Eric Boullier: Kimi Räikkönen hat zwei Gesichter
Ende 2009 hatte Kimi Räikkönen die Formel 1 verlassen. Er war den ganzen Rummel im GP-Sport leid. Der Weltmeister von 2007 experimentierte in der Folge mit dem Rallyesport und liebäugelte sogar mit NASCAR-Einsätzen, aber irgendwann begann ihm die Königsklasse zu fehlen. Kein Renngerät ist so extrem wie ein Formel-1-Auto.
Räikkönen heuerte für 2012 bei Lotus an, schon in Spanien stand er wieder auf dem Podest, im Sommer zeigte er vier Podestfahrten in fünf Rennen und hielt sich auf Schlagdistanz zu den WM-Favoriten Alonso und Vettel. Vor allem in der Qualifikation legte Kimi von Rennwochenende zu Rennwochenende zu.
Räikkönen hasst Verschwendung. Auch im Fahrerlager. Wenn er etwa vom Motorhome an die Boxen hinübermuss, schaut er immer zuerst durch ein Fenster auf den dazwischen liegenden Boulevard. Wenn keine Wegelagerer draussen warten, die ihm auf die Schulter klopfen oder ein Foto oder Autogramm wollen, von lästigen Journalisten ganz zu schweigen, hastet er schnell auf die andere Seite. Sonst wartet er ab. Oder er geht mit dem Handy am Ohr Richtung Boxen. Auch wenn niemand am Telefon ist.
In den Rennen beweist er phänomenale Übersicht. Er hält er sich konsequent aus jedem Schlamassel heraus. Kein Pilot fährt fairer.
Das Beste kam zum Schluss. Kimi startete in Abu Dhabi 2012 von Platz 4 aus. Das Layout der Strecke wirkte aus Lotus-Sicht sympathisch. Warm war es sowieso. Das mochte das Modell E20. «Iceman» sprintete auf den ersten Metern auf Platz 2. «Ich wusste, dass ich super starten würde, ich hatte das kurz zuvor noch einmal ausprobiert.»
Dann hetzte er den führenden Lewis Hamilton in einen Fehler. Der Brite geriet neben die Bahn, rettete sich und seine Führung aber um Haaresbreite und stabilisierte sich dann wieder. Räikkönen folgte ihm wie ein Schatten.
Aber der Engländer hatte an jenem Tag kein Glück. Nachdem Hamilton mit streikender Benzinzufuhr am McLaren ausgerollt war, lag Kimi vorne. Eine späte, aber beherzte Offensive von Alonso konterte er souverän. Fernando stöhnte nachher: «Nichts zu machen. Bei dem kannst du auf einen Fehler warten, bis zu alt und schrumpelig bist.»
Ein Klassiker wurde Abu Dhabi aber nicht nur wegen Kimis toller Leistungs, sondern vor allem wegen seiner Funksprüche.
Während er in Abu Dhabi nach Hamiltons Ausfall vorne weg pfeilte, als gebe es kein Morgen, ermahnte ihn das Lotus-Team zum Reifensparen. «Ja, ja, ja», maulte Kimi genervt zurück, «ich passe auf die Reifen auf, auf alle vier.» Dann kam Alonso mit Macht von hinten, und der Kommandostand sah sich nochmals genötigt, dem Fahrer Tipps zu geben. Doch der konterte barsch: «Leave me alone, I know what I’m doing!» Übersetzt: «Lasst mich zufrieden, ich weiss schon, was ich tue.» Der Pressesaal tobte vor Lachen.
Die Sprüche wurden Kult. YouTube verzeichnete Rekord-Klicks. Und das Team liess T-Shirts drucken: «Leave me alone…» Die ersten 600 Exemplare waren im Nu vergriffen. Der damalige Lotus-Teamchef Eric Boullier: «Ich konnte die Dinger nicht leiden. Jedes Mal, wenn es im Werk eine Diskussion gab, musstest du damit rechnen, dass ein Mitarbeiter seinen Pulli hochhebt und darunter das Shirt mit diesem Spruch erscheint.»
Als damals Kimi nur einen neuen Einjahresvertrag für 2013 unterzeichnete, meinte der Finnen nur: «Ich habe ja schon ein gewisses Alter, wer weiss schon, wie lange ich das noch mache.»
Inzwischen wissen wir es: Ziemlich lange. Kimi wird für 2018 einen neuen Einjahresvertrag bei Ferrari erhalten, er wird im kommenden Jahr 39, und er hätte in diesem Jahr ohne Ferrari-Leader Vettel in Monaco und Ungarn gewonnen. Aber Vieles hat sich verändert. Lotus gibt es nicht mehr, der Rennstall aus Enstone ist wieder das Renault-Werksteam. Und Eric Boullier ist Teamchef von McLaren. Heute sagt der Franzose bei F1i über Kimi Räikkönen: «Er ist wirklich ein ganz besonderer Pilot. Er fährt einen ganz sauberern Strich, er geht überaus behutsam mit den Reifen um. Er bremst früher als viele Gegner, nimmt aber mehr Speed durch die Kurven mit. Er ist ungefähr das Gegenteil jenes Fahrstils, den wir uns von Skandinaviern gewohnt sind.»
«Am besten ist Kimi in den Rennen. Er kann einen Rennverlauf lesen, als hätte er ein Navi im Kopf. Ich kann mich an Ungarn 2012 erinnern. Er war als Fünfter gestartet und fuhr hinter Leader Hamilton recht langsam. Ich fragte über Funk, wieso er so langsam fahre. Antwort bekam ich keine. Ihr kennt ja „lasst mich alleine“ und das alles. Und auf einmal begann er Runden zu zeigen, 1,5 bis 2 Sekunden schneller als alle anderen. Er hatte begriffen, dass er in jener Phase zulegen musste, um den vor ihm fahrenden Grosjean zu packen. Der Genfer war neben Hamilton aus Reihe 1 ins Rennen gegangen. Nach dem Stopp lag Kimi vorne und wurde Zweiter. Sein Plan war perfekt aufgegangen. Er hatte sich das alles selber zurechtgelegt, wir hatten ihm über Funk nichts dergleichen gesagt.»
Boullier findet, der Finne habe zwei Gesichter: «Kimi ist viel sensibler als die meisten Menschen glauben. Nach dem Sieg in Abu Dhabi hat er am Funk unfassbar warme Worte gefunden, es war sein erster Sieg nach der Rückkehr in die Formel 1, so emotional hatte ich ihn noch nie erlebt. Aber sobald er ausgestiegen war, befand er sich wieder im Iceman-Modus. Diese scheinbare Kälte ist nur ein Selbstschutz.»