Urteil gegen Mercedes und Pirelli: Wer verwarnt FIA?
Schon vor der Urteilsverkündung war klar: Was immer die fünf Richter des FIA-Tribunals entscheiden, es würde heisse Köpfe und viel zu reden geben. Die einen werden das Urteil angemessen finden, die anderen werden es als unverständlich bezeichnen. Erste Reaktionen, die elektronisch um die Welt sausen – das Urteil ist überraschend milde ausgefallen. «Wer verwarnt nun eigentlich die FIA für diesen Schlamassel?» twittert der eine, «Mit dem Geld für die Anwälte in dieser Affäre hätte man für alle Teams einen Dreitages-Test bezahlen können», höhnt ein anderer.
Edwin Glasgow, als Präsident des Tribunals, Laurent Anselmi (Monaco), Chris Harris (USA), Patrick Raedersdorf (Schweiz) sowie Tony Scott-Andrews (Grossbritannien) waren für ihren Spagat wirklich nicht zu beneiden: Das Urteil musste nicht nur dem Recht Genüge tun, sondern auch der Gerechtigkeit. Das eine lässt sich auf Gesetze und Paragraphen stützen, das andere ist eher ein Bauch-Gefühl, bei jeden Mensch wieder anders gelagert.
Viele fanden vor der Anhörung auch: Das Urteil sollte ein deutliches Signal setzen. Eine geringe Geldbusse beispielsweise hätte den Eindruck vermittelt – Testfahrten sind käuflich. Nun lautet der Tenor der Reaktionen: Schuldig ja, aber sind eine Verwarnung und eine Ausschluss vom Nachwuchsfahrer-Test eine angemessene Strafe? Nochmals ein Mitglieder der Twitter-Gemeinschaft: «Der einzig wirklich Gestrafte ist nun einer, der sich nie hat etwas zuschulden kommen lassen – Mercedes-Testfahrer Sam Bird.»
Schon im Laufe der Anhörung gestern zeichnete sich ab, dass Mercedes einen schweren Stand haben würde, Unschuld zu beweisen. Die vier Haupt-Argumente von Verteidiger Paul Harris zogen nicht. Argument 1: Man habe sich bei der FIA genügend erkundigt, ob der Test erlaubt sei (was die FIA in Abrede stellte). Argument 2: Der Test wurde von Pirelli durchgeführt, nicht von Mercedes (was zwar stimmt, aber nicht Fall-entscheidend ist). Argument 3: Man habe beim Test nichts gelernt (FIA-Ankläger Mark Howard: «Schon die Aussage, man habe nichts gelernt, bedeutet nichts anderes, als dass man sehr wohl etwas gelernt hat.». Argument 4: Ferrari habe schliesslich auch schon getestet (was in diesem Fall irrelevant war, denn Ferrari sass nicht auf der Anklage-Bank). All diese Argumente wurden von FIA-Ankläger Mark Howard entkräftet, oder gleich zerpflückt.
Vielleicht änderte sich auch deshalb gegen Schluss der Anhörung der Ton von Mercedes-Anwalt Harris. Beinahe schon wie Schuld-Eingestängnis wirkte zum Schluss des langen Tages an der Pariser Place de la Concorde sein Vorschlag: Im Falle einer Strafe wäre der Ausschluss vom Nachwuchsfahrer-Test im kommenden Juli eine angemessene Bestrafung, denn, so Harris, dort lerne man als Rennstall erheblich mehr als beim Reifentest. Harris entschuldigte sich auch für seinen Mandanten – man habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, und wenn man sich etwas zuschulden kommen liess, dann tue das Mercedes leid.
Jetzt, nach dem Urteil, hinterlässt es einen schalen Geschmack im Mund, dass das Gericht dem Straf-Vorschlag des Mercedes-Verteidigers gefolgt ist.
Es war abzusehen, dass nicht alle mit dem Urteil glücklich sein würden. Mercedes-F1-Aufsichtsrat Niki Lauda: «Das Urteil der FIA ist korrekt und im Sinne des Motorsports.»
Red-Bull-Chefberater Dr. Helmut Marko: «Es ist eine Bestrafung ausgesprochen worden. Doch es ist nicht jenes Urteil, das wir erwartet hatten.» Der Le-Mans-Sieger von 1971 ist gewiss nicht der einzige, der mit einer härteren Strafe gerechnet hatte.
Hat die milde Strafe den Kopf von Ross Brawn gerettet?
Die Frage ist nun: Wie geht es bei den beteiligten Parteien weiter?
Bei Mercedes wird zu klären sein, ob für den Schuldspruch auch ein Schuldiger gefunden werden muss, der die Konsequenz zu tragen hat, oder ob man die Kröte schluckt und zur Tages-Ordnung übergeht. Schon im Rahmen des Kanada-GP hatte Teamchef Ross Brawn klar gemacht: «Das Ja zum Test habe ich gegeben, also bin ich allein auch dafür verantwortlich.»
Im Formel-1-Fahrerlager schwirren genügend Zyniker herum, die schon damals zwischen den Zeilen witterten: Der Fall wäre für Mercedes ein Weg, Brawn zu opfern, um den Weg für den von McLaren geholten Paddy Lowe freizumachen. Mercedes-Rennchef Toto Wolff hat dagegen wiederholt festgehalten, zu Ross Brawn zu stehen.
Informanten aus dem Umfeld von Ross Brawn beteuern: Der Stolz des Weltmeister-Machers würde es nie zulassen, sich auf unehrenhafte Weise aus der Formel 1 zu verabschieden. Vielmehr wolle Brawn endlich die Früchte seiner jahrelangen Arbeit für Mercedes ernten.
Der Anhörungsverlauf und das milde Urteil dürften kaum eine Grundlage dazu geben, Ross Brawn fallen zu lassen.
Pirelli muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen: Transparenz sieht anders aus – vor, während und nach dem Test. Das gilt auch für die Test-Arbeit mit Ferrari. Das fand das FIA-Gericht für bestrafenswert.
Auch hier hatten Schwarzmaler gepredigt: Sollte Pirelli hart bestraft werden, dann könnten die Mailänder Knall auf Fall die Formel-1-Bühne verlassen. Das dürfte kaum passieren.
Aber auch bei der FIA selber muss einiges in Frage gestellt werden: Der Fall hat aufgezeigt, dass das Reglement löchrig oder schwammig formuliert ist und verbessert gehört. Der Fall hat auch gezeigt, dass die Kommunikation mit den Rennställen optimiert werden muss.
Und wie ist die erste Härteprüfung für das von der FIA geschaffene Internationale Tribunal ausgefallen? Erzeugt dieses Urteil mehr Ehrfurcht vor Gesetzen und Reglement? Hat das Gericht ein Urteil gefällt, das Respekt einflösst und nachvollziehbar ist?
Vielleicht drückt es der frühere Grand-Prix-Fahrer Martin Brundle am treffendsten aus: «Der ganze Fall hat sich als viel Lärm um nichts erwiesen. Und ich kenne so manches Team, das liebend gerne den Nachwuchsfahrer-Test gegen einen richtigen Dreitages-Test eintauschen würde.»