KTM: Warum die Weichen neu gestellt werden müssen
Der 59-jährige Mike Leitner kennt das GP-Business seit fast 40 Jahren. Deshalb war ihm nach dieser Saison bewusst, dass er für die schwankenden Leistungen von KTM in der MotoGP als Ressort-Verantwortlicher den Kopf hinhalten muss. Der Oberösterreicher wirkte beim Saisonfinale in Valencia vor zwei Wochen angespannt und angezählt.
Die Ergebnisse beim Saisonstart in Doha/Katar und in der zweiten Saisonhälfte entsprachen nicht den Ansprüchen des Werksteams aus Munderfing.
Nach der famosen Saison 2020 (drei Siege, dazu insgesamt fünf dritte Plätze durch Pol Espargaró, Platz 5 in der Fahrer-WM 4 Punkte hinter dem Dritten Rins), Platz 4 in der Marken-WM vor Honda – das war schwer zu übertreffen.
In diesem Jahr wurde KTM in der Konstrukteurs-WM auf Platz 5 verwiesen, in der Team-WM landeten die zwei Rennställe von Red Bull und Tech3 auf den Plätzen 6 und 11 – unter elf Teams. Und einer der zwei MotoGP-Saisonsiege war in erster Linie der Entscheidungsfreudigkeit und der Fahrkunst von Brad Binder (mit Slicks im strömenden Regen) beim zweiten Spielberg-GP zu verdanken.
Zu allem Überdruss wurde KTM im August und September vorübergehend vom italienischen Rivalen Aprilia in den Schatten gestellt – Aleix Espargaró trumpfte in England mit Platz 3 auf.
Ausgerechnet in einer Phase, als KTM in Misano den besten der vier Fahrer im Quali auf Platz 17 brachte.
Leitner: «Nicht alles falsch gemacht»
«Wir haben in diesem Jahr nicht alles richtig gemacht, aber wir haben auch nicht alles falsch gemacht», meinte Mike Leitner am Montag nach dem Valencia-GP gegenüber SPEEDWEEK.com. «Denn wir haben in der Fahrer-WM mit Brad Binder den sechsten Platz erreicht und wie im Vorjahr den besten Honda-Fahrer hinter uns gelassen.»
Aber zu diesem Zeitpunkt wurden bei KTM Factory Racing in Munderfing (150 Beschäftigte) bereits die Weichen für eine noch erfolgreichere MotoGP-Zukunft gestellt.
Das Organigramm für das MotoGP-Projekt wird umgekrempelt. Mike Leitner wird nachgesagt, er habe als Race Manager oft starken Einfluss auf die Entscheidungen der verantwortlichen Techniker genommen, was zu Reibungsverlusten und zeitraubenden Diskussionen führte. Die Ingenieure hatten belastbare Daten, Leitner verließ sich häufig auf seine praktische Erfahrung, das führte zu Meinungsverschiedenheiten im Technik-Gremium.
Danilo Petrucci machte im Sommer kein Geheimnis daraus, dass die personellen Strukturen bei KTM nicht ausreichten, um gegen Ducati langfristig und dauerhaft zu bestehen. Der ehemalige Ducati-Werksfahrer und zweifache GP-Sieger kritisierte, das Tech3-KTM-Team arbeite nicht eng genug mit dem Werk und dem Werksteam zusammen.
Offenbar nahm Motorsport-Direktor Pit Beirer diese Hinweise ernst, denn wenig später wurde der italienische Renningenieur Fabio Sterlacchini nach Munderfing geholt, der bis Ende 2020 bei Ducati Corse als Track Technical Director beschäftigt war. Danilo Petrucci hat ihn als Ducati-Werksfahrer in dieser Funktion kennen - und als MotoGP-Experten schätzen gelernt.
In Italien heißt es, Sterlacchini sei die rechte Hand von Gigi Dall‘Igna gewesen. Ducati will diese Darstellung nicht bestätigen.
Sterlacchini ist jetzt bei KTM zum «MotoGP Head of Technology» befördert worden, er arbeitet in einem Technik-Gremium eng mit den Experten Ing. Kurt Trieb, Ing. Sebastian Risse und Marco Bertolatti (vormals Aprilia Racing) auf Augenhöhe zusammen, seine MotoGP-Expertise ist wertvoll.
Bisher war die Hackordnung bei KTM in der MotoGP schwer überschaubar. Pit Beirer hat als Motorsport-Direktor für alle drei Marken und alle Serien die oberste Verantwortung inne; er berichtet direkt an den Eigentümer und den Vorstand. Dazu war auch Jens Hainbach, Vice President Road Racing, in der Hierarchie eigentlich über Leitner angesiedelt, dessen Aufgabenbereich sich aber in erster Linie auf Moto3 und Moto2 beschränkt.
Künftig wird beim MotoGP-Projekt für klarere Strukturen gesorgt. Der neue Race Manager Francesco Guidotti hat bei Pramac-Ducati zehn Jahre klang unermesslich viel MotoGP-Erfahrung gesammelt. Er soll in den nächsten Tagen als Leitner-Nachfolger bei KTM vorgestellt werden.
Pramac (seit 2005 mit Ducati in der MotoGP) gewann 2021 mit Jorge Martin erstmals einen MotoGP-WM-Lauf, dazu die Rookie-of the Year-Wertung, Zarco kämpfte um den Titel und war im Frühjahr in der WM bestplatzierter Ducati-Pilot – auf Rang 2.
Guidotti bringt im Umgang mit MotoGP-Spitzenfahrern viel Fingerspitzengefühl mit, das bei Mike Leitner offenbar manchmal zu kurz kam. In seiner beruflichen Vergangenheit hatte der Oberösterreicher vor seiner KTM-Laufbahn keine vergleichbare Führungsposition inne.
So machte sich Leitner 2019 bei den Dorna-Chefs unbeliebt, als er in Interviews die wachsende Anzahl der Grands Prix kritisierte. Zum gleichen Zeitpunkt erklärte er beim Australien-GP 2019 gegenüber SPEEDWEEK.com: «Oliveira hat Blödsinn erzählt.»
Damals schimpfte der Portugiese über die Teamführung, weil Brad Binder als Rookie für 2020 ins Red Bull Factory Team befördert wurde und er mit einem Jahr Erfahrung bei Tech3-KM bleiben musste. Dieser Entscheidung hatte Miguel zwar vorher zugestimmt, aber zu diesem Zeitpunkt ging er davon aus, dass Routinier Mika Kallio den Platz von Zarco im Werksteam übernehmen werde. Das war von KTM in Misano intern so verlautbart worden.
Mike Leitner: Unbestrittene Verdienste bei KTM
Bei Red Bull KTM ist auch nach der Trennung kein Wort der Kritik über Mike Leitner zu hören, denn seine Verdienste sind unbestritten.
Der ehemalige 125-ccm-GP-Fahrer baute ab Herbst 2014 bei KTM mit unermüdlichem Einsatz die Strukturen für den MotoGP-Einstieg 2017 auf. In Innviertel existierte dazu so gut wie kein Know-how, denn in der Moto3-WM existierte kein Werksteam, die Bikes wurden an private Teams wie Aki Ajo weitergereicht, die weitgehend auch selbst für die Fahrerverpflichtung zuständig waren.
MotoGP-Teamchef Mike Leitner kannte als ehemaliger Pedrosa-Crew-Chief im Paddock Gott und die Welt. Er lotste etliche unzufriedene HRC-Techniker zu KTM, später folgten renommierte Techniker von Suzuki, Aprilia und Ducati.
Red Bull und KTM ließen sich finanziell nicht lumpen, der finanzielle Aufwand konnte sich sehen lassen, er liegt bei 25 bis 30 Millionen Euro im Jahr.
Mike Leitner und seine Mannschaft konnten schon 2018 beim Finale in Valencia über Platz 3 von Pol Espargaró jubeln. 2019 passierte der Flop mit Johann Zarco, dafür wurde das MotoGP-Aufgebot erstmals um die zwei Fahrer beim Tech3-Kundenteam (Oliveira, Syahrin) erweitert.
2020 herrschte bei KTM Factory Racing meistens eitel Wonne: Brad Binder siegte in Brünn gleich bei seinem dritten MotoGP-Rennen, Miguel Oliveira triumphierte in Spielberg-2 und in Portimão.
Mike Leitner durfte sich berechtigterweise über die Früchte seiner unermüdlichen Anstrengungen freuen.
KTM gelangen seit dem MotoGP-Einstieg 2017 immer wieder beachtliche technische Entwicklungsschritte. Der Durchbruch gelang nach der Saison 2019 mit einem vom neuen Testfahrer Dani Pedrosa entwickelten neuen Gitterrohrstahlrahmen mit Flachprofilen.
Natürlich hatte sich Pedrosa nicht zuletzt wegen seiner jahrelangen Freundschaft zu Mike Leitner für den Testfahrer-Job bei Red Bull KTM überreden lassen. Im vergangenen Sommer warf Dani sogar sein Vorhaben über Bord und ging in Spielberg noch einmal als Wildcard-Fahrer an den Start – Platz 10!
KTM Factory Racing will in der MotoGP in den nächsten Jahren eine maßgebliche Rolle spielen. Die KTM RC16 offenbarte in diesem Jahr immer wieder Mängel, zum Beispiel über eine einzelne schnelle Runde, bei kühlen Temperaturen fiel es schwer, die Reifen auf Betriebstemperatur zu bringen.
Mike Leitner hat immer wieder betont, KTM habe erst fünf MotoGP-Jahre hinter sich, Honda, Yamaha und Suzuki seien 2002 eingestiegen, Ducati 2003.
Das ist unbestritten.
Aber KTM und Red Bull haben mit Moto2-Vizeweltmeister Raúl Fernández (21) und Moto3-Weltmeister Pedro Acosta (17) zwei extrem aussichtsreiche Rohdiamanten unter Vertrag, um die sie von allen Mitbewerben beneidet werden.
KTM muss also nicht nur Brad Binder und Miguel Oliveira dringend mit konkurrenzfähigerem Material verwöhnen, sondern bald auch die Supertalente Raúl Fernández und Pedro Acosta.
Sonst werden die KTM-Stars trotz ihrer bisher beispielhaften KTM-Karriere irgendwann fahnenflüchtig – wie der sensationelle Rookie Jorge Martin, der vor der Saison 2021 trotz eines gültigen KTM-Vertrags wegen der besseren Erfolgsaussichten zu Ducati wechselte.
MotoGP-Ergebnis, Valencia (14. November):
1. Bagnaia, Ducati, 27 Runden in 41:15,481 min
2. Martin, Ducati, + 0,489 sec
3. Miller, Ducati, + 0,823
4. Mir, Suzuki, + 5,214
5. Quartararo, Yamaha, + 5,439
6. Zarco, Ducati, + 6,993
7. Binder, KTM, + 8,437
8. Bastianini, Ducati, + 10,933
9. Aleix Espargaró, Aprilia, + 12,651
10. Rossi, Yamaha, + 13,468
11. Morbidelli, Yamaha, + 14,085
12. Dovizioso, Yamaha, + 16,534
13. Alex Márquez, Honda, + 17,059
14. Oliveira, KTM, + 18,221
15. Lecuona, KTM, + 19,233
16. Viñales, Aprilia, + 19,815
17. Marini, Ducati, + 28,860
18. Petrucci, KTM, + 32,169
– Rins, Suzuki, 17 Runden zurück
– Nakagami, Honda, 23 Runden zurück
MotoGP Endstand Fahrer-WM (nach 18 Rennen):
1.Quartararo, 278 Punkte. 2. Bagnaia 252. 3. Mir 208. 4. Miller 181. 5. Zarco 173. 6. Binder 151. 7. Marc Márquez 142. 8. Aleix Espargaró 120. 9. Martin 111. 10. Viñales 106. 11. Bastianini 102. 12. Pol Espargaró 100. 13. Rins 99. 14. Oliveira 94. 15. Nakagami 76. 16. Alex Márquez 70. 17. Morbidelli 47. 18. Rossi 44. 19. Marini 41. 20. Lecuona 39. 21. Petrucci 37. 22. Bradl 14. 23. Pirro 12. 24. Dovizioso 12. 25. Pedrosa 6. 26. Savadori 4. 27. Rabat 1.
Konstrukteurs-WM:
1. Ducati 357 Punkte. 2. Yamaha 309. 3. Suzuki 240. 4. Honda 214. 5. KTM 205. 6. Aprilia 121.
Team-WM:
1. Ducati Lenovo 433 Punkte. 2. Monster Energy Yamaha 380. 3. Suzuki Ecstar 307. 4. Pramac Racing 288. 5. Repsol Honda 250. 6. Red Bull KTM Factory Racing 245. 7. LCR Honda 146. 8. Esponsorama Racing 143. 9. Aprilia Racing Team Gresini 135. 10. Petronas Yamaha SRT 96. 11. Tech3 KTM Factory Racing 76.