Silverstone-Absage: Was ist wirklich schief gelaufen?
Silverstone: Sogar in der Boxengasse standen die Pfützen
Als die Bemsee Club Riders mit ihren Mini-Twins (650-ccm-Serienmaschinen) im Frühjahr 2018 auf dem neuen Silverstone-Belag ihre Rennen absolvierten, wurden bereits Klagen über den Belag laut. Von Wheelspin auf der Hangar Straight wurde berichtet. Und die Fahrer der Powerbikes (alias Superbikes) berichteten von heftigem Aquaplaning auf der Hangar-Geraden vor Turn 7. Sie erzählten von tiefen Pfützen, wie man sie noch nie gesehen hatte und von einer Gischt, die alles bisherige übertraf.
Ein renommierter Rennstrecken-Konstrukteur, der seit 1980 Race Circuits plant und errichtet, sagte klipp und klar: «Das Regenwasser läuft nie durch den Asphalt hindurch ab. Es rinnt über den Asphalt hinweg. Deshalb brauchst du mindestens eine Schräge von 2 Grad Gefälle links und rechts, um das Wasser von der Fahrbahn zu bekommen»
Einige Michelin-Techniker mutmaßten in England, es sei von der Firma Aggregate Industries ein Bitumen aufgebracht worden, das mit chemischen Substanzen angereichert worden sei, um den Grip zu erhöhen. die Rundenzeiten um 2 Sekunden zu senken.
Der Silverstone Circuit hatte seit 1996 keine komplette neue Asphaltschicht mehr erhalten, es bestand ein Flickwerk mit etlichen unterschiedlichen Asphaltschichten.
Also wurde für den Grand Prix 2018 ab 23. Januar ein neuer Belag aufgetragen. Den Auftrag bekam Aggregate Industries, ein Konzern mit einem Jahresumsatz von 1 Milliarde Pfund. Das Unternehmen ist für das die Hälfte der Asphaltgeschäfte in England zuständig. Als der Belag fertig war, wurde England von einer extremen Kältewelle heimgesucht, dann folgte der heißeste und trockenste Sommer seit Jahrzehnten.
Die Hitze sollte dem Asphalt nicht zusetzen, denn er wird mit 350 Grad Hitze zubereitet – und ist die Hitze gewöhnt.
Die Kälte im Februar bildete ein Problem, denn bei kalten Temperaturen kühlt das Bitumen beim Ausbreiten des Belags zu schnell aus, die Oberfläche lässt sich dadurch nicht gut behandeln, der verlangte 2-Grad-Winkel für die Drainage lassen sich dadurch schwer verwirklichen, das Material erreicht die verlangte Kompaktheit nicht.
Als Safety Officer Franco Uncini Ende Februar den neuen Belag besichtigte, schien alles in bester Ordnung zu sein. Es zeichneten sich auch keine Bodenwellen ab.
Aber den wahren Test erlebt so ein Belag in der Praxis, mit echten Rennmaschinen und bei unterschiedlichen Witterungsverhältnissen.
Der neue Belag wurde bei Rennen mit Bikes und Autos mehrmals auf die Probe gestellt, Im April traten die Bemsee-Fahrer auf, das ist Großbritanniens ältester Motorradclub.
Die Motorradfahrer erzählten von Aquaplaning bei starkem Regen auf der Hangar Straight, das ist die Gerade vor Turn 7, die auch im FP4 beim Silverstone-GP für Ängste sorgte. Ein paar Wochen später klagten die Formel-Ford-Piloten über ähnliche Probleme. Einige von ihnen drehten sich ins Kiesbett, weil an mehreren Stellen auf der Strecke tiefe Wasserpfützen standen.
Im Mai vor dem Le-Mans-GP drehte Cal Crutchlow mit einer Honda RCV213-S-Motorrad einige Runden mit Slicks. Er zeigte sich vom Belag beeindruckte und sagte einen neuen Rundenrekord voraus.
Der ehemalige 500-ccm-Sieger Simon Crafar fuhr im Frühjahr bei einem Track Day um die Piste und meinte, man müsse einige Bodenwellen ausbügeln. Tatsächlich wurden dann Arbeiter auf die Piste geholt und der Belag an einigen Stellen neu abgeschliffen. Aber dadurch litt der Grip.
Von 6. bis 8. Juli wurde der neue Belag durch den Britischen Formel-1-GP strapaziert. Danach folgte die Endurance-Sportwagen-WM mit einem 6-h-Rennen am 17. August. In beiden Rennserien werden «skid blocks» verwendet, die am Ende der Hangar-Geraden den Belag abschmirgelten.
Deshalb war das Letzte, was der Promoter des British Motorcycle Grand Prix brauchte, ein komplett verregneter Rennsonntag.
Am Sonntag um 11.30 Uhr sollte gestartet werden. Aber in der Besichtigungsrunde setzte der Regen ein, es wurde ein Dauerregen daraus. Schon beim Verlassen der Boxengasse Richtung «Maggotts» standen die Fahrer quer.
«Ich habe in der Besichtigungsrunde im zweiten und dritten Gang nur 15 Prozent Gas, aber das Hinterrad drehte bereits wie verrückt durch», schilderte Suzuki-Pilot Alex Rins, der am Samstag im FP4 bei mehr als 170 km/h vom Motorrad springen musste, weil er beim Anbremsen von Turn 7 vom Aquaplaning überrascht wurde.
Was kann daraus gelernt werden? Natürlich ist der Betreiber Silverstone Circuits für den Zustand der Piste verantwortlich. Wir wissen nicht, wie der Auftrag an Aggregate Industries im Detail aussah. Dazu hat man die Beschwerden der Clubfahrer und der Formel-Ford-Asse nicht ernst genommen. Und Dorna und FIM müssen sich Gedanken machen, wie man künftig sicherstellen kann, dass es nicht noch einmal zu einem solchen Trauerspiel und es nicht bald wieder zu einer GP-Absage kommt. Es war die ersten GP-Absage seit dem Schneechaos in Salzburg 1980.
Einige Frage sind noch nicht geklärt: War der neue Belag von Anfang an mangelhaft? Ging bei der Aufbringung der Asphaltschicht etwas schief? Und wenn ja, auf welche Weise? Oder wurde der Belag zu früh durch die Formel-1-Autos mit ihren starken Downforce belastet?
Die Antworten werden noch lange auf sich warten lassen.