Katar-GP: Schlafwandler, Reichtum und Wolkenkratzer
Es spielt keine Rolle, ob man vier, drei oder zwei Stunden vor Trainingsbeginn vom Hotel in Doha an die Rennstrecke rausfährt. Mit einem Verkehrsstau ist nicht zu rechnen. Selbst am Sonntag kommen kaum 2000 Zuschauer.
Immerhin ist die Route jetzt wieder auffindbar. Das war 2019 noch anders. Damals wurden wegen der Fußball-WM so viele neue Straßen gebaut und andere gesperrt, dass man jeden Tag einen anderen Weg zum Losail International Circuit ausfindig machen musste. Die meisten Navigationsgeräte waren überfordert. Nur die App «Waze» fand sich in diesem Großstadtdschungel zurecht.
Seit dem ersten Katar-GP im Oktober 2004 bis heute ist nicht nur die Metropole Doha auf die doppelte Größe angewachsen. Vor drei Jahren wurde auch einfach die Autobahn, die bis dahin rechts an der Rennstrecke vorbeiführte, einfach zugeschüttet und mit acht statt vier Spuren ein paar 100 Meter ins Landesinnere verlegt, denn am Meer wurde Platz gebracht für die neue Satellitenstadt Lusail City.
2004 trennten fast 25 oder 30 km den Stadtrand von Doha vom Losail Circuit. Heute liegt die Piste sozusagen am Stadtrand.
In den letzten Jahren schossen die Fußballstadien für die WM reihenweise aus dem Boden. Schon vorher entstanden unweit des Losail Circuits das Stadion für die Handball-WM und der Shooting Complex, indem der dreifache Dakar-Rallye-Sieger Nasser Al Attiyah (er gewann 2015, 2019 und 2022) das Tontaubenschießen übt. Der freundliche Rallye-Star aus Katar ist nämlich auch auf diesem Gebiet Weltklasse – er hat 2016 im Skeetwettbewerb bei Olympia die Bronze-Medaille gewonnen. Es waren die fünften OIympischen Spiele für den heute 51-jährigen Katari.
Doha ist anders.
Die Anzahl der Wolkenkratzer scheint sich von Jahr zu Jahr zu verdoppeln. Nirgendwo sonst auf der Welt sieht man so viele Baukräne pro Quadratkilometer wie in der Hauptstadt des Scheichtums Katar, nirgends sonst existieren so viele 5-Stern-Hotels auf engstem Raum. Katar hatte 2004 noch 700.000 Einwohner, jetzt sind es 2,881 Millionen. Das nur 11.627 Quadratkilometer große Emirat gilt als als grösster Flüssiggas-Exporteur der Welt gilt und schwimmt in Geld. Und jetzt soll Katar wegen der Sanktionen gegen Russland auch noch einige EU-Länder wie Deutschland und Österreich mit LPG beliefern, es müssen dazu an den Häfen wie Hamburg oder Triest noch Liquified Petroleum Gas-Terminals gebaut werden.
Als zwischen Doha und dem Losail Circuit die neue Satellitenstadt Lusail City für fast 300.000 Einwohner entstand, sahen wir bei der Fahrt zum GP-Circuit 2 km lang rechts von der Autobahn Dutzende Schotter-Lkw in Reih und Glied in einer Warteschlange, bei fast 40 Grad Hitze, 24 Stunden am Tag.
Es werden unzählige Milliarden investiert
Die Regierung von Katar hat in den letzten Jahren die Investitionen auf unfassbare 40 Milliarden Euro erhöht. Alles für die Fußball-WM. Es ging in erster Linie um Infrastrukturprojekte wie die neue Metro, den Hafen, neue Schnellstraßen und den neuen gigantischen Hamad International Airport, der Mitte April 2014 eröffnet wurde und als pompöser Heimatflughafen für Qatar Airways dient.
Dank der Gasvorkommen erzielt Katar in den meisten Jahren Budgetüberschüsse von 5 Milliarden Euro. Ca. 28 Milliarden Euro an Investitionen wurden in den letzten Jahren für die Fussball-WM budgetiert.
Es existiert in diesem Emirat keine Einkommenssteuer, das Gesundheitswesen ist für alle Einwohner kostenlos. Eine Schulpflicht besteht nicht. Jeder Bedürftige bekommt vom Staat rund 500 US-Dollar im Monat.
Nur rund 250.000 der fast 2,9 Mio Einwohner sind arabischer Abstammung und haben katarische Staatsangehörigkeit. Da sich Katar mit einer Fläche von nur 11.627 Quadratkilometern begnügt, sind es nur 180 km von der Nordspitze bis in den südlichsten Zipfel, von West nach Ost dehnt sich das Land nur auf 80 km aus.
Doha dürfte die höchste Porsche-Cayenne-Dichte der Welt haben. Mit einem kümmerlichen Peugeot-208-Leihauto kommt man sich zwischen all den riesigen SUV ein bisschen verloren vor. Fahrzeuge mit weniger als acht Zylindern muss man mit der Lupe suchen.
Spritsparen ist in der Wüste nicht angesagt: 1 Liter Treibstoff kostet ca. 28 Euro-Cent.
Dass man mit den 1600 Lichtquellen des Losail Circuits einen Boulevard von Doha bis Moskau taghell erleuchten könnte, haben wir auch schon oft genug erwähnt.
Der Motorrad-GP hat inzwischen Tradition, das Wetter ist um diese Jahreszeit erträglich, maximal 28 Grad. Bei den ersten Rennen im Oktober 2004 wurde noch am helllichten Tag gefahren, teilweise bei 45 Grad. In der Früh um 8 Uhr stieg ich damals bei 38 Grad ins Leihauto. Man musste schon einen triftigen Grund haben, um das herrlich gekühlte Media Centre zu verlassen.
Im ersten Flutlichtjahr 2008 wurde am Donnerstag nicht trainiert, deshalb musste am Freitag und Samstag teilweise bis 1.30 Uhr gefahren werden.
Ich erinnere mich noch, dass ich damals Montagfrüh um 6.35 Uhr im Media Centre zusammenpackte.
Mein Kollege Michael Scott räumte gerade neben mir seinen Computer ein. «Bist du fertig», erkundigte ich mich bei ihm.
«I have finished and I am finished», erwiderte er mit britischen Humor. Frei übersetzt: «Ich bin fertig und ich habe fertig.»
Der GP-Zirkus wurde nachtaktiv
Man wird bei so einem Nachtrennen zum Schlafwandler. Bei den Europa-Rennen beginnt das Training um 9 Uhr, irgendwann nach 16 Uhr ist es zu Ende. Man geht irgendwann um 13 Uhr oder 13.30 Uhr Mittagessen, um 20 Uhr Abendessen.
Bei so einem Nacht-GP verliert man irgendwie zeitlich die Orientierung. Man fährt vor dem Mittagessen an die Strecke, das Pressezentrum verlässt man aber erst um 1 Uhr nachts. Dann kommt man um 1.30 Uhr zurück ins Hotel, der Magen knurrt, man hat 12 Stunden lang nichts zu sich genommen ausser ein paar Tassen Tee und ein paar Keksen. Im Hotelzimmer liegen ein paar Weintrauben herum. Immerhin.
Irgendwann um 3 Uhr schläft man ein, man könnte eigentlich fast bis Mittag schlafen, aber man erwacht um 9 Uhr. Das Training beginn aber nach Ortszeit viel später als in Europa.
In Europa? Da steht am GP-Weekend vielleicht um 7 Uhr auf, Frühstück um 7.30 Uhr. Um 8.30 Uhr trudelt man im Paddock ein.
In Katar? Frühstück von 10.15 Uhr bis 12 Uhr, in Gesellschaft von einigen GP-Piloten, an den Nebentischen sitzen bekannte Gesichter, Fahrer-Manager, Rennfahrer, Teamchefs, Techniker, Teammitglieder. Eigentlich wäre noch kurz Zeit für den Pool oder das Fitness-Centre.
Denn man kann es sich leisten, erst während des ersten Moto3-Trainings im Paddock einzutreffen.
Übrigens: Das Flutlicht wird vier Tage lang gar nicht ausgeschaltet. Der Begriff Energiesparen kommt im Vokabular der Katari nicht vor,
Auf dem Weg zur Rennstrecke fährt man bei einigen Fussballstadien vorbei, eines steht schon seit 15 Jahren dort steht. Vielleicht hat Stefan Effenberg dort gekickt.
Da fallen mir die Worte eines syrischen FIFA-Funktionärs ein, den ich 2014 am Emirates-Flug von Zürich nach Dubai getroffen habe.
«Die Fussball-WM in Katar wird sowieso nicht stattfinden», sagte er im Brustton der Überzeugung.
«Wegen der Hitze im Sommer oder wegen der Korruption», erkundigte ich mich. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: «Wegen beidem.»
Aber aus dem Boykott wurde nichts. Korruption? Der neue FIFA-Präsident Gianni Infantino aus der Schweiz lebt inzwischen mit seiner Familie in Doha. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
In Katar fühlt man sich sicher. Denn die Herrscher haben einst einen Deal mit Al Qaida vereinbart und beherbergen deren Belangsender Al Jazeera. Der Deal der katarischen Scheichs mit Osama Bin Laden lautete damals: Wir lassen Al Jazeera aus Doha senden, ihr verschont uns dafür mit dem Terror.
Katar ist deswegen wohl das einzige arabische Land im Mittleren Osten, in dem noch nie eine Bombe hochgegangen ist.
Sehr beruhigend, besonders zu Zeiten des Kriegs in der Ukraine.