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Russland-GP in Sotschi: Bären in den Strassen

Von Mathias Brunner
​Die Formel 1 bietet nur eine Konstante: Sicher ist, dass nichts sicher ist. Im Grand-Prix-Sport sollten wir immer das Unerwartete erwarten. Ganz besonders dann, wenn wir uns auf eine Reise nach Sotschi machen.

Wenn ist nur etwas gelernt habe bei inzwischen 507 Formel-1-Rennen, dann ist es dies: Das Wort unmöglich dürfen wir im Zusammenhang mit der Königsklasse des Motorsports guten Gewissens aus unserem Sprachschatz streichen. Das Unerwartete erwarten – dieses Motto gilt für den Grand-Prix-Sport im Allgemeinen und für Sotschi im Besonderen. Denn in Russland ist alles ein wenig anders, und das beginnt beim Renngelände.

Für die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi wurde ein gewaltiger Aufwand betrieben: Das eindrucksvolle Gelände, auf dem noch während des Baus das Fundament für die spätere GP-Piste eingearbeitet wurde, begann als weisses Blatt Papier; allerdings als ein Blatt mit einem kleinen Fleck. Denn es dürfte sich um die einzige Olympia-Anlage oder spätere Rennstrecke handeln, auf welcher ¬– ein Friedhof zu finden ist. Nein, wirklich!

Was wie schwarzer Humor aus Grossbritannien klingt, ist Realität am Schwarzen Meer: Der kleine, kreisrunde, mit Bäumen geschmückte Bereich gleich neben dem Olympischen Stadion, ist die letzte Ruhestätte einer Untergruppe der russisch-orthodoxen Kirche. Das zuvor meist als Acker- oder Weideland genützte Gelände geht auf Siedler zurück, die sich vor ziemlich genau hundert Jahren dort niedergelassen hatten. Die meisten von ihnen gehörten der russisch-orthodoxen Kirche an, sie wurden in Russland jahrelang verfolgt, viele wanderten aus. Zar Nikolas II. lud sie zurück ins Land ein, die erste Siedlung entstand 1911. Vier Jahre danach wurde der Friedhof gebaut.

Ein Friedhof auf einer Rennanlage, das mag manchem etwas gespenstisch vorkommen. Ein schlechtes Omen muss es dennoch nicht sein: Der Italiener Arturo Merzario fuhr jahrelang mit Werbung für eine Firma, die Menschen zur letzten Ruhe bettete. Der kleine Arturo war immer knapp bei Kasse, also konnte er in Sachen Geldgeber nicht wählerisch sein. Doch als er 1979 am unteren Ende der Heckflügelplatte ein weisses Kreuz in einem Kreis auf schwarzem Grund spazieren fuhr, wollte Formel-1-Promoter Bernie Ecclestone dann doch wissen, um welches Produkt es sich hier handelte. Der Engländer staunte nicht schlecht, als ihm Merzario eröffnete, «La Varesina SOFAM – Onoranze Funebri» sei ein Bestattungsunternehmen. Ecclestone fand das etwas makaber, und so verschwand der Schriftzug diskret. Die Firma gibt es übrigens heute noch.

Und auf dem früheren Strassenkurs von Phoenix (Arizona) rasten die Formel-1-Rennwagen Runde für Runde an einem Bestattungsunternehmen vorbei. Das hat damals keinen gestört.

Viele Formel-1-Journalisten lassen den Russland-GP aus, so wie auch das Rennen in China. Die Visa-Bedingungen sind ihnen zu umständlich, oder sie verzichten, weil sie sich mit der Politik von Russland oder China nicht anfreunden können.

Viele jener, die doch nach Sotschi reisen, stöhnen über die strengen Sicherheitsauflagen an der Rennstrecke: Jeden Morgen packen Tausende von Menschen ihre Rucksäcke aus, stellen ihre Laptops, Handys und Tablets an (um zu beweisen, dass es sich nicht um Attrappen handelt), sie werden abgetastet und befragt (die Menschen, nicht die Laptops). Das Personal bei den Kontrollen ist unterschiedlich freundlich. Die meisten sprachen 2014 bei der Premiere nur Russisch, das machte die Kommunikation nicht einfach – denn unser Russisch beschränkte sich auf ein paar Brocken. Der Organisator reagierte schnell: Scheinbar aus dem Nichts stand einen Tag später zusätzliches Personal da, das tadelloses Englisch redete.

Viele im Fahrerlager sind bis heute von den Kontrollen genervt, aber grundsätzlich gilt: Es wird zu unser aller Schutz gearbeitet, Geduld bringt auch hier Rosen. Wenn wir auf der Welt herumjetten, regen wir uns über die Sicherheitskontrollen auch nicht mehr auf, und am Eingang des Singapur-Fahrerlagers finden ähnliche Kontrollen statt. Da hat sich aber noch nie jemand darüber aufgeredet.

Klar gibt es hin und wieder skurrile Situationen: Ein Kollege aus England musste mal eine Box Papiertaschentücher abgeben (er litt an einem starken Schnupfen) – wie man aus Tissues eine Bombe basteln soll, weiss ich nicht. Eine Kollegin aus Österreich sollte ihr Parfum abgeben. Dazu hatte sie verständlicherweise wenig Lust. Sie wehrte sich, und schliesslich zuckten die Kontrolleure nur mit den Achseln und liessen sie ziehen.

Ein Fotograf, der vor mir in einer Schlage stand, hatte eines dieser famosen Schweizer Taschenmesser mit geschätzten 276 verschiedenen Funktionen dabei. Der Ordnungshüter interessierte sich nur dafür, was das Messer alles kann. Aber mitnehmen durfte es der Mann ohne Probleme.

Über die genaue Zahl von Polizisten und Soldaten auf dem Gelände wird nie etwas bekannt. Im ersten Jahr hatten wir den Eindruck: Am ersten Tag waren mehr Ordnungshüter da als Besucher, die sich für das Training interessierten.

Natürlich wirkt die Willkür der Kontrollen seltsam: Am einen Tag musste ich meinen Pilotenkoffer bis auf den Grund auspacken, am nächsten interessierte der Inhalt keinen, ich wurde durchgewunken, und ein Mann meinte höflich «good luck». Die Ordnungshüter wirken von hellwach bis gelangweilt. Die meisten davon sind korrekt, einige rundheraus unfreundlich, wieder andere ausnehmend zuvorkommend. Nicht nur die Kontrollen sind wie an einem Flughafen, sondern auch das Personal.

Bisweilen sehen die Kollegen auch einfach nur Gespenster. Als der Besuch von Staatschef Vladimir Putin angekündigt wurde, kursierte unter den britischen Kollegen – wenn Putin komme, würden alle Funkfrequenzen gestört, um zu verhindern, dass ein möglicher Attentäter einen Sprengsatz via Radiosignal zünde. Damit wären auch zahlreiche technische Geräte der TV-Spezialisten unbrauchbar und die Fernsehübertragung des Rennens sei gefährdet. Was dann in Wahrheit passierte: Putin kam, gestört wurde niemand, alles lief glatt.

Wer dieses Gerücht damals gestreut hat, weiss heute keiner mehr. Ein Dementi hat es nie gegeben. Als ich bei den Organisatoren nachhakte, erhielt ich augenzwinkernd zur Antwort: «Wir dementieren ja auch nicht, dass in den Strassen von Sotschi die Bären frei herumlaufen.»


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