Penalty für Fabio Quartararo: Eine sinnlose Aktion?
Assen-GP: Fabio Quartararo auf dem Boden, Aleix Espargaró rettet sich durchs Kiesbett zurück auf die Strecke
Seit der Bestrafung von Weltmeister und WM-Leader Fabio Quartararo bei der Dutch-TT am Sonntag in Assen wird heftig über die Sinnhaftigkeit dieses Long-Lap-Penaltys für den British Grand Prix in Silverstone am 7. August diskutiert. Völlig zu Recht.
Auch der einzig wahre MotoGP-Experte Deutschlands hat eine klare Meinung zu diesem Thema. «Was soll ich dazu sagen? Das ist lächerlich! Wenn die Stewards so weitermachen, können wir den Sport bald zusperren», meint Stefan Bradl. «Mit Absicht hat Fabio diese Kollision sicher nicht gemacht. Mit diesen Strafen geht alles viel zu sehr Richtung Formel 1. Dort jammern sie dauernd am Funk und heulen rum. Früher hiess es ‘thats racing’ – und fertig. Manchmal hast du Pech und manchmal Glück. That’s life.»
Tatsächlich muss man nicht weit zurückblicken, um die mangelnde Konstanz und die durchschimmernde Willkür in den Richtersprüchen der jeweils drei Mitglieder des «FIM MotoGP Steward Panels» anprangern zu können.
Der dreifache Weltmeister und ehemalige Honda-Werksfahrer Freddie Spencer ist immer dabei. Andres Somolinos, Raffaele de Fabritis und der deutsche Ex-Gespann-Rennfahrer und heutige Oschersleben-Geschäftsführer Ralph Bohnhorst wechseln einander auf den restlichen zwei Plätzen ab. «Bohni» war nicht in Assen; er wird erst in England wieder im Amt sein.
1. Catalunya-GP vom 5. Juni 2022. Taka Nakagami (Idemitsu LCR-Honda) stand auf Startplatz 12 und rauschte als Vierter Richtung erste Kurve, ehe er dort umkippte und Rins und Titelanwärter Bagnaia mitriss. Fazit: Bagnaia musste aufgeben und verlor die Chance auf den GP-Sieg, Rins erlitt eine Handverletzung und musste auch auf das Rennen auf dem Sachsenring verzichten.
Aber dieser Zwischenfall wurde als «racing incident» bewertet. Kann man so sehen. Aber was war dann der Unfall mit Quartararo und Aleix Espargaró in Assen, bei dem der Aprilia-Werksfahrer nicht einmal umkippte? Aleix kämpfte sich sogar vom 15. Platz auf den vierten Rang vor und kassierte 13 Punkte, Fabio null.
2. Portimão-GP 2022: Jack Miller will vor der ersten Kurve im Rennen Joan Mir abbremsen, er kämpft um Platz 3, der Ducati-Star stürzt und reisst den Weltmeister von 2020 mit. Keine Strafe für Miller. Gut so, es geht ja ums Rennfahren, eine Risikosportart, nicht ums Turniertanzen, Kegeln oder Schach.
3. Katar-GP 2022. Lenovo-Ducati-Titelhoffnung und Vizeweltmeister Pecco Bagnaia vermasselte den Start, zehn Runden vor Schluss will er Pramac-Ducati-Fahrer Jorge Martin ausbremsen, das misslingt, das Vorderrad rutscht weg, Pecco reisst auch Martin aus dem Sattel. Keine Strafe.
Stefan Bradl kennt solche Vorfälle zur Genüge, auch er hat in seiner MotoGP-Laufbahn schon Kollisionen ausgelöst. Er hat Aleix Espargaró 2014 zweimal abgeräumt, dazu 2018 in Brünn zum Beispiel Bradley Smith auf der KTM. Er ging immer straffrei aus, und er ist selbst auch mehrmals unschuldig zu Schaden gekommen.
Das gehört zum Berufsrisiko.
Ich kritisiere nicht, dass Jack Miller zweimal nach dem Qualifying (in Sachsen und Assen) einen Long-Lap-Penalty bekam, weil er bei gelber Flagge stürzte. So eine Strafe ist vom Reglement gedeckt.
Aber der Fahrer ist ohnedies schon ausreichend gestraft, wenn er in einer wichtigen 15-min-Session stürzt. Und wenn er niemanden gefährdet, macht die Strafe dann wirklich Sinn? Das sollten die Verantwortlichen einmal in Ruhe besprechen.
Soll der Motorsport nicht den besten und schnellsten Rennfahrer zum Vorschein bringen? Muss jeder Pilot spazieren fahren, sobald eine gelbe Flagge geschwenkt wird? Oder sollte man einem Routinier wie Miller nicht etwas Eigenverantwortung überlassen, wenn er sieht, dass weit und breit keine Gefahr besteht?
Miller könnte ja auch gestürzt sein, weil durch das Spazierenfahren die Reifen zu stark abgekühlt sind? Ist dann eine Strafe gerechtfertigt?
«Es ist immer dasselbe, Spencer hört nicht zu», knurrte Jack Miller nach seiner Anhörung im Anschluss ans Quali beim Deutschland-GP zornig in Bezug auf Steward Freddie Spencer.
Bei einem Rückblick in die Vergangenheit fällt mir ein: «Fast Freddie» Spencer (Honda) kämpfte 1983 als junger Heisssporn gegen Haudegen «King Kenny» Roberts um die 500-ccm-Weltmeisterschaft. Er gewann 1983 in Jarama 0,55 sec vor Roberts, in Anderstorp mit einem Vorsprung von 0,16 sec – nach jeweils erbitterten Duellen.
Lebt der Rennsport nicht von solchen Gefechten? Reden die Fans nicht immer noch von Jerez 2005 (Rossi schob Gibernau von der Piste) und Laguna Seca (Rossi gegen Stoner, Márquez gegen Rossi), wo die «track limits» gleich um ein paar Meter verschoben wurden?
«Freddie hat 125 Prozent riskiert, ich nur 110 Prozent», stellte Roberts nach den verlorenen Duellen 1983 auf meine Nachfrage hin fest.
Spencer fuhr damals in Schweden in der letzten Kurve der letzten Runde eine Abkürzung durch die Wiese und dadurch am führenden und staunenden Roberts vorbei. Durch eine Rückversetzung auf Platz 2, was ihm heute drohen würde, hätte Spencer den Titel gegen den Yamaha-Star um einen Punkt verloren. So gewann er ihn mit 144 zu 142 Punkten.
Vor ein paar Jahren gab es im GP-Sport «penalty points» statt Durchfahrtstrafen, Grid Penaltys und Long Lap-Penaltys. Diese Strafen wurden manchmal erst am Donnerstag beim nächsten Grand Prix ausgesprochen, um die Sachlage in Ruhe prüfen zu können.
Warum muss so eine Entscheidung wie in Assen, die Quartararo und Yamaha den Titel kosten kann, unter Zeitdruck fallen?
Aleix hat in Assen am Ende 13 Punkte auf Fabio gutgemacht; ohne den Rammstoss hätte er das vermutlich nicht geschafft.
Der Schaden bei Aleix und Aprilia war also deutlich kleiner als bei Fabio und Yamaha. Noch dazu hat der Franzose eine weisse Weste, er war bisher nie in rüpelhafte Manöver verwickelt.
Dass die Werks-Yamaha wenig Power hat, wissen wir. Wo soll Fabio also sonst überholen, wenn nicht in einer Kurve?
Wäre ich ehemaliger Honda-Werksfahrer, ich würde in solchen Situationen doppelt und dreifach aufpassen, um als Steward und Richter nicht den Anschein der Unabhängigkeit zu verlieren.
Und warum muss ein Italiener und ein Spanier im Stewards-Panel sein, das sind zwei Nationen, die dauernd Titelanwärter haben und eventuell voreingenommen sind.
Chief Steward ist jetzt Andres Somolinos, und diese Funktionäre versichern, es würden alle Argumente gemeinsam sorgfältig abgewogen, bevor eine Entscheidung getroffen wird.
Umso schlimmer, wenn dann das Ergebnis so aussieht wie in Assen und an einen Willkürakt erinnert. Offenbar ist der Ermessensspielraum der Stewards zu groß. Es dominiert die Beliebigkeit.
Noch eine Frage: Kann man als Ex-Rennfahrer über Nacht zum GP-Richter befördert werden und in wichtige Ereignisse entscheidend eingreifen? Oder bekommt man wenigstens einen zweistündigen Schnellsiedekurs verabreicht? Von wem? Gibt es Auswahlkriterien? Oder muss man einfach nur prominent sein und Freunde in «high places» haben?
Es ist höchste Zeit, das Zustandekommen dieses wichtigen «FIM MotoGP Stewards»-Gremiums einmal in Frage zu stellen und über höhere Qualitätsansprüche nachzudenken.
MotoGP-Ergebnis, Assen (26. Juni):
1. Bagnaia, Ducati, 26 Rdn. in 40:25,205 min
2. Bezzecchi, Ducati, + 0,444 sec
3. Viñales, Aprilia, + 1,209
4. Aleix Espargaró, Aprilia, + 2,585
5. Brad Binder, KTM, + 2,721
6. Miller, Ducati, + 3,045
7. Martin, Ducati, + 4,340
8. Mir, Suzuki, + 8,185
9. Oliveira, KTM, + 8,325
10. Rins, Suzuki, + 8,596
11. Bastianini, Ducati, + 9,783
12. Nakagami, Honda, + 10,617
13. Zarco, Ducati, + 14,405
14. Di Giannantonio, Ducati, + 17,681
15. Alex Márquez, Honda, + 25,866
16. Dovizioso, Yamaha, + 29,711
17. Marini, Ducati, + 30,296
18. Bradl, Honda, + 32,225
19. Gardner, KTM, + 34,947
20. Savadori, Aprilia, + 35,798
– Fernández, KTM, 8 Runden zurück
– Quartararo, Yamaha, 15 Runden zurück
– Darryn Binder, Yamaha, 18 Runden zurück
– Morbidelli, Yamaha, 18 Runden zurück
MotoGP-Fahrer-WM nach 11 von 20 Grand Prix:
1. Quartararo 172 Punkte. 2. Aleix Espargaró 151. 3. Zarco 114. 4. Bagnaia 106. 5. Bastianini 105. 6. Brad Binder 93. 7. Miller 91. 8. Mir 77. 9. Rins 75. 10. Oliveira 71. 11. Martin 70. 12. Viñales 62. 13. Marc Márquez 60. 14. Bezzecchi 55. 15. Marini 52. 16. Nakagami 42. 17. Pol Espargaró 40. 18. Alex Márquez 27. 19. Morbidelli 25. 20. Di Giannantonio 18. 21. Darryn Binder 10. 22. Dovizioso 10. 23. Gardner 9. 24. Raúl Fernández 5.
Konstrukteurs-WM:
1. Ducati 246 Punkte. 2. Yamaha 172. 3. Aprilia 155. 4. KTM 121. 5. Suzuki 101. 6. Honda 85.
Team-WM:
1. Aprilia Racing 213 Punkte. 2. Monster Energy Yamaha 197. 3. Ducati Lenovo Team 197. 4. Prima Pramac Racing 184. 5. Red Bull KTM Factory 164. 6. Suzuki Ecstar 152. 7. Gresini Racing 123. 8. Mooney VR46 Racing 107. 9 Repsol Honda 100. 10. LCR Honda 69. 11. WithU Yamaha RNF 20. 12. Tech3 KTM Factory 14.