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Lewis Hamilton in Sotschi: Sabotage-Opfer und Jäger

Von Mathias Brunner
Lewis Hamilton und Toto Wolff

Lewis Hamilton und Toto Wolff

​Vor einem Jahr war Mercedes-Star Lewis Hamilton Mittelpunkt einer Hexenjagd. Seine Fans sahen ihn als Sabotage-Opfer und machten Mercedes erhebliche Vorwürfe. Heute kommt er als Jäger nach Sotschi.

Im Frühling 2016 ging bei Lewis Hamilton alles drunter und drüber: Defekt am Wagen von Lewis Hamilton im Abschlusstraining zum China-GP – eine Welle im elektrischen Generator, der am Turbolader Energie schöpft, war heiss gelaufen. Identischer Defekt dann in Russland. Das brachte die Fans des Engländers auf die Palme. Sie unterstellten Mercedes, Nico Rosberg zu bevorzugen, der von Sieg zu Sieg eilte. Einige Hamilton-Anhänger nahmen das Wort Sabotage in den Mund.

Mercedes sah sich genötigt, einen offenen Brief zu schreiben.

«Wir haben nach den mechanischen Problemen in Russland wahrgenommen, dass online viele Fans ihrer Frustration Luft gemacht haben. Wir teilen die Emotionen – aber für uns ist das ein wenig mehr als Enttäuschung. Für die Fans zuhause beginnt ein GP-Wochenende am Donnerstagmorgen und endet Sonntagabend. Ein schlechtes Ergebnis, das schmerzt ein paar Stunden lang, dann geht für die Fans das normale Leben weiter. Für mehr als tausend Mitarbeiter in Brackley und Brixworth ist dies aber das normale Leben.»

«Diese Frauen und Männer engagieren sich mit Fleisch und Blut, Tag und Nacht wird geschuftet, viel geschwitzt, manchmal auch geweint, oft dauert die Arbeit rund um die Uhr, meist sehen diese Spezialisten ihre Liebsten viel zu selten. Sie tun sich das alles an, weil sie tiefe Leidenschaft für den Sport empfinden, weil sie ihren Mitarbeitern gegenüber loyal sind und weil sie danach streben, die Besten zu sein.»

«Der Erfolg der letzten Wochen war kein Zunfall. Um Toto Wolff zu zitieren, haben wir uns den Ars.. aufgerissen, um dort zu sein, wo wir heute sind. Die Gesichter an der Rennstrecke sind dabei gewissermassen nur die Spitze des Eisbergs. Aber sie sind das perfekte Beispiel für Mannschaftsarbeit. Wir absolvieren nicht nur Boxenstopps als Team. Wir reisen gemeinsam, teilen Hotelzimmer, essen Mahlzeiten, bauen Boxen auf und wieder ab, zerlegen Rennwagen und bauen sie ein weiteres Mal zusammen, reparieren, war beschädigt ist, ersetzen, was kaputt ist, packen Tonnen von Fracht. Es ist kein Klischee: Wir gewinnen und wir verlieren zusammen. Nicht für einen bestimmten Piloten, sondern für einander. Es gibt kein A- und kein B-Team bei uns.»

«Wir waren vor den Kopf gestossen und am Boden zerstört darüber, dass am Wagen von Lewis Hamilton der gleiche Defekt aufgetreten ist wie in China. Aber wir haben nach dem Training die Ruhe bewahrt, unsere Gedanken gesammelt, und dann haben wir losgelegt. Es kommt einer Herkulesaufgabe vieler Mitarbeiter in England und in Russland gleich, dass wir frische Ersatzteile nach Sotschi einfliegen liessen und sie so einbauten, dass die Parc-fermé-Regeln nicht gebrochen wurden und Lewis vom zehnten Platz losfahren konnte. Das war eine grosse Belastung, hat aber die Erleichterung noch grösser gemacht, beide Autos im Ziel zu sehen.»

«Nach dem einzigen Stopp haben wir gemerkt, dass es bei Nico am Generator der kinetischen Energierückgewinnung alarmierendes Verhalten gibt. Wir versicherten Rosberg, sein Abstand auf Hamilton sei gross genug, um Tempo rauszunehmen. Dann erhielten wir von den Regelhütern der FIA grünes Licht, Rosberg sagen zu dürfen, am Motor gewisse Einstellungen zu wechseln, die es uns erlaubten, dem Problem Herr zu werden. Als Nico dann kurz vor Schluss die beste Rennrunde fuhr, da war er noch immer in diesem Schonmodus. Das zeigt, wie überlegen der Mercedes in Sotschi war.»

«Kurz nach der Angelegenheit bei Rosberg erkannten wir, dass der Wasserdruck im Auto von Lewis fällt. Zu diesem Zeitpunkt setzte er sich von Räikkönen ab und jagte Rosberg. Erneut klärten wir bei der FIA ab, was wir Lewis sagen dürfen. Am Ende fuhr Hamilton die letzten 16 Runden mit null – jawohl, null! – Wasserdruck. Wie er den Wagen um den Kurs trug und dennoch Rang 2 einfuhr, ist bemerkenswert. Er musste den Wagen so kühl als möglich halten, gleichzeitig aber auf Kimi hinter sich aufpassen. Um ehrlich zu sein: Wir wissen nicht, welches Rennwunder den Wagen über die Ziellinie gebracht hat.»

«Das ändert freilich nichts daran, dass wir unsere eigenen Erwartungen in Sachen Standfestigkeit in diesem Jahr verfehlen. In Sachen Speed gibt es nichts zu jammern: Wir haben nun nur zwei Punkte weniger auf dem Konto als zum gleichen Zeitpunkt der WM vor einem Jahr. Wir wollen aber nicht nur schnell, wir wollen kugelsicher sein. Wir wollen Probleme nicht handhaben, sondern sie verstehen und aus der Welt schaffen. Daran arbeiten wir. Garantien gibt es keine. Dies ist ein mechanischer Sport auf Messers Schneide. Wir verschieben Grenzen, und Defekte kommen dabei vor.»

«Jenen, die uns beistehen, sagen wir – dankeschön für die Unterstützung. Und was den Rest angeht, die ganzen Hasser, Schwarzmaler und Verschwörer: Wenn wir nur die Hälfte von Euch davon überzeugen können, wofür wir einstehen, dann ist auch das ein schöner Sieg.»

Toto Wolff: «Wer so etwas sagt, ist wahnsinnig»

Toto Wolff wurde noch deutlicher: «Wer uns so etwas unterstellt, ist wahnsinnig, das kann man doch nicht ernst nehmen! Wieso um alles in der Welt sollten wir selber einen Fahrer zurückbinden? Wir wollen zum zweiten Mal in Folge den Marken-WM-Titel einfahren, da werden wir doch nicht freiwillig Punkte herschenken!»

«Aber mir ist natürlich auch aufgefallen, dass es in den sozialen Netzwerken sehr viel Schelte für uns gibt, und da ist der Weg nicht mehr weit zu allerlei Verschwörungstheorien. Ich reagiere in solchen Situationen immer gleich: Am liebsten würde ich solche Schwachsinnsverbreiter nicht einmal ignorieren. Der Gedanke schmerzt mich, dass wir einem Mann, der für uns zwei WM-Titel eingefahren hat, absichtlich Schaden zufügen sollten. Er hat uns nie im Stich gelassen, also wieso sollten wir ihm das zuleide tun? Nein, die Wahrheit ist einfach – dies ist ein mechanischer Sport, in dem es zu Defekten kommen kann und fertig.»

«Die beste Gegenthese ist ja, dass wir auch ein Problem im Auto von Nico Rosberg gehabt haben, bei ihm ging es um die kinetische Energierückgewinnung. Eine Weile sah es so aus, als könnte er das Rennen nicht zu Ende fahren. Das alles zeigt, dass wir am Limit operieren, um weiterhin einen Siegerwagen zu haben und unsere feine Serie fortzusetzen. Es ist uns aber auch klar: Wenn du die Grenze immer wieder zu verschieben versuchst, kommst du irgendwann mal darüber hinaus.»

Wolff kann sich dann eine abfällige Bemerkung nicht verkneifen: «Wir tun uns ein wenig schwer damit, Leute ernst zu nehmen, die mit dem Laptop auf der Brust im Bett herumfläzen und beleidigende Nachrichten tippen. Manchmal frage ich mich wirklich, was in solchen Köpfen so vor sich geht.»

«Die Leute werden jetzt vielleicht denken – warum reagiere ich so heftig auf dieses Gerede? Der Grund ist: Ich will mich schützend vor meine Jungs stellen, die sich Tag und Nacht ein Bein ausreissen, um Nico und Lewis das bestmögliche Auto hinzustellen. All die Verschwörungstheorien finde ich eine Beleidigung für ihre tägliche Arbeit. Das ist nicht zu entschuldigen und äusserst unfair. Ich will nicht, dass unsere Fachkräfte solch dummes Zeug persönlich nehmen.»

«Mit rationaler Kritik habe ich kein Problem, und wenn jemand einen fundierten Kommentar verfasst, dann kann ich damit gut leben. Wir nehmen Kritik ernst, und wir glauben, wir gehen offen und ehrlich damit um. Hin und wieder machen auch wir Fehler, dann muss man dazu stehen. In jüngerer Vergangenheit haben wir Fehler gemacht. Wir haben uns bei Lewis auch dafür entschuldigt. Nun müssen wir danach trachten, diese Fehler nicht zu wiederholen. Und glaubt mir, unseren eigenen Jungs tut es am meisten weh, wenn ihr Silberpfeil stehen bleibt.»

Heute ist die Ausgangslage im Frühling von Sotschi eine ganz Andere: Nico Rosberg ist zurückgetreten, in seinem Wagen sitzt Valtteri Bottas. Und Lewis Hamilton hat in drei Rennen zwei Mal gegen Ferrari-Star Sebastian Vettel den Kürzeren gezogen. Mehr noch: In Bahrain hat erstmals in einer Quali Bottas seinen Silberpfeil auf Pole gestellt.

Lewis Hamilton ärgerte sich über Bahrain: «In der Quali verlor ich an zwei Stellen Zeit. Zwischen den Kurven 10 und 11 klappte der verstellbare Heckflügel nicht runter, da verlor ich zwei Zehntel. Und in der letzten Kurve machte ich einen kleinen Fehler, erneut ging Zeit verloren. Ich hätte locker auf Pole stehen müssen. Dann verlor ich am Start weiter Boden, ganz alleine mein Fehler. Wenn du das verbockst, dann schmerzt es. Eine Weile. Dann musst du das verdauen und nach vorne blicken.»

In Australien bauten am Silberpfeil die Hinterreifen mehr ab als am Ferrari. Daher die Niederlage gegen Vettel. In China siegte der Engländer. Bei den Tests nach dem Bahrain-GP sprechen die Mercedes-Leute von einem Durchbruch, was das Reifenverständnis angeht. Doch übermässiger Verschleiss ist hier in Sotschi ohnehin kein Thema.

Fazit von Lewis: Statt 2:1 für Vettel müsste es 2:1 für Hamilton heissen, und eigentlich sollte der Brite nun WM-Leader sein (mit 68:61). In Russland will der Weltmeister von 2008, 2014 und 2015 das Bild korrigieren. Die Ausgangslage stimmt: Mercedes ist in Sotschi noch nie geschlagen worden – Hamilton siegte 2014 und 2015, Nico Rosberg 2016.

Damit heisst es auch: Wer in Russland gewann, wurde im gleichen Jahr Weltmeister.

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