Blamage in Melbourne: Aus Erfahrung dümmer
Enttäuschte Fans in Melbourne
Im Albert-Park von Melbourne wird derzeit die Infrastrukur des Formel-1-Rennen abgebaut. Zum ersten Mal in 25 Ausgaben war die ganze, monatelange Vorbereitung für die Katz: Wegen der Corona-Pandemie musste die Königsklasse unverrichteter Dinge abreisen, so etwas hat es überhaupt noch nie gegeben. In Belgien 1985 konnte zwar ebenfalls kein Rennen bestritten werden, weil der neue Asphalt wegbröselte, aber damals war immerhin trainiert worden.
Viele Fans sind noch immer stinksauer. Nicht etwas, weil sie in Sachen Krankheits-Erreger SARS-CoV-2 kein Einsehen hätten. Bei steigenden Zahlen bei Covid-19-Erkrankten und Toten kann auch «down under» niemand mehr Corona wegreden. Nein, die Fans sind vielmehr wütend, weil sie finden, dass sie tagelang vom GP-Veranstalter, von der Formel-1-Führung und vom Autosport-Weltverband FIA viel zu wenig informiert wurden.
Vor vier Jahren gab es ähnlich viele Enttäuschte im Albert-Park. Am Samstag, 19. März 2016 wurde nämlich das Abschlusstraining der Formel 1 nach einem neuen Prozedere ausgetragen.
Man muss sich mal vorstellen, was damals im Albert-Park abging: Wenige Minuten vor Schluss des Qualifyings in Melbourne – theoretisch die heisseste Phase des Formel-1-Abschlusstrainings, nun sollte es für die besten Grand-Prix-Fahrer der Welt um alles gehen: Wer ist der schnellste Mann im Albert-Park?
Und dann das: Auf der Bahn – niemand. Erste Fans trotteten von den Tribünen davon, die meisten schüttelten ungläubig den Kopf darüber, was sie erlebten. Viele fluchten, völlig zu Recht. Die Formel 1 hatte sich wieder mal bis auf die Knochen blamiert. Das neue Quali-Prozedere war ein prima Beispiel für das geflügelte Wort: Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut.
In der Theorie sollte das neue Ausscheidungsverfahren die Spannung erhöhen und das Überraschungsmoment fördern. In der Praxis führte das System zum Fahrerlagerwitz: «Was ist eine Quali? Eine Qual mit einem i.»
Wie das alles wohl enden würde, wusste der frühere Formel-1-Pilot Marc Surer schon vor dem Abschlusstraining. Der Basler hatte gewarnt: «Das Ausscheidungsverfahren setzt die Teams gewaltig unter Druck. Man muss in den ersten sieben Minuten eine Zeit setzen, um eine Runde auf der sicheren Bank zu haben. 22 Autos versuchen folgerichtig, eine freie Runde ohne Verkehr zu erwischen. Damit sind vor allem in Quali 1, wenn am meisten Autos auf der Bahn sind, Durcheinander und Ärger programmiert. Behinderung könnte zum Unwort des Formel-1-Jahres 2016 werden, weil sich alle gegenseitig stören und danach bestimmt lauthals darüber schimpfen. Hinzu kommt, dass es keine Fahranweisungen über den Boxenfunk mehr geben darf und die Piloten mehr auf sich selbst gestellt sind. Einige Teams werden auch das Timing nicht hinbekommen, ihnen wird schlicht die Zeit ausgehen.»
«In Q3 werden die Piloten einen Satz Reifen brauchen, um nicht nach fünf Minuten eliminiert zu werden. Den zweiten Satz werden die Spitzenfahrer beim Versuch, unter die letzten Zwei zu kommen, verschiessen, aber einige werden zum Zeitpunkt ihres Ausscheidens gar nicht mehr auf der Bahn sein. Die beiden verbliebenen Piloten können sich somit in den letzten 90 Sekunden auf abgefahrenen Gummis nicht mehr verbessern. Denn mehr als zwei Reifensätze kann man in Q3 gar nicht verwenden. Ich gehe davon aus, dass meistens in den finalen 90 Sekunden gar nicht mehr gefahren werden wird, es wird also nicht ein tolles Duell zum Schluss Richtung karierter Flagge geben, sondern null Action auf der Bahn.»
Und genau so kam es: Der australische Rennleiter lehnte sich auf die Piste hinaus und wedelte mit Inbrust seine karierte Flagge – einer leeren Rennstrecke entgegen. Das war so skurril, dass es schon wieder Situationskomik hatte.
In der Praxis waren alle vom Blick auf die herunterzählende Uhr fasziniert, weniger vom Geschehen auf der Bahn. Einige Rennställe schickten ihre Piloten tatsächlich zu spät auf die Bahn und gaben sich damit der Lächerlichkeit preis. War es für die angeblich besten Strategen der Branche wirklich zu schwierig auszurechnen, wann der eigene Fahrer auf die Bahn muss, um nicht von der Stoppuhr abgefangen zu werden?
Entschuldigung, jeder Zweitklässler kann das.
Zum Schluss hatten die Piloten keine Reifen mehr oder sahen keine Möglichkeit, sich zu verbessern. Also wurde nicht mehr gefahren. Marc Surer hatte Recht behalten.
Ferrari-Star Sebastian Vettel brachte es auf den Punkt: «Jetzt ist die Aufregung gross, aber als das neue Quali-Prozedere angekündigt wurde, haben wir Fahrer gleich darauf hingewiesen, was passieren würde.»
Der damalige Formel-1-Promoter Bernie Ecclestone – nicht in Australien – liess aus London ausrichten, so gehe es nicht. Eine späte Einsicht, denn das Grundübel begann bei ihm.
Die meisten Formel-1-Piloten hatten sich schon vor dem Flug Richtung Australien ihre Meinung gemacht. Zum neuen Qualifikationsmodus sagten sie praktisch im Chor: «Das ist die Antwort auf eine Frage, die keiner gestellt hatte. Am früheren Qualiprozedere gab es nichts auszusetzen.»
Das Ausscheidungsverfahren, das dem neuen Format zugrunde liegt, ist im Sport keine Neuheit, um genau zu sein, hatte es die Formel 1 abgekupfert: Im Bahnradsport und beim Dirt-Track kennt man dieses Prinzip, bei dem am Ende zwei Fahrer übrigbleiben und um den Triumph kämpfen, seit längerem. In beiden Fällen handelt es sich freilich um Rennen, nicht um ein Qualifikationsverfahren.
Wieso also ein neues Abschlusstrainingsformat?
Auf diese Weise sollte das Training spannender gestaltet werden, die Fans sollten mehr Aktion auf der Bahn erleben. Im Eliminationsverfahren kann es sich ein Pilot selten leisten, unbekümmert an der Box zu stehen. Der Grundgedanke war richtig, aber wichtige Punkte wurden dabei ausser Acht gelassen.
Angefangen bei den Reifen: Wenn ein Fahrer nur eine beschränkte Anzahl des schwarzen Goldes zur Verfügung hat, muss sich niemand wundern, wenn er mit seinen Ingenieuren ausheckt – lieber noch einen Satz fürs Rennen zur Seite legen und eben im Training einmal weniger auf die Bahn gehen.
Bedenklich: Die Farce von Australien war sogar das kleinere Übel.
Bernie Ecclestone sagte gegenüber Sky Sports in England in vollem Ernst: «Ich wollte eigentlich etwas ganz Anderes. Ich wollte das bisherige Training so lassen. Dann aber sollte der GP-Sieger fürs Abschlusstrainings des folgenden WM-Laufs eine Art Zeitstrafe erhalten. Um die Startaufstellung ein wenig zu durchmischen. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass sich die Besten durchsetzen würden, aber sie hätten es nicht gar so einfach. Und wir kämen in den Genuss besserer Rennen, wenn sie sich durchs Feld kämpfen müssen.»
Ebenso diskutiert wurde eine Idee aus der GP2 oder GP3: Die ersten Acht einfach umdrehen – der schnellste Mann müsste dann also vom achten Startplatz losfahren, der zweitschnellste Fahrer von Rang 7 und so fort. Der Achtschnellste stünde auf Pole.
Aber zur DNA der Formel 1 gehört, dass der schnellste Mann belohnt, nicht bestraft werden soll. Nicht nur Traditionalisten rümpften die Nase: Warum soll sich jemand Mühe geben, um auf Pole zu fahren, dann aber nur Achter in der Startaufstellung sein?
Als Zückerchen wurde erwogen, dem zurückversetzten Besten einen zusätzlichen WM-Punkt zu geben.
Geht’s noch?
Aber glaubt ja nicht, Freunde, das Thema sei unter der neuen Formel-1-Führung vom Tisch. Auch F1-Sportchef Ross Brawn möchte am Ablauf des Abschlusstrainings herumschrauben. Modelle wie etwa ein Qualifikationsrennen anstelle des Qualifyings werden seit geraumer Zeit diskutiert. Das Ergebnis des Sprintrennens wäre dann die Startaufstellung für den Lauf am Sonntag.
Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff sprach sich eindeutig gegen ein solches Format aus. «Wir wollen nicht unkooperativ sein, aber wir haben starke bestehende Formate mit der Qualifikation und dem Rennen. Mit Experimenten sollte man sehr vorsichtig sein.»
Fakt ist: So richtig begeistert hat bislang niemand auf den Vorschlag reagiert. Ein Vorstoss von Brawn, 2020 an vier Rennwochenenden mit einem neuen Quali-Prinzip zu experimentieren, wurde von den Rennställen abgelehnt. Inzwischen hat die Formel 1, nein die Menscheit andere Herausforderungen als abstruse Quali-Ideen.
Die meisten Fans finden: Die Formel-1-Führung sollte sich um Wichtigeres kümmern als um ein anderes Quali-Format. Wieso etwas reparieren, das nicht kaputt ist? Denn wir hatten in der Vergangenheit schon einige Quali-Formen, die wenig Beifall erzeugten.
1950–1996: Abschlusstraining mal zwei
Vor der Gründung der Formel 1 wurden die Startpositionen schon mal ausgelost. Doch mit Beginn der Formel-1-WM ändert sich das: Ein entscheidendes Training am Freitag, eines am Samstag. Erstaunlicherweise änderte sich daran 46 Jahre lang nichts, selbst wenn es zahlreiche Nuancen gab. Wir erinnern uns an die Qualifikations-Reifen, die nach einer schnellen Runde in die Tonne kamen; unvergessen auch die Minutenbrenner der stärksten Turbo-Motoren in den 80er Jahren, mit Werten jenseits von 1300 PS.
Viele denken angesichts des heutigen Magerfelds von 20 Autos wehmütig zurück, als Ende der 80er Jahre eine Vorqualifikation eingeführt werden musste. Bis zu 39 Autos wollten an einem GP teilnehmen, daher wurde schon am Freitagmorgen in dreissig brutalen Trainingsminuten gesiebt.
Grosser Nachteil des lange verwendeten Formats: Nach einem Freitag bei gutem Wetter bedeutete ein Samstag im Regen, dass die Zeiten nicht mehr verbessert werden konnten. Es musste sich etwas ändern.
1996–2002: Die Stunde der Wahrheit
In nur noch 60 Minuten und bei maximal zwölf Runden wurde ab nun der Mann für die Pole-Position gesucht. Was als Thriller gedacht war, wurde teilweise zur Formel Gähn – oft warteten die besten Piloten bis zum Schluss der Quali, um auf die Bahn zu gehen, wenn die weniger schnellen Autos die Piste gesäubert hatten und sich die Strecke im besten Zustand präsentierte. Daher erneut eine Änderung.
2003: Es kann nur eine geben
Die scheinbare Lösung des Problems: Jedes Auto geht einzeln auf die Bahn. Vorteil davon – Hinterbänkler sind so lange im Fernsehen wie Top-Autos. Am Freitag gab es eine Stunde in diesem Format, die Fahrer machten sich in Reihenfolge des WM-Stands auf die Socken. Am Samstag dann die Entscheidung, dieses Mal mit dem Langsamsten des Freitags als erstem Fahrer auf der Bahn, mit dem Schnellsten ganz zum Schluss. Gefahren wurde überdies am Samstag mit der Spritmenge, mit welcher auch ins Rennen gegangen wurde. Nachteil: Wechselnde Wetterverhältnisse machten die Quali zur Lotterie.
2004: Alles am Samstag
Die beiden Einrunden-Einsätze wurden auf den Samstag verschoben. Neu zu Beginn in Reihe des Einlaufs des vorhergegangenen Rennens. Die beiden Segmente lagen nun so dicht beisammen, dass Schlitzohre begannen, bei wechselndem Wetter taktisch zu fahren. Etwa in der Art, im ersten Teil absichtlich zu patzen, um im zweiten Teil zu Beginn fahren zu können – weil Regen im Anmarsch war und es von Nachteil sein würde, gegen Ende des Trainings auf der Bahn zu sein.
2005: Zückt die Taschenrechner!
Daher die Lösung: Die Zeiten der beiden Einzel-Darbietungen wurden neu addiert. Eine Runde am Samstagmorgen mit wenig Sprit, eine Runde am Sonntagmorgen mit jener Spritmenge, mit welcher ins Rennen gegangen wurde. Dieses System mochte keiner, weil der Samstag entwertet wurde. Nach sechs GP-Wochenenden war Schluss. Für die restlichen dreizehn Qualifyings wurde nur noch am Samstag gefahren, mit Rennspritmenge.
2006/2007: Die Ausscheidung
Endlich konnten wieder mehr Runden gefahren werden, aber erstmals gab es ein Ausscheidungsverfahren mit drei Quali-Segmenten. Die Fans fanden das sehr gut, aber perfekt war es nicht – denn noch immer musste zum Schluss mit jener Spritmenge gefahren werden, die ein Pilot ins Rennen mitzunehmen gedachte.
2008/2009: Kleine Änderung
Der Quali-Dreiteiler blieb, doch jetzt konnte nach Q3 kein Kraftstoff mehr nachgefüllt werden.
2010: Das heutige Format
Nachtanken im Rennen war passé, damit konnten die Piloten im Abschlusstraining endlich wieder mit ganz wenig Benzin auf die Bahn gehen und es nach Herzenslust krachen lassen.
2016: Missglücktes Experiment
Und wie ging es damals nach der Schmach von Australien weiter? Ob Ihr es glaubt oder nicht – Ecclestone und FIA liessen das Feld in Bahrain gleich nochmals im Ausscheidungsverfahren antreten. Vermutlich unter dem Motto: Aus Erfahrung dümmer. Das Ergebnis war – wenig überraschend – gleich jämmerlich, der Ärger der Fans dafür noch lauter.
Ergebnis: Zum dritten WM-Lauf 2016 in China kehrte die Formel 1 zum bewährten System zurück.
Es gilt bis heute.