mehrjährigen Vertrag mit dem Traditionsrennstall aus Grove abgeschlossen. Teamchefin Claire Williams: «Wir waren bei Williams schon immer bestrebt, junge Talente zu fördern und George passt perfekt zu diesem Anspruch. Er geniesst bereits jetzt einen hervorragenden Ruf im Fahrerlager und wir haben seine Entwicklung nun schon eine Weile beobachtet. In dieser Zeit haben wir festgestellt, dass er perfekt in unser Team passt – seine Hingabe, Leidenschaft und sein Engagement sind genau das, was wir jetzt brauchen, um die Weichen für eine positive Zukunft zu stellen.»
Russell selbst schwärmte: «Es ist eine riesengrosse Ehre für mich, für ein so prestige- und geschichtsträchtiges Team wie Williams zu fahren. Die Formel 1 war immer mein grosser Traum, und es fühlt sich unwirklich an, dass ich 2019 in der Startaufstellung neben jenen Fahrern stehen werde, die ich seit Jahren bewundere.»
Aus dem Traum wurde ein Alptraum: Zum zweiten Mal in Folge baute Williams das mit Abstand schlechteste Auto. Russell schlug in der Regel seinen Stallgefährten Robert Kubica, aber ausgerechnet in jenem Rennen, in welchem Williams punkten konnte, machte der Pole seinen Job besser – Rang 10 in Hockenheim. Damit blieb Mercedes-Zögling Russell 2019 punktelos.
Die Probleme begannen schon vor dem Saisonstart 2019: Das Williams-Team brachte es nicht fertig, den Renner FW42 rechtzeitig zum Start der Vorsaisontestfahrten fertigzustellen. Doch auch nach dem verspäteten Roll-out wurden die Probleme nicht kleiner. Im Gegenteil: Der britische Traditionsrennstall kämpfte mit rätselhaften Performance-Problemen, die den Ingenieuren in Grove bis zur Saisonmitte Kopfzerbrechen bereiteten.
Und auch in der zweiten Saisonhälfte gelangen dem Williams-Team keine grossen Sprünge, bis zum Saisonfinale in Abu Dhabi schaffte man speziell im Vergleich zur Konkurrenz nur Mini-Fortschritte.
Dennoch ist sich George Russell sicher, dass Williams in diesem Jahr einen grossen Fortschritt erzielen wird. Seine Ziele bleiben trotzdem realistisch, schliesslich weiss der junge Brite, dass auch die Konkurrenz nicht schläft. «Ich denke, es ist schon ein Erfolg, im Mittelfeld mitkämpfen zu können. Realistisch gesehen ist das wohl das bestmögliche Ergebnis, das wir 2020 erreichen können», erklärte der 21-Jährige gegenüber Motorsportweek.com.
«Wir werden sicherlich einen grossen Schritt nach vorne machen können, aber wir wissen natürlich nicht, was alle anderen Teams erreichen werden. Ich hoffe wirklich, dass wir 2020 wieder den Anschluss ans Mittelfeld finden werden. Es wird nicht wie vor vier, fünf Jahren werden, aber wir werden hoffentlich in der Lage sein, an jedem Rennwochenende wenigstens die Chance zu haben, es ins Q2 zu schaffen», machte sich Russell Mut.
Es folgten drei Jahre nach dem Motto – Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Das Engagement von Russell beim Traditionsrennstall fiel in eine Phase, als Williams die schlechtesten Rennwagen der Firmengeschichte baute.
Russell wurde 2019 punkteloser WM-20., und es war von skurriler Ironie, dass der einzige Punkt des Jahres nicht vom hoch überlegenen Russell eingefahren wurde, sondern vom GP-Veteranen Robert Kubica.
In der Corona-Saison 2020 konnte Russell beim Grossen Preis von Sakhir Neunter werden, es war die einzige Punktefahrt des Engländers, WM-Rang 18.
2021 erzielte Russell im Dauerregen von Belgien bei schwierigen Bedingungen den sensationellen zweiten Quali-Platz, und da der Grand Prix zu einer wenige Runden kurzen Farce hinter dem Safety-Car verkam, wurde daraus der zweite Platz im Rennen.
George Russell sagte: «Jeden von uns hätte hier gerne ein Rennen gezeigt, aber leider war das nicht möglich. Das Merkwürdige an der ganzen Sache ist, dass die Leute angefangen haben, mich Mr. Saturday zu nennen, aber meine Leistungen im Qualifying bedeuteten je nie WM-Punkte. Dieses Mal ist das anders.»
Bei seinem 50. Einsatz in der Formel 1 durfte Russell damit als Zweiter erstmals aufs Siegerpodest klettern. «Das ist schon verrückt. Und es hat mir weh getan, die ganzen Fans zu sehen, denen wir so wenig zeigen konnten. Aber die Fans sollen wissen, wir haben wirklich nichts gesehen da draussen. Und dann wurde es auch noch dunkel. Vielleicht hätten wir gar nie auf die Bahn gehen dürfen.»
«Gewiss, die Umstände sind merkwürdig, aber ich habe immer gesagt – man muss Gelegenheiten ergreifen, wenn sie sich bieten, so wie auch in Ungarn. Es fühlte sich seltsam an, nach diesem Tag auf dem Podest zu stehen. Aber für alle bei Williams freut es mich sehr. Es war absolut richtig, das Rennen nicht frei zu geben, denn hätten wir das getan, wäre das nackte Chaos ausgebrochen.»
Mit Punkten in Ungarn, Italien und Russland ergab sich WM-Schlussrang 15. Da war längst klar, dass Russell zu Mercedes ziehen würde, als Nachfolger jenes Piloten, mit dem er sich im Regen von Imola angelegt hatte – Valtteri Bottas.
Russell rückblickend über die Williams-Jahre: «Als ich 2018 für Williams unterzeichnet habe, war dies der Rennstall, der ständig Podestränge einfuhr, der den Konstrukteurs-Pokal in den Jahren davor auf den Rängen 3, 3 und 5 abgeschlossen hatte, bevor 2018 ein wirklich schlechtes Jahr kam.»
«Aber ich war davon überzeugt, das sei ein Ausrutscher, die würden sich schon wieder fangen und dann erneut in der Region zwischen den Rängen 3 und 5 auftauchen. Von daher sah ein Dreijahresvertrag nicht so übel aus.»
«Rückblickend waren drei Jahre Hinterherfahren natürlich zu lange. Leider aber hatte Claire Williams beim Vertragsentwurf einen ziemlich guten Job gemacht, und es gab für mich keinen Weg aus dem Abkommen heraus.»
Es liegt in der Natur von George Russell, das Positive zu erkennen: «Vielleicht musste das alles so kommen, denn hätte ich 2021 oder 2020 gegen Lewis antreten müssen, in einem Auto, das Jahr für Jahr auf ihn zugeschnitten wurde – das wäre gewiss ein hartes Stück Arbeit geworden. Diese Autos, das waren seine Babys.»
«Zu Beginn der GP-Saison 2022 haben wir eine andere Rennwagen-Generation eingeführt, das war für Teams und Fahrer ein Neuanfang, und von daher ist mein Timing bei Mercedes wohl das richtige.»
Mercedes-Zögling Russell verabschiedete sich Anfang Dezember 2021 auf sehr persönliche Art vom legendären Teamchef Frank Williams: Er trug in Saudi-Arabien einen Helm im legendären Dunkelblau, das seinem Teamchef so lieb war – in dieser Farbe und mit Piers Courage als Fahrer tauchte Williams als Teamchef 1968 in der Formel 2, dann in der Formel 1 auf. Als Knicks vor der Vergangenheit brachte Frank Williams im Laufe der Jahre ab und an ein Auto in dieser Farbe zum Wintertest.
Auf dem Schutzbügel Halo der Williams steht ein Spruch aus dem Fliegerfilm mit Tom Cruise «Top Gun», dem Lieblingsstreifen von Frank Williams: «I feel the need, the need for speed.»
George Russell sagte: «Frank Williams war ein wundervoller Mensch, weit mehr als einfach mein Chef. Er war mein Mentor, mein Freund, ich werde unsere Gespräche und unser Gelächter nicht vergessen. Ich fand es immer eine grosse Ehre, für diesen Mann Grands Prix fahren zu dürfen und einen kleinen Teil der Historie dieses Rennstalls mitzuschreiben.»
«Das Erbe von Frank Williams besteht darin, dass er in unseren Herzen weiterleben wird, er bleibt auf ewig die Seele dieses Teams. Das ist für alle im Team ein überaus emotionales Wochenende, und wir werden wie immer alles geben, um Frank auf uns stolz zu machen.»
Russell ist davon überzeugt, dass der Wechsel von Williams zu Mercedes zum perfekten Zeitpunkt kam. «Bei Williams wäre das jetzt alles ganz anders. Wäre ich dort geblieben, dann hätte ich bei der Umstellung zur neuen Rennwagengeneration immer im Hinterkopf gehabt, wie sich der 2021er Williams anfühlte. So aber war das ein sauberer Schnitt: neues Team, neuer Wagen, neue Reifen. Ich sah das als Vorteil für mich.»
«Wenn ich es schaffe, meine Möglichkeiten optimal umzusetzen, und wenn meine Mannschaft und ich uns gegenseitig zu Höchstleistungen beflügeln, dann werde ich zufrieden sein. Das an einer Zahl anzuhängen, ist für mich kaum möglich. Denn letztlich ist es doch so – vor dem ersten Rennwochenende in Bahrain weiss keiner richtig, wo er steht.»
Die erste Saison als Mercedes-Fahrer wurde aus persönlicher Sicht ein Erfolg: Nur einmal schied George aus, ausgerechnet beim Heimrennen in Silverstone, mit einer Kollision. Sonst kam er immer ins Ziel, bei 22 Rennen 20 Mal in den Punkten, davon 19 Mal in den Top-Fünf, acht Mal auf dem Siegerpodest, Sieger im Sprint von São Paulo, Sieger beim Grossen Preis 24 Stunden später, in der WM als Vierter vor Lewis Hamilton (Sechster) – das war eine tolle erste Saison.
Weniger gut war: Die Silberpfeile hatten ihre Siegesschärfe verloren. Im Frühling erhärtete sich der Eindruck aus den Wintertests – Mercedes steckt in argen Schwierigkeiten. Russell sagte: «Es ist nicht leicht, den Wagen ins beste Betriebsfenster zu bringen. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle. Manchmal ändern wir die Abstimmung und glauben, das müsse eine Verbesserung ergeben, aber dann stellt sich heraus, dass der Wagen in Wahrheit weniger gut liegt. Das ist derzeit alles ein wenig ungleichmässig.»
Eines der grössten Probleme blieb monatelang ungelöst: «porpoising», also das Aufsetzen des Autos auf den Geraden unter hoher aerodynamischer Last. Russell: «Auch hier beeinflussen zahlreiche verschiedene Faktoren, wie stark sich das aufs Auto auswirkt – Steifheit von Federn und Dämpfern, Steifheit des Bodens, Design des Bodens, Reifendruck und so fort.»
«Je schneller du fährst, desto übler wird es. Was in der Quali bei voller Motorleistung besonders grossen Einfluss hat. Ich bleibe davon überzeugt: Wenn wir das Hüpfen verringern können, dann sind 99 Prozent unserer Probleme gelöst.»
Das Dasein als Formel-1-Pilot hat viele positiven Seiten, aber die GP-Stars erleben auch die negativen Auswirkungen eines Lebens im Scheinwerferlicht. Das bestätigte auch der junge Mercedes-Pilot George Russell, der vor dem Start seines Heimspiels in Silverstone betonte: «Es gibt auch Schattenseiten, an die man sich erst gewöhnen muss.»
«In Montreal passierte es mir zum ersten Mal, dass jemand meinen Namen rief und mich ausbuhte. Ich sass bei der Fahrerparade im Auto, und es war ziemlich seltsam, dass dieser 35- oder 40-jährige Mann mich ausbuht, obwohl ich ihn nicht einmal kenne», erzählte der Brite.
Russell hatte keine Ahnung, warum der Fan ihn ausbuhte. «Ich versuche doch einfach, bei jedem Rennen, mein Bestes zu geben, eine gute Show abzuliefern und zu jedem nett und höflich zu sein», beteuerte er.
Und der aktuelle WM-Vierte fügte an: «An manche Dinge muss man sich einfach gewöhnen und akzeptieren, dass dies leider die Welt und die Gesellschaft ist, in der wir im Moment leben.» Und er forderte: «Das ist etwas, das ausgemerzt werden muss.»
Russells Landsmann Lando Norris erkannte: George hat sich sehr schnell den Anforderungen in einem Top-Team angepasst. «Wer sich die Karriere von George genauer ansieht, ist automatisch beeindruckt. Aber wie er sich bei einem Spitzenrennstall wie Mercedes schlägt und dies gegen Hamilton, unter stärkerer Beobachtung, unter höherem Druck – also das ist schon gewaltig. Er fährt extrem konstant.»
«Es ist nicht leicht, mit dem Schritt zu einem Top-Team umzugehen. Ich glaube, wenn du in einem Rennstall fährst, der sich offensichtlich schwertut, dann kannst du freier fahren. Da fallen Fehler weniger ins Gewicht. Das ist bei einem Spitzen-Team ganz anders. Ein anderes Umfeld kann einen Piloten verändern, die erhöhte Aufmerksamkeit geht an niemandem spurlos vorbei.»
Lando Norris glaubte: Das ist nicht mehr der gleiche George Russell wie bei Williams. «Wenn du vorne mitmischst, dann willst du noch ernsthafter an deine Aufgabe herangehen. Ich glaube, dass diese Seite von George immer schon da war, jetzt aber stärker zum Vorschein kommt. Ein Fahrer passt sich seinem Umfeld an.»
In Ungarn schlug George Russell eiskalt zu. Alle sprachen davon, dass Ferrari auf trockener Bahn so gut wie unschlagbar sei, dann das – erste Pole-Position des jungen Engländers George Russell, in seinem 73. Abschlusstraining in der Königsklasse. Der 24-jährige Mercedes-Fahrer wurde zum 105. Piloten in der Formel 1, der eine Pole-Position erringen konnte, als erster Fahrer seit Carlos Sainz in Silverstone.
Die zuvor besten Startplätze von Russell: zwei Mal Zweiter, in Sakhir 2020 (mit Mercedes) und in Belgien 2021 (mit Williams). Für Mercedes ist es die 136. Pole in der Formel 1, die erste in dieser Saison und die erste seit Saudi-Arabien 2021 und Lewis Hamilton.
Russell sagte nach seiner sensationellen Leistung: «Ich kann es noch gar nicht richtig fassen, was hier eben passiert ist. Vor allem bin ich happy fürs ganze Team, weil ich jeden Tag sehe, wie sich diese Mannschaft in die Arbeit reinkniet, um Mercedes auf die Siegerstrasse zurückzubringen.»
«Wir hatten gestern einen ganz schwierigen Freitag, wir waren bis elf Uhr abends an der Rennstrecke, um den Wagen zu verbessern, und ehrlich gesagt, haben wir uns die Haare gerauft, wie wir den Silberpfeil schärfen können. Die Moral war ziemlich am Boden, wir fühlten uns verloren. Und 24 Stunden später haben wir die Pole-Position – unfassbar!»
«Es gibt keine Punkte für die Pole, aber es ist so gut für die Moral der ganzen Mannschaft was heute passiert ist. Ich schätze, wir haben den Wagen auf der letzten Runde ins perfekte Arbeitsfenster bekommen. Im ersten Sektor war ich schon markant schneller als zuvor, im zweiten dann auch, es lief einfach wie am Schnürchen.»
«Wenn du auf so einer Runde bist, dann läuft alles fast wie von selber. Und dies mit einem Auto, mit dem ich im dritten Training noch alle Hände voll zu tun hatte. In der Formel 1 geht es immer um Details, und wir haben es geschafft, auf dieser einen Runde alles perfekt hinzubekommen.»
«Das ist ein unvergleichliches Gefühl, so ähnlich habe ich mich in der Formel 1 erst einmal gefühlt, als wir mit Williams in Belgien 2021 auf nasser Bahn den zweiten Startplatz erreicht haben.»
«Genau für solche Gänsehaut-Momente bin ich Rennfahrer. Wenn du so etwas mal erlebt hast, dann willst du dieses Gefühl immer und immer wieder auskosten. Dafür lebe ich.»
In den Niederlanden hätte Mercedes das erste Rennen der Saison gewinnen können. Stattdessen gab es im Anschluss an den WM-Lauf von Zandvoort in den sozialen Netzwerken viel Hass gegen Red Bull Racing und AlphaTauri. Auch George Russell bekam sein Fett weg.
Die Formel 1 treibt schon seltsame Blüten, besonders seit Fans sich in den sozialen Netzwerken austoben. Nach dem Zandvoort-GP kursierte unter einigen Fans die abstruse Theorie, AlphaTauri und Red Bull Racing hätten gemeinsame Sache gemacht, um Verstappen den Sieg im Heim-GP zu ermöglichen – denn hatte nicht der Defekt am Wagen von Tsunoda jene Safety Car-Phase ermöglicht, dank welcher Verstappen sich auf die Mercedes werfen konnte?
Im ganzen Wirbel fast unbemerkt: Nicht nur RBR mit Chefstrategin Hannah Schmitz sowie AlphaTauri wurden zur Zielscheibe, auch Mercedes-Fahrer George Russell ist angefeindet worden. Ihm wurde Hinterhältigkeit vorgeworfen, Selbstsucht und Gier. Er habe sich auf Kosten von Lewis Hamilton eiskalt Rang 2 gekrallt. Hamilton fuhr auf harten Reifen zu Ende und fiel auf Rang 4 zurück.
Dabei zielte die Rennstrategie von Mercedes-Benz (weiche Reifen für Russell kurz vor Schluss) völlig nachvollziehbar darauf, Verstappen vielleicht am Sieg hindern zu können.
Mercedes-Teamchef Toto Wolff sagte am Abend nach dem Rennen richtig: «Auf den Rängen 2 und 3 wären wir mit einer konservativen Vorgehensweise ohnehin ins Ziel gekommen. Also wollten wir mit George etwas riskieren, um möglicherweise den Sieg zu erobern.»
Abschätzige Posts gegen George Russell gründen darin, dass nicht Hamilton diese Chance erhielt. Als hätte der Rennfahrer diese Entscheidung gefällt!
Russell in Monza: «Ich war überrascht, dass Lewis keine frischen Reifen erhielt. Aber später hörte ich, dass einfach nicht genug Zeit war, um beide Fahrer mit Reifen auszurüsten.»
George wütend: «Diese widerwärtigen Wortmeldungen hören einfach nicht auf. Wir haben zu viel von diesem Müll im Netz. Die Betreiber der sozialen Netzwerke und die Regierungen stehen in der Pflicht, sich entschlossener gegen Hass und Häme zu stellen. Wir können derzeit nicht mehr tun als solche Accounts zu melden. Und Mercedes arbeitet an einer Software, welche abschätzige Kommentare filtern sollte. Aber letztlich ist es schwierig, die Menschen an solchen Tweets oder Posts zu hindern.»
«Ich kann die Leute nur erneut auffordern: ‘Bevor ihr einen Post absetzt, denkt nach! Tragt ihr irgendwas Positives bei? Falls nicht, dann lasst es einfach bleiben!’ Ich finde es jammerschade, was da alles verbreitet wird.»
In Brasilien machte George Russell alles richtig und gewann zum ersten Mal einen Formel-1-Sprint, Sieg beim jenem Mini-GP, der die Startaufstellung zum São Paulo-GP definierte. Russell zeigte im Sprint eine formidable Leistung, er griff Max Verstappen einige Male entschlossen an, der Weltmeister musste die Trickkiste öffnen, um vorne zu bleiben, aber dann setzte sich George durch.
Russell sagte: «Das ist ein Meilenstein fürs Team. Ich glaube, wir waren im ersten Sprit des Jahres, damals in Imola, Achte und Neunte oder so. Nun werden wir wohl in der ersten Startreihe stehen. Ich kann gar nicht sagen, wie stolz ich auf dieses Team bin.»
«Wir wussten, dass wir soliden Speed haben, aber ganz ehrlich – vor dem Rennen glaubte ich, dass dies eine einfache Sache für Max werden würde. Ich ging davon aus: Wenn er seine mittelharten Reifen auf Temperatur gebracht hat, dann fährt er uns auf und davon.»
«Ich musste sorgsam abwägen, wie viel Risiko ich eingehen will. Klar wollte ich siegen, aber für Max geht es um nichts mehr, er kann voll reinhauen.»
«Ich war erstaunt, wie gut es läuft. Aber das liegt daran, dass die weichen Reifen gut gehalten haben. Max hat für Sonntag den Vorteil, nun einen Satz weicher Pirelli mehr zu haben als wir, aber diese Leistung macht uns natürlich gewaltig Mumm.»
«Das ist mein zweiter bester Startplatz nach Ungarn. Aber wenn du eine Ziellinie als Erster überquerst, dann ist das ein anderes Gefühl. Nur schade, dass dies kein Grand Prix ist!»
Aber dann ging diese Erfolgsgeschichte weiter: Knapp 24 Stunden nach seinem ersten Formel-1-Sieg im Sprint von Interlagos legte er mit seinem ersten Grand-Prix-Triumph nach, der 24-Jährige Engländer hatte erneut alles richtig gemacht, und als erstmals seit 1952 in der Formel 1 auf dem Siegerpodest «God Save The King» gespielt wurde, schämten sich Fahrer und Team-Mitglieder ihrer Tränen nicht.
Für Russell war es der erste GP-Sieg im 81. Anlauf, aber so ganz sicher war sich Russell seiner Sache nicht. Kurz vor Schluss des spannenden Grossen Preises von São Paulo gab’s eine Safety-Car-Phase, weil der McLaren von Lando Norris abgeschleppt werden musste. Zaghaft meldete sich Russell am Funk: «Stellen wir den Doppelsieg sicher oder sollen wir frei fahren?» Antwort vom Kommandostand: «Wir fahren frei, aber geht respektvoll miteinander um.»
Wie sich dann aber zeigte, musste Russell gegen Hamilton gar nicht die Ellenbogen ausfahren, denn dazu zeigte George zu perfekte Re-Starts und zu hohen Speed.
George sagte: «Ich habe so oft von diesem Moment geträumt, nun ist er da. Und ich bin überwältig von all diesen Emotionen. So viele Erinnerungen schiessen dir durch den Kopf, wenn alles unter Dach und Fach ist, du denkst an die Menschen, die so viel dafür geben, dass du im Rennsport eine Chance bekommst.»
«Das soll jetzt nicht hochnäsig klingen, aber ich hatte im Rennen alles unter Kontrolle. Unsicher wurde ich nur einmal. Als ich eine Elfsekunden-Führung wegen der Safety-Car-Phase verlor und Hamilton im Nacken hatte beim Re-Start. Ich dachte – jetzt wird es eng.»
«Aber mir gelang erneut ein guter Re-Start, trotz des Drucks von Lewis erlaubte ich mir nur wenige klitzekleine Fehler. Ich ging nach dem Sieg im Sprint recht entspannt in den Grand Prix. Ich wusste – wenn ich alles richtig mache, dann kann ich das packen.»
«Ich wusste aber auch, Lewis schräg neben mir, Max hinter mir, ein Spaziergang wird das nicht. Ich schaut zu Beginn des Rennens sehr oft in den Rückspiegel, aber an einem bestimmten Punkt dachte ich – das muss aufhören! Ich muss nach vorne schauen, nicht zurück.»
War George überrascht davon, dass er und Lewis frei fahren durften? «Ja und nein. Grundsätzlich haben wir immer die Erlaubnis, frei zu fahren, aber ich wollte nicht einen Doppelsieg aufs Spiel zu setzen. Letztlich bin ich froh, dass es so gekommen ist, dass wir volle Kanne fuhren und ich vorne bleiben konnte.»
George Russell blickte selbstbewusst auf 2023. «Ich fühle mich bereit für den WM-Titel, das tu ich schon seit Jahren. Diese Saison an der Seite von Lewis war für mich persönlich sehr wichtig, denn ich konnte einige kleine Details lernen, wie etwa wie ich mehr aus dem Auto und dem Team herausholen kann, und wie ich das Potenzial des Gesamtpakets ausschöpfen kann, wenn es darauf ankommt.»
«Ich war zufrieden, dass wir als Team das Meiste aus unserem Auto herausgeholt haben, aber auch ein bisschen enttäuscht, dass wir nicht so viele Fortschritte gemacht haben, wie wir es uns gewünscht hätten, und dass wir immer noch damit zu kämpfen hatten, die Probleme in den Griff zu bekommen.»
Was George Russell freute: «Alles mit Lewis Hamilton läuft sehr harmonisch. Was mich bei Lewis am meisten beeindruckt hat, ist zu sehen, wie er mit dem Team zusammenarbeitet, wie er das Beste aus den Leuten um ihn herum herausholt, wie er die Moral hochhält, wenn es schwierig wird, und schliesslich, was ich bereits wusste, wie verdammt schnell er ist und was für eine Herausforderung es ist, mit einem Kerl wie ihm in einem Team zu sein.»
«Dieses erste Jahr bei Mercedes war in vielerlei Hinsicht grossartig. Der Umgang mit einer riesigen Gruppe von Leuten, die unglaublich talentiert sind, hat mich in jeder Beziehung zu einem besseren Fahrer gemacht. Das gilt sowohl für die Arbeit im Cockpit als auch für die Reise, die wir als Team unternommen haben. Nach den Schwierigkeiten zu Beginn des Jahres, als das Auto nicht so schnell war, wie wir uns das erhofft hatten, kam es gegen Ende der Saison in Schwung. Es war wirklich aufregend, diese Fortschritte zu sehen, besonders auf dem Weg ins Jahr 2023.»