Lewis Hamilton & Ferrari: Aus einem Flirt wird Ernst
Lewis Hamilton
Jahrelang wurde in unregelmässigen Abständen in Grossbritannien das Gerücht gestreut: Lewis Hamilton wolle seine Formel-1-Karriere bei Ferrari beenden. Aber erst Ende Januar 2024 war es so weit – Ferrari verkündete, dass Lewis Hamilton 2025 für den berühmtesten Rennstall der Welt antritt.
Der Rekord-Champion sagte, damals noch als Mercedes-Fahrer: «Während meiner ganzen Zeit als Rennfahrer habe ich immer auf Ferrari geschaut. Es geht doch jedem so: Alle, egal wer sie sind oder welches Auto sie fahren, sie schauen einen Ferrari an und denken – okay, das ist schon ziemlich cool. Jeder Rennfahrer würde gerne Ferrari fahren. Aber derzeit fühle ich mich wohl bei Mercedes und sehe keinen Grund, den Rennstall zu wechseln.»
Bei einer anderen Gelegenheit, in Monza, wenn ich mich richtig erinnere, hat Hamilton bei den englischen Journalisten Schnappatmung erzeugt, denn er sagte ganz ruhig: «Ferrari? Ich rufe immer wieder dort an.»
Der GP-Star liess das einem Moment sacken, dann fügte er hinzu: «Aber nur, weil mir ihre Strassenautos gefallen! Nein, mein Zuhause ist Mercedes, und will für kein anderes Team fahren. Jeder weiss, wie ich Ayrton Senna bewundere. Und der ist ein Idol geworden, auch ohne dass er je für Ferrari gefahren ist.»
An diesem 7. Januar 2025 ist Lewis Hamilton 40 Jahre alt geworden. Sein früherer McLaren-Stallgefährte Jenson Button glaubt: «Vielleicht verlierst du in diesem Alter die letzte Schärfe. Natürlich sind deine Reaktionen mit 40 nicht gleich gut wie bei einem 20-Jährigen. Und so etwas zeigt sich zunächst im Abschlusstraining. Im Rennen macht Lewis das durch seine gewaltige Erfahrung wett.»
Tatsächlich hat Hamilton 2024 gegen seinen Mercedes-Teamkollegen George Russell krachend den Kürzeren gezogen.
Mercedes Lewis Hamilton – George Russell
Sprint-Quali 1:5
Sprint-Duell 1:5
GP-Quali 5:19
GP-Duell 7:13
Und Hamilton hat die WM 2024 auf dem siebten Schlussrang abgeschlossen, so weit hinten wie noch nie in seiner GP-Karriere seit Anfang 2007!
Aber Jenson Button sagt: «Bei Lewis erkenne ich diesen Hunger, er will unbedingt weiter siegen, und wenn ich mir seine Leistungen so ansehe, dann ist sein Renn-Speed überragend wie eh und je. Gleichzeitig wirkt er geerdeter. Ich halte ihn für den besseren Fahrer als in jener Phase, als er von Titel zu Titel eilte.»
Seit der WM-Niederlage in Abu Dhabi 2021 gegen Max Verstappen hat Lewis Hamilton in drei Jahren nur zwei Grands Prix gewinnen können – in Silverstone 2024 und in Belgien 2024. Der Sieg in Spa-Francorchamps wurde ihm durch die Disqualifikation von George Russell geschenkt.
Doch egal, ob Hamilton 2025 mit Ferrari nochmals durchstarten kann oder nicht – sein grösstes Erbe sind ohnehin nicht die Erfolge auf der Rennbahn.
Der andere Lewis Hamilton
Lewis Hamilton polarisiert, seit er die Formel 1 bereichert. Viele Fans können mit seiner eigenwilligen Frisur, den bunten Klamotten und dem Bling-Bling von Ketten, Ohrsteckern oder Nasenringen wenig anfangen. Sie finden es ein wenig seltsam, wenn Hamilton Kleiderlinien entwirft, Musik schreibt oder mit dem Hund durchs Fahrerlager geht. Aber es sind genau solche Facetten, welche aus Hamilton einen Star machen.
Aber er ist gleichzeitig Manns genug, Verletzlichkeit nicht zu verbergen – mit Mitteilungen auf seinen sozialen Netzwerken, die für einen Weltstar von verblüffend entwaffnender Offenheit sind. Das ist mutig, das zeigt Rückgrat, das ist Charakter.
In den letzten Jahren ist klargeworden: Lewis Hamilton definiert sein Vermächtnis längst nicht mehr über Siege und WM-Titel. Sein anhaltender Appell zu mehr Umweltbewusstsein ist wie ein Hilfeschrei. 2020 ist eine weitere, kraftvollere Ebene hinzugekommen – der Kampf für mehr Gleichheit und gegen Rassismus.
Es war Lewis Hamilton, der Mercedes davon überzeugen konnte, als starke Aussage die Silberpfeile schwarz zu lackieren. Wer anders als Lewis Hamilton würde ein T-Shirt tragen mit der Aufschrift: «Verhaftet die Polizisten, die Breonna Taylor getötet haben»? Wer anders als Lewis Hamilton würde aus eigener Tasche finanziert eine Kommission gründen, mit dem Ziel, mehr junge Menschen aus Minderheiten im Rennsport unterzubringen?
Lewis Hamilton sagt: «Ich folge üblicherweise meinem Herzen und mache, was ich für das Richtige halte. Und ich werde mich dabei von niemandem aufhalten lassen.»
«Ich habe so wenig über meine persönlichen Erfahrungen gesprochen, weil mir beigebracht wurde, sie für mich zu behalten, keine Schwäche zu zeigen, Widersacher auf der Strecke zu bekämpfen. Aber abseits der Piste wurde ich schikaniert und geschlagen. Und der einzige Weg, dies zu bekämpfen, war zu lernen, mich zu verteidigen, also ging ich zum Karatekurs. Die negativen psychologischen Auswirkungen sind nicht messbar.»
«Arschloch-Firmen versiffen die Welt»
Ich fand es berührend, wie Lewis Hamilton in Singapur 2017 über seine Ansichten zur Welt sprach oder in den Sommerferien 2018 mit Kumpels eine Meeresbucht von Plastikabfall befreite.
Der von Latexhandschuhen geschützte Hamilton postete Videos und Bilder und schimpfte auf seinen sozialen Kanälen: «Leute, ich möchte, dass ihr euch dessen bewusst seid, was ihr mit dem ganzen Plastik anrichtet, den ihr kauft und dann wegschmeisst. Der landet hier, es ist wirklich eklig. Wir alle müssen handeln, wir müssen aufhören, Firmen zu unterstützen, die blind auf ihren Profit fixiert sind – zu Lasten unseres schönen Planeten. Was wir kaufen, das endet an einem solch verdammten Ort am Meer.»
«Wo immer ihr auf der Welt seid und einkaufen geht – seid euch bewusst darüber, was ihr kauft und wie es eingepackt ist. Benutzt Papiertüten. Kauft nichts von Arschloch-Firmen, die Geld scheffeln und die Welt versiffen.»
Arschloch-Firmen, das ist starker Tobak. Hand aufs Herz: Wie viele Sportler kennen Sie, welche so unmissverständlich auf Missstände hinweisen?
Hamilton kann sich offenbaren. Das ist in der stromlinienförmigen, familienfreundlichen, politisch korrekten Formel 1 selten. Solche Offenheit braucht Mumm. Keiner muss Meinungen teilen, die Hamilton von sich gibt. Aber ich empfinde Respekt dafür, dass er so ehrlich sagt, was ihm wichtig ist.
Die grösste Mission von Lewis Hamilton besteht nicht mehr darin, erfolgreichster Formel-1-Fahrer zu werden, denn das ist er inzwischen, sondern darin, aus der Welt einen besseren Ort zu machen.
Ein missverstandener Champion?
Ich weiss noch, wie Lewis Hamilton im Rahmen des britischen Grand Prix 2019 darauf angesprochen wurde, wieso die Mansell-Mania aus Anfang der 90er Jahre nicht das gleiche Feeling erzeuge wie die Begeisterung der Briten für Lewis Hamilton in der Gegenwart.
Hamilton wirkte auf diese Behauptung verdutzt. «Ich weiss nicht so recht, was ich darauf sagen soll. Als ich als kleiner Bub in Stevenage aufgewachsen bin, da hätte ich nie gedacht, dass mir ausser Mum and Dad mehr Menschen zur Seite stehen.»
In den Zeiten vor Corona galt für Lewis Hamilton: Hier eine Modeschau in Mailand oder Paris, da ein Dinner mit einer Sängerin oder einem Supermodel in New York, ab ins Musikstudio nach Los Angeles, dann weiter nach Shanghai zur Präsentation der eigenen Modelinie. Lewis Hamilton war im Grunde der einzige richtige Formel-1-Star mit weltweitem Glamour, ein Globetrotter in Turbo-Speed.
Er selber hat dieses Playboy-Image nie verstanden: «Ich führe kein Jetset-Leben. Ich trainiere mindestens so hart wie die Anderen. Ich weigere mich einfach, ein fades Dasein zu fristen, nur weil ich Rennfahrer bin. Da gibt es eine Schablone, die irgendeiner mal für einen Rennfahrer entworfen hat. Du musst ein Spiesser sein und hübsch in die Schachtel des Modellrennfahrers passen, leider steht auf dieser Schachtel ‘stinklangweilig’. Mach ja nichts Anderes als Tag und Nacht an den Rennsport zu denken! Ja kein Spass, ja kein Lächeln! Da komme ich mir vor, als wäre mir geraubt worden, normal heranzuwachsen. Ich hängte nicht mit Kumpels ab, ich war ständig auf den Sport fokussiert, immer pflichtbewusst, immer ernsthaft.»
«Ich probiere heute gerne Neues aus. Doch ich bin deswegen nicht weniger auf meinen Job konzentriert als meine Arbeitskollegen. Sie leben vielleicht anders. Sie gehen nach einem GP-Wochenende nach Hause, du triffst sie nicht bei Veranstaltungen. Aber ich trainiere mindestens gleich viel wie sie, wenn nicht härter, auch wenn ich noch all das andere Zeugs mache.»
Bei aller Reife und Ernsthaftigkeit ist Lewis Hamilton im Kern der kleine Bub aus Stevenage geblieben. Dieses Glitzern in den Augen, wenn er von einem Erlebnis schwärmt wie etwa vom Kartfahren mit Kids, samt Herumblödeln für alberne Instagram-Fotos, diese Verletzlichkeit, wenn er einen Tiefschlag verdauen muss und offen darüber redet – Hamilton ist stets sich selber treu, zum Glück für uns ist er ein miserabler Schauspieler.
Die Formel 1 soll doch Emotionen wecken. Fahrer, die mit eintöniger Stimme auswendig gelernte Floskeln von sich geben, wecken keine Emotionen.
Hamilton wird von vielen verehrt, von anderen verschmäht. Aber er lässt keinen kalt.
Lewis Hamiltons Landsmann Nigel Mansell findet: «Lewis Hamilton wird nur von einem Faktor beschränkt – nämlich von sich selber. Wenn das innere Feuer lodert, wenn er sich weiter so motivieren kann, dann gibt es für Hamilton fast keine Grenzen.»
Nun ist dieser Mann 40 Jahre alt. Wo führt ihn das in der Tabelle der ältesten Formel-1-Fahrer eigentlich hin?
Die 10 ältesten Formel-1-Fahrer
1. Louis Chiron (MC), 55/9/19
2. Philippe Etancelin (F), 55/6/8
3. Arthur Legat (B), 54/7/20
4. Luigi Fagioli (I), 53/0/22
5. Adolf Brudes (D), 52/9/19
6. Hans Stuck (D), 52/8/17
7. Bill Aston (GB), 52/4/5
8. Clemente Biondetti (I), 52/0/16
9. Louis Rosier (F), 50/9/0
10. Rudolf Schöller (CH), 50/3/7
Und Lewis Hamilton? Er ist mit seinen 40 Jahren eben mal auf Rang 115 zu finden.