Hintergrund Renntaktik: So geht das Unterschneiden
Die Grundlage zum 53. Grand-Prix-Sieg von Sebastian Vettel war in Singapur ein klassischer «undercut», also das Unterschneiden des Gegners – früher an die Box kommen als ein Gegner, eine schnelle Runde fahren, dadurch einen Rang gutmachen, wenn der Rivale das danach nicht ganz so flott erledigt. Dennoch fragen sich unsere Leser immer wieder, wieso das Unterschneiden manchmal so grandios funktioniert, wie bei Vettel in Singapur, und manchmal in die Hose geht. Daher will Enrico Rossi aus Lugano wissen: «Wie können ein Team oder ein Fahrer eigentlich sicherstellen, dass ein Undercut klappt?»
Die Antwort kommt vom langjährigen Formel-1-Techniker Pat Symonds (66), der heute für Formula One Management arbeitet: «Eigentlich ist die Basis für einen Undercut eine Notlage – ein weicher Reifen, mit welchem du ins Rennen gegangen bist, hat inzwischen so stark abgebaut, dass du damit weniger gute Zeiten fährst als dies mit einer härteren Mischung möglich wäre, die du frisch aufziehen lässt.»
«Das Manöver klappt dann, wenn du mit frischen Walzen schneller fahren kannst als deine Gegner, die noch immer auf den gebrauchten unterwegs sind. Vor dem Hintergrund, dass Überholen in der Formel 1 immer noch so schwierig ist, Position auf der Strecke ist alles, bedeutete dies einen klug gewonnen Rang.»
Nicht ohne Einschränkungen, wie der erfahrene Ingenieur erzählt: «Es gibt Situationen, in welchen ein Unterschneiden nicht ratsam ist. Etwa auf Pisten oder unter klimatischen Bedingungen, wenn der Reifenverschleiss auf weichen Pirelli eher niedrig ist, der Unterschied zwischen dem weichen Reifen und dem mittelharten aber gross. Dann kann es selbst nach zwanzig Runden zu früh sein, den weichen Reifen loszuwerden und auf den mittelharten zu wechseln.»
«In Singapur haben wir bei Vettel gesehen, wie prima ein Undercut klappen kann. Aber nun sind wir in Sotschi, da werden wir diesen Kniff selten erleben. Wir haben aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit wenig Verschleiss, zudem mit den Mischungen C2, C3 und C4 nicht die weichsten drei wie in Singapur.»
«Es gibt aber beim Undercut noch einen anderen Faktor: Das Team muss sehr sorgfältig beachten, wo ein Pilot nach dem Reifenwechsel auf die Strecke zurückkommt. In Singapur hat sich Ferrari betrachtet, was Nico Hülkenberg nach seinem Stopp macht. Mit harten Reifen war der Renault-Fahrer sehr flott unterwegs. Eine Lücke zwischen den Top-Teams und den Mittelfeldlern begann sich zu schliessen, anders gesagt – hätte Ferrari noch lange gewartet, hätte Vettel vielleicht nach seinem Reifenwechsel hinter Nico gelegen und wäre nicht mehr vorbeigekommen.»
«Ich glaube, Ferrari ist anschliessend davon überrascht worden, wie gut der Undercut in Singapur geklappt hat. Aber das lag auch an Vettel. Seine Runde gleich nach dem Wechsel war eine Sekunde schneller als jene von Leclerc später. Das war entscheidend für den Sieg.»
«Mercedes auf der anderen Seite hat den richtigen Zeitpunkt zum Undercut verpasst und liess Hamilton dann lange auf der Bahn, weil das in der Vergangenheit gut funktioniert hat. Möglicherweise hätte das auch dieses Mal geklappt, aber aufgrund der Safety-Car-Phasen waren die Reifen der Ferrari zum Schluss des Rennens in gutem Zustand.»