Luftfederbein: Ein Tüftler hat Durchbruch geschafft
Serge Glasson ist 79, pensioniert und wohnt im Norden Frankreichs, in der Nähe von Belfort. Vor seiner Pensionierung war er Renault-Händler mit eigener Garage. Mit seiner Hände Arbeit und zusammen mit seiner Frau zog er vier Kinder gross. Im Gelände Motorrad gefahren ist er schon in jungen Jahren. Basis für seine erste Motocross-Maschine war der 250er Motor einer NSU Max, für die er selber ein Chassis baute.
Initialzündung für die Entwicklung der Luftfederbeine waren vor bald 40 Jahren die Ersatzteilpreise des britischen Kleinserienherstellers CCM. «1981 kaufte ich eine Motocrossmaschine von CCM. Nach einer halben Saison waren die Federbeine kaputt. Das Material für die Reparatur war unverschämt teuer. Da habe ich mir grad selber ein Paar Luftfederbeine gemacht», erzählt Serge von den Anfängen. «1985 habe ich dann ein Zentralfederbein gebaut, nach dem gleichen Prinzip, das ich patentieren liess.» Mehrere schnelle Fahrer testeten das Federbein und wollten es im Rennsport einsetzen, aber irgendwie kam das nie zustande und Serge musste sich ja um seine Familie und die Renault-Vertretung kümmern.
Der Daniel Düsentrieb von Frankreich
Wenn man bei Serge zu Besuch ist, geht der Gesprächstoff nie aus, immer wieder erwähnt oder zeigt er weiterere Konstruktionen oder Projekte. Die Fensterscheiben am Wintergarten seines Hauses lassen sich bei Sonnenschein nicht wegfalten oder –schieben, sie versinken lautlos im Boden. «Die Fensterbauer wollten mir ein hydraulisches System mit elektronischen Steuerungen andrehen. Aber das kann man viel einfacher lösen», lächelt Serge. Die beiden Fensterscheiben, je ca. 200 kg schwer, sind mit Drahtseilen über Umlenkrollen mit Gegengewichten verbunden. Darum braucht es kaum Kraft, um die Scheiben zu bewegen. Zwei Auto-Scheibenwischermotoren bewegen über Keilriemen die Umlenkrollen und fahren so die Scheiben rauf und runter. Die Keilriemen sind nur so stark gespannt, dass es grad reicht, um die Bewegung auszuführen. Ist die Scheibe ganz oben oder unten, schleifen die Riemen, ebenso, wenn jemand seine Hand zwischen Scheibe und oberem Rand einklemmen würde.
Die Sonne scheint angenehm auf den fensterlosen Wintergarten, und Serge erzählt, dass er auch Bergrennen gefahren sei, mit einem Eigenbau-Sportwagen. «Triumph und MG waren zu meiner Zeit die führenden Marken für schnittige Zweisitzer. Doch die konnte ich mir nicht leisten. Da habe ich mir halt selber einen Sportwagen gebaut.» Unsere Neugier ist geweckt, und Serge holt den Glasson aus der Garage. Das niedrige Sportwägelchen trägt seinen Namen, es gibt nur eines, und es hat französische Strassenzulassung. Teile der Aufhängung, Motor und Getriebe stammen aus einem Renault Alpine. Das Gitterrohrchassis, die Polyesterkarosserie und unzählige Kleinteile hat Serge selbst gebaut. Das Mittelmotorwägelchen ist Baujahr 1965, der Vierzylinder mit zwei Weber-Doppelvergasern leistet etwa 180 PS. Es gibt Finessen wie eine mechanisch einstellbare Bremsbalance. Gas- und Bremspedal sind so platziert, dass man mit dem Absatz bremsen und gleichzeitig mit der Fussspitze Gas geben kann. «Ich habe damit an lokalen Bergrennen Kategoriensiege geholt. Auf der Rundstrecke brauchen Konkurrenten 240 PS oder mehr, um mir zu folgen, denn mein Auto wiegt nur 550 kg», schmunzelt Serge.
Zumindest gutes Essen und unterhaltsame Geschichten
Wir sind ja nach hergekommen wegen Gilles Salvador, der ein paar Kilometer weiter in einem ehemaligen Bauernhaus am Waldrand wohnt. Gilles (60) fuhr 1986 als Privatier seine erste (von vier) Dakar-Rallye und kam auf Anhieb ins Ziel. Er fuhr Motocross, Enduro und Strassen-Langstreckenrennen, aber erst mit 40 wurde er Supermoto-Werksfahrer für KTM und gewann zwei französische und einen EM-Titel. Heute bietet er Supermoto-Kurse und Endurotouren an. Er wusste schon lange vom Glasson-Luftfederbein, hatte aber erst nach seiner aktiven Laufbahn die Zeit, Serge zu motivieren, das Federbein wieder hervorzuholen.
An einem Luftfederbein sind zuletzt BMW und Continental grandios gescheitert, die serienmässig in den Enduros HP2 und Xchallenge verbauten Luftpumpen-Federbeine waren im Gelände unbrauchbar. Und nun soll, so Gilles, sein 79-jähriger Nachbar schon vor bald 40 Jahren die Lösung gefunden haben? Ich bin hochgradig skeptisch. Doch Gilles ist nicht nur ein sehr guter Motorradfahrer, sondern auch ein begnadeter Hobbykoch und ein unterhaltsamer Geschichtenerzähler. Also besuche ich Gilles mal wieder, um mich von ihm bekochen zu lassen und dabei seinen Stories zu lauschen.
Wo bitte ist mein Hinterrad geblieben?
«Wie viel kostet es?» Das ist meine einzige Frage nach zwei Runden auf einer Teststrecke in den Wäldern nördlich von Belfort. Ich wäre sofort bereit, in meiner Brieftasche nach einem vierstelligen Betrag zu suchen für dieses Federbein.
Aber der Reihe nach: Testfahrzeuge sind zwei KTM EXC 350, die eine mit Standard-Federelementen, die andere ist das private Motorrad von Gilles. Wir sind kurz nach acht losgefahren, über mehrere Hügelzüge, ich auf der konventionellen Maschine, Gilles luftgefedert. Das Terrain ist schlammig-rutschig, es gibt steinige und felsige Passagen, teilweise liegt Schnee.
Gut aufgewärmt kommen wir zu einer Enduro-Trainingsrunde im Wald, die schnelle Passagen, ein langes Steinfeld bergauf und einen von Felsenstufen durchsetzten Abstieg beinhaltet. Ich fahre zwei Runden konventionell. Die 350er KTM ist ein sehr guters Motorrad für einen Hobbyfahrer wie mich, die Federelemente funktionieren in der Serienabstimmung auf hohem Niveau.
Ich lockere die Arme, während das Glasson-Luftfederbein aus Gilles`Motorrad eingebaut wird. Der Luftdruck der Kammer für den Durchgang muss leicht erhöht werden, weil ich etwas schwerer bin als Gilles. «Nur durch Anpassung der Drücke in den drei Kammern und der Stellschrauben der Dämpfung kannst du aus diesem Enduro-Federbein eines für Motocross machen», bemerkt Gilles nebenbei.
Dann fahre ich los und bin auf den ersten Metern total irritiert: Ich spüre kein Hinterrad! Die Gabel morst die Beschaffenheit der überfahrenen Steine und Absätze in den Lenker, vom Hinterrad kommt praktisch keine Rückmeldung. Schon ist er da, der kleine Bach, und es geht ins Steinfeld aus kantigen Brocken. Es ist, als hätte ich ein riesiges Hinterrad eingebaut, mit einem Landwirtschafts-Niederdruckreifen drauf, der Steinbrocken, Schläge und Kanten einfach wegschluckt. Die Traktion reisst auch über rutschig schimmernde Stellen nicht ab, das Heck scheint an den Boden geklebt und keilt auch nie aus – so ist es viel einfacher, sich in zentraler Position zu halten. Weiter über eine schnelle, vom vielen Befahren wellig gewordene Passage. Das Heck pumpt leicht, aber nie federt es unvermittelt heftig aus. Bergab über die Felsen dann wieder sensationelle Bremstraktion am Hinterrad, wodurch das Motorrad ruhiger liegt und einfacher zu platzieren ist.
Vor der nächsten Runde ziehe ich die Dämpfung eine Vierteldrehung an. Ich habe mich ans Gefühl eines teilentkoppelten Hinterrades gewöhnt, man spürt Traktion und Seitenführung, aber die kleineren Unebenheiten sind vollständig weg. Gröbere Schläge kommen mehrfach abgefiltert durch. Im Steinfeld setzt die Gabel das Limit. Die Pumperei in den Wellen ist nun praktisch weg, von einer Verschlechterung des Ansprechverhaltens auf steinigen oder felsigen Passagen ist nichts zu spüren.
Graupelschauer, Regensturm: Ideale Bedingungen
Zwei Runden sind abgemacht, zurück zur Basis, Rückbau des Luftfederbeins in Gilles` Motorrad, das mit einer Luftgabel ausgerüstet ist, an der Serge und Gilles gemeinsam tüfteln. Als ich damit losfahre, setzt Graupelschauer ein – wir haben echt Wetterglück und testen bei optimalen Bedingungen. Die Gabel funktioniert weit besser als das Serienteil, setzt aber immer noch das Limit, die Hinterhand kann man praktisch vergessen: Komfort wie eine Sänfte, Traktion unter harschesten Bedingungen, kein Auskeilen des Hecks auf schräg angefahrenen Felsbrocken und Kanten. Schneller fahren, Dämpfung noch eine Vierteldrehung anziehen, entgegen der Abmachung eine dritte Runde im Regensturm. Zum Schluss eine Kontrollrunde mit dem Serienmotorrad. Hätte ja sein können, dass wir eine Spur freigefahren haben und ich mich darum täuschen liess – was nicht der Fall ist, ich bleibe bei meinem enthusiastischen Urteil.
Für den Rückweg, eine phantastische Runde durch die Wälder, garniert mit Aufstiegen und Abfahrten, überlässt mir Gilles nochmals sein Motorrad. In Erinnerung bleibt eine schnelle Gerade, garniert mit tiefen Schlaglöchern: Auf den harten Kanten hätte es einem jedes Mal eins reingehauten von hinten, mit dem Glasson-Federbein kommen die Schläge gefühlt um den Faktor 5 abgemildert. Weitere Feststellung: Man braucht in schwierigen Passagen weniger Kraft in den Armen, weil das Motorrad die Spur besser hält und man viel weniger korrigierend eingreifen muss. Zurück am Ausgangspunkt ist das Federbein gut handwarm. Eine Veränderung der Charakteristik gibt es nur zu Beginn der Fahrt, wie Gilles einräumt: Bei kaltem Wetter fährt man die ersten zehn Minuten mit zu viel Durchhang – das nähme ich für diesen Komfort- und Traktionsgewinn lächelnd in Kauf.
Von diesem Traktions- und Komfortgewinn profitiere ich auch bei einer längerer Erprobung des Glasson-Luftfederbeins, eingebaut in mein privates Motorrad, eine KTM 525 EXC Racing von 2007 mit mehr als 600 Betriebsstunden. Das Zweitage-Enduro von Faulx (Nordfrankreich) war mit Tagesdistanzen von 200 und 187 km und insgesamt 12 Sonderprüfungen, davon mehrere mit künstlichen Hindernissen, kein Kaffeefährtchen. Die Federbein-Abstimmung erfolgte hinter Gilles’ Haus und war in fünf Minuten erledigt. Ich beliess die Einstellung während der ganzen Renndistanz unverändert, das Federbein funktionierte konstant auf dem beschriebenen, hohen Niveau, obwohl morgens Rauhreif auf den Motorrädern war und es am Nachmittag recht warm wurde. Dank des exotischen Federbeins war mein veraltetes Motorrad immer wieder von interessierten Kollegen umringt. Mein Fazit: Vielen Dank Serge, für deine Hilfe in rutschigen Auffahrten – davon gab es nur ein paar wenige – die unzähligen Stösse und Schläge, die du von mir ferngehalten hast, habe ich nciht vermisst.
Wie hat er das bloss hingekriegt?
Versuche mit Luftfederbeinen hat es immer wieder gegeben. Dafür spricht, dass sich Luft beim Komprimieren stark progressiv verhält: Je weiter das Rad einfedert, je mehr Kraft braucht es, was beim Motorrad ideal ist. Hebelsysteme sind deshalb überflüssig. Dagegen spricht eine starke Veränderung der Charakteristik bei Erhitzung des Luftpolsters und allenfalls Probleme mit der Abdichtung.
Das Glasson-Federbein arbeitet mit drei Luftkammern, befüllt mit unterschiedlichen Drücken. Die Luftkammer für den statischen Durchgang (mit Fahrer) wird gebildet mit einem Kolben im Hauptkolben. Die Hauptkammer ist ergänzt mit einer dritten Kammer, welche erst gegen Ende des Federwegs in Funktion kommt und hartes Durchschlagen verhindert. Die Einfederbewegung wird kontrolliert nur durch diese drei Luftkammern, eine hydraulische Dämpfung gibt es nur für die Ausfederbewegung, dafür aber je eine für langsame Bewegung (zB Wellen) und eine stärkere Dämpfung zur Unterbindung eines auskeilenden Hecks, wenn das Rad nach einem harten Schlag weit eingefedert ist.
Seit vier Jahren werden im Motocross Luftgabeln eingesetzt, die sich im Enduro noch nicht durchsetzen konnten, weil das Ansprechverhalten nicht überzeugt. Für Serge keine Überraschung: «Das Volumen in den Gabelholmen ist zu gross, es muss mit zu hohen Drücken gearbeitet werden.» An ihrer Gabel experimentieren Gilles und Serge mit einem kombinierten Aufbau: Die Federn sind um 7 cm gekürzt. Zu Beginn des Federwegs funktioniert das als reine Luftgabel, die konventionellen Spiralfedern unterstützen das Luftpolster nach 7 cm Federweg zunehmend. «Wir haben eine reine Luftgabel gebaut, doch die tauchte vor allem in Abfahrten zu tief ein. An der Gabel, die du gefahren bist, ist das besser, aber noch nicht zufriedenstellend», sagt Gilles, der vom Potential dieser Konstruktion überzeugt ist.
In der Schweizer Enduromeisterschaft setzen Nachwuchsfahrer Thibaut Leiser und Enduro-Urgestein Celso Gorrara das Glasson-Federbein seit zwei Jahren ein. Eine Kleinstserie von 20 Stück wurde kürzlich produziert, diese Federbeine sollen im Rennsport erprobt werden. Von einer Serienproduktion ist man noch weit entfernt. «Dafür brauchen wir einen Partner, wir können das nicht», sagt Gilles. Serge hat noch mehr Ideen: «Ich möchte ein Federbein für ein Rennstreckenmotorrad bauen. Auf der Rundstrecke ist Traktion ein wesentlicher Faktor. Und man könnte das Federbein mit der Kühlflüssigkeit des Motors umspülen und hätte so eine konstantere Temperatur, unabhängig von Wetter und Bodenbeschaffenheit.»