«Du Charly»: Zu Lamms fünftem Todestag
Charly Lamm und sein Zwillingsbruder Dieter
Grund genug, sich mit ein paar hochachtungsvollen Zeilen dieses außergewöhnlichen Menschen zu erinnern.
«DU, CHARLY» – so hat Dieter Stappert, ehemaliger BMW-Rennleiter und davor einer der besten deutschsprachigen Motorsport-Schreiber, einmal einen grandiosen Artikel über Karl Lamm überschrieben.
Und wer Charly Lamm, den virtuosen Dirigenten des unglaublichen Schnitzer-Motorsport-Orchesters aus dem oberbayerischen Freilassing kannte und in Aktion erlebt hat, weiß, dass «Du Charly», mal mit lautem Fragezeichen, mal mit lautem Ausrufezeichen, alles umschreibt, was diesen ganz besonderen Menschen ausmachte: Er wusste alles, er regelte alles, er war immer da, er hatte für alles eine Lösung – und ohne ihn ging nix! Heute jährt sich sein Todestag zum fünften Mal.
Unter Charly (Jahrgang 1955), im Zusammenspiel mit seinem Halbbruder Herbert, seinem Zwillingsbruder Dieter und einer perfekt eingespielten Truppe hat sein Team Schnitzer im Touren- und Sportwagensport weltweit alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Die Schlachten um die Tourenwagen-EM und –WM sind längst Motorsport-Geschichte, und mittendrin, bzw. ganz weit vorn immer die Schnitzer-Autos, die dicken Coupés und die schneidigen M3 – da war Charly längst in seinem Element, der Langstrecke. 24 Stunden am Nürburgring oder in Spa, Hektik, grenzenloses Wirrwarr an der Box und doch stets ein kontrollierter Ablauf – wenn das Wort vom Fels in der Brandung auf eine Person immer zutraf, in diesen Situationen war es Charly.
Eines von vielen bezeichnenden Beispielen für den unbestechlichen Überblick, mit dem Charly ein ums andere Mal das Rennschicksal zu den Gunsten seines jeweiligen Schützlings umbog, ereignete sich beim vorentscheidenden DTM-Rennen 2012 in Valencia. Schrecksekunde: In Runde fünf wird eine Durchfahrtsstrafe gegen den Titelaspiranten Bruno Spengler verhängt: Frühstart! Der Franko-Kanadier will davon nichts wissen. «Ich habe mich nicht zu früh bewegt», versucht er über Funk seinem Renningenieur klarzumachen.
Als der ihn mehrfach auffordert, die Boxendurchfahrt anzutreten, sträubt sich der kämpferische Pilot. «Ich stoppe nicht» zetert er hörbar aufgebracht in den Funkverkehr. An der Box weiß man indessen ganz genau, widersetzt sich unser Mann, sind wir aus dem Rennen.
Erst als sich Charly Lamm persönlich im Funk meldet und mit keinen Widerspruch duldender Stimme feststellt: «YOU MUST COME IN» – da schert Spengler flugs in die Boxengasse ein. Die Devise 'erst fahren, dann diskutieren' hatte inzwischen auch ihn überzeugt. Das war sein Glück. Denn nach verbüßter Strafe entwickelten sich die Dinge eindeutig zu seinen Gunsten. Von zunächst aussichtslos scheinender Position bringt er sich zu entscheidenden Meisterschaftspunkten, die ihm drei Wochen später hauchdünn den Titel sicherten. Ohne Charlys Eingriff wäre alles futsch gewesen.
Der Respekt, der die Durchsetzbarkeit – wie in diesem Fall – schwierigster Forderungen möglich machte, war auf einige von Charlys wesentlichen Eigenschaften zurückzuführen. Zum einen war er ein ausgesprochener Menschenfreund, einer, der jedem Gegenüber Achtung entgegenbrachte. Dabei strahlte er eine menschliche Wärme aus, mit der er jeden in seinen Bann zog – und sich dessen Respekt auf diese Weise verdiente – ob Freund oder Wettbewerber. Dann hatte er sich intern wie extern ganz einfach den Nimbus des «absoluten Durchblickers» erarbeitet.
Und schließlich seine Liebe zum Detail. Ein Beispiel: Wissend, dass die Boxenstopps ein entscheidender Faktor im Ringen um wertvolle Zehntelsekunden sind, nahm sich Charly einmal trotz der Hektik in der Endphase einer Meisterschaft die Zeit, sich eingehend mit Schlagschraubern zu befassen. Was soll man sagen: Beim offiziell ausgeschriebenen Wettbewerb um den schnellsten Reifenwechsel waren Charlys Mannen immer mal wieder die Schnellsten.
Kein Wunder also, dass die von Charly wahrlich virtuos choreografierte Boxencrew immer Garant für Erfolge im Langstreckensport war. Die Freilassinger haben praktisch jedes international namhafte 24-Stunden-Rennen gewonnen, allein die Langstrecken-Klassiker in Spa und auf dem Nürburgring zwischen 1985 und 2010 jeweils fünfmal.
Ein völlig neues Kapitel der Schnitzer-Aktivitäten in dieser Rennsport-Sparte folgte mit dem Einsatz des Sportwagens McLaren F1 GTR im gerade hochspannenden GT- und Sportwagensport. Mit dem Gewinn der 24 Stunden von Le Mans 1999 in einem der bestbesetzten Felder in der Le Mans-Geschichte bescherten sich BMW und Schnitzer einen der größten Erfolgsmomente: Die Schnitzer-Jungs legten all ihr Langstrecken-Know how und ihren Willen zur Höchstleistung in die Waagschale, um am Schluss bei der Zieldurchfahrt des BMW V12 LMR unter Winkelhock, Martini und Dalmas zu triumphieren. Unter der Regie von Charly Lamm und Herbert Schnitzer hatte damit das Team den Höhepunkt seiner erfolgreichen Teilnahme an allen maßgeblichen Langstreckenrennen der Welt erreicht.
So sehr die Motorsport-Community von der urplötzlichen Ankündigung überrascht wurde, dass Charly Lamm seine Position an der Spitze des Schnitzer-Teams aufgeben würde, so einhellig war die Freude auch ausnahmslos aller Wettbewerber über den letzten Sieg seiner über 40-jährigen Karriere: Beim GT3-Weltcup-Finale in Macao im November 2018 stand Schnitzer-Pilot Augusto Farfus auf der obersten Stufe des Siegertreppchen.
Wahrlich ein würdiger Abschluss für den feingeistigen Karl Lamm, aber bei allem Siegestaumel standen allen die Tränen der Rührung in den Augen. Umso betroffener machte – nur wenige Wochen später – die Meldung, dass Charly nicht mehr lebte. Plötzlich war da keiner mehr, dem man um Hilfe oder Rat bittend ansprechen konnte: «Du, Charly?»