Sebastian Vettel: Nach Kritik Faust statt Zeigefinger
Sebastian Vettel
Da ist er wieder, der Vettel-Finger, wir hatten ihn seit August 2018 nicht mehr gesehen: den gereckten Zeigefinger der nach innen gedrehten, rechten Hand. Die Geste hat grosse symbolische Bedeutung: Sie bedeutet, ich bin die Nummer 1, sie kann aber auch heissen, ich habe es euch allen gezeigt (immerhin ist es der Zeigefinger). Als ich nach einem passenden Bild für diese Zeilen gesucht habe, fiel mir auf den Fotos aus Singapur auf: Der Finger ist nur selten zu sehen, viel häufiger die geballte Faust. Auch dies hat für mich Symbolkraft – ein K.o.-Schlag für die zahlreichen Kritiker, viele davon hatten den Heppenheimer bereits mindestens angezählt, wenn nicht abgeschrieben.
Spürt Vettel jetzt besondere Genugtuung? Der fünffache Singapur-Sieger sagt: «Normalerweise verfolge ich kaum, was geredet und geschrieben wird. Aber natürlich spürst du, was passiert. Ich habe sehr hohe Ansprüche an mich selber. In diesem sieglosen Jahr gab es Rennen, nach welchen ich mit mir zufrieden sein konnte. Und es gab Grands Prix, nach welchen ich mit mir hart ins Gericht gehen musste. Es ist sicher so, dass ich in diesem Jahr nicht alle Rennen hätte gewinnen können, also sieht es für mich nicht so düster aus wie vielleicht von aussen. Aber ich habe Gelegenheiten sausen lassen, weil ich patzte oder weil sonst etwas schiefging. Aber es ist jetzt nicht so, dass ich vom Gedanken beseelt bin, es allen gezeigt zu haben. Ich freue mich einfach, dass es endlich wieder mal geklappt hat.»
«Was mich besonders gefreut hat, das waren die ganzen Aufmunterungen, die mir die Fans haben zukommen lassen. Es stimmt zwar, dass ich ein Muffel bin, was die ganzen sozialen Netzwerke betrifft, aber Menschen haben schon davor Nachrichten um die Welt geschickt. Wenn du dann zuhause bist, dann findest du am Abend die Zeit, um solche Briefe zu lesen, und das war sehr berührend. Das hat mir unglaublich viel Kraft geschenkt. Es ist immer wieder verblüffend, wie viele Menschen verfolgen, was du machst. Besonders in Asien habe ich sehr viel Unterstützung. Was mich dabei so berührt hat – viele Menschen erzählten in ihren Briefen von eigenen Hürden, die sie zu meistern hatten, wie sich in ihrem Leben gegen Widerstände ankämpfen. Das sind sehr private, intime Gedanken. Und ich fand es schön, wie die Fans bereit sind, das mit mir zu teilen, um mich aufzumuntern. Das alles hat mich darin bestärkt, den Kopf nicht hängen zu lassen, sondern es immer und immer wieder aufs Neue zu versuchen. Ich habe den Glauben nie verloren, dass es eines Tages klappen wird.»
«Was die Kritiker angeht, so spüre ich weniger Genugtuung als man vielleicht erwarten würde. Ich habe Fehler gemacht, wie zuletzt in Monza, aber ich war nie der Ansicht, dass ich alles falsch mache oder dass mir der notwendige Speed abhandengekommen sei. Ich bin schon ziemlich lange in diesem Geschäft, daher weiss ich – das Blatt kann sich schnell wenden.»
«Ich spüre auch keine besondere Erleichterung. Vielleicht kommt die noch. Ich fühle eher Bestätigung. Mir war klar, dass zu einem neuen Sieg nicht viel fehlt, und aus meiner Sicht habe ich in Kanada noch immer gewonnen.»
«Was für mich viel wichtiger ist: Wir haben als Team reagieren können. In Ungarn waren wir in Grund und Boden gefahren worden, mit einer Minute Rückstand auf den Sieger. Und nun haben wir in Singapur, auf einer Bahn mit vergleichbarer Abstimmung, die Pole-Position und einen Doppelsieg herausgefahren. Das nenne ich einen Mannschaftserfolg!»
«Gleichzeitig sehe ich das aber auch so: Wir sind erst dann richtig zurück, wenn wir nicht nur einige Rennen in Folge gewinnen, sondern endlich wieder den WM-Titel. Wir bleiben bei der Entwicklung weiter am Ball, denn bei stabilem Hintergrund hilft uns jede Verbesserung des gegenwärtigen Wagens, auch fürs kommende Jahr stärker zu werden. Wir wollen wieder die Nummer 1 werden der Formel 1. Die gegenwärtigen Siege sind fabelhaft fürs Selbstvertrauen, aber wir wissen, dass wir noch sehr viel Arbeit vor uns haben.»