MotoGP: Ist die Aerodynamik-Entwicklung ein Irrweg?
Das Red Bull-KTM Factory Team brachte die beiden MotoGP-Asse Brad Binder und Miguel Oliveira bei den letzten drei Grand Prix in Aragón, Motegi und Buriram immer unter die Top-11. Dazu gab es mit Platz 2 von Binder in Japan und dem Sieg von Oliveira in Thailand erstmals seit April wieder Podestplätze zu feiern.
Die jüngsten Technik-Updates haben sich also bewährt, trotzdem haben die KTM-Ingenieure bei der Aerodynamik gegenüber Ducati und Aprilia einen deutlichen Aufholbedarf erkannt. Diese Schwachstelle soll jetzt bis zum Saisonbeginn 2023 mit Hilfe der Formel-1-Aerodynamiker von Red Bull Technology in Milton Keynes (England) beseitigt werden.
Zur Erinnerung: Ducati-Chefkonstrukteur Gigi Dall’Igna überraschte die gegnerischen MotoGP-Teams 2016 mit den «Winglets», denn eigentlich galten aerodynamische Hilfsmittel als verboten.
Besonders Honda beschwerte sich darüber, daraufhin wurden sie für 2017 verboten – aus «Sicherheitsgründen», weil bei Zusammenstößen Gefahr drohte, wie es hieß.
Ducati-Rennchef Gigi Dall'Igna hielt das Verbot damals für einen hinterlistigen und böswilligen Racheakt der Konkurrenz, die Ducati die zwei Saisonsiege von 2016 (Iannone in Spielberg, Dovizioso in Sepang) missgönnte.
Und siehe da: Er kramte wieder im Regelbuch – und erschien beim Sepang-Test im Februar 2017 mit neuen Winglets, die auf der Innenseite der Verkleidung angebracht wurden, Yamaha brachte ein ähnliches System mit.
Danach ahmten alle Werke dieses Konzept nach, anschließend einigten sich die Hersteller, die Winglets wieder nach außen zu verlegen. Um Kosten und dauerhafte Windkanal-Tests zu sparen, durften danach nur zwei «Aero Bodys» pro Fahrer und Saison homologiert werden.
Die sechs MotoGP-Hersteller gingen bei der Aerodynamik getrennte Wege. Gigi Dall’Igna brüskierte die Konkurrenz 2019 in Doha abermals, als er einen «spoon» (Löffel) homologieren ließ, einen Spoiler vor dem Hinterrad. Der Italiener behauptete, der Flügel diene der Kühlung des Hinterreifens. Die wahre Wirkung lag auf der Hand: Er erzeugte Downforce (Abtrieb) für das Hinterrad, er stellte also eigentlich ein unerlaubtes aerodynamisches Hilfsmittel dar.
Doch der Protest von Honda, Suzuki, Aprilia und KTM scheiterte, weil die Gegner den wahren Zweck des «Löffels» nicht nachweisen konnten. Es blieb ihnen wieder einmal nichts anderes übrig, als ihn nachzubauen.
Yamaha protestierte damals nicht gegen Ducati, weil die Japaner so einen Hinterradspoiler bereits in Valencia 2018 eingesetzt hatten, allerdings nur im Regen – als «Wasserabweiser».
Gigi DallI'Igna gibt mit seinen Innovationen bis heute keine Ruhe. Er kam mit dem Holeshot-Device, dann mit dem Rear Ride Height Device und 2022 mit dem Front Device. Und als er im August die Desmosedici-Bikes noch mit den Dinosaurier-Flügeln am Heck ausrüstete, diente diese Idee vielleicht mehr zur Provokation der Gegner als zur Senkung der Rundenzeit.
Und als Dall'Igna im Juli im SPEEDWEEK.com im August 2022 ankündigte, er wünsche sich für 2027 Hybrid-Motoren wie in der Formel 1, erntete er wieder einmal einen Sturm der Entrüstung – bei Aprilia, Yamaha und KTM. «Gigi ist nicht zu stoppen», wunderte sich Yamaha-Renndirektor Lin Jarvis.
Denn in der Formel 1 hat die Umrüstung von Saugmotoren auf hybride Antriebseinheiten 2013 zu einer Verdreifachung der Motorenkosten geführt.
Aprilia: Riesige Frontspoiler
Aprilia rüstete die RS-GP-Maschinen vor zwei Jahren als erstes Werk mit riesigen Frontspoilern aus, sie wurden teilweise belächelt. Aber da die 1000-ccm-V4-Motoren damals noch zu schwach und zu wenig standfest waren, kamen die Vorzüge dieser Aero-Dynamik nicht sofort richtig zur Geltung.
«Man hat bei Aprilia vielleicht damals schon die Handschrift von Formel-1-Aerodynamikern gesehen, die Rennchef Massimo Rivola, der aus der Formel 1 kam, engagiert hat», meint KTM-Motorsport-Direktor Pit Beirer. «Aprilia hat sicher über einen Zeitraum von zwei Jahren fleißig an der Aerodynamik gearbeitet. 2022 kommen sie voll in den Genuss dieser Arbeit, die sie geleistet haben. Aprilia hat frühzeitig erkannt, dass die Aerodynamik ein wichtiger und entscheidender Faktor werden wird.»
Rund 230 Aerodynamiker sind bei Red Bull in der Formel 1 für die Windschlüpfigkeit der Fahrzeuge, die Downforce und vorbildliche Fahrdynamik zuständig.
Aber über die Zusammenarbeit zwischen KTM und Red Bull wurde Stillschweigen vereinbart. «Ich erzähle gar nichts über die Entwicklung unserer Aerodynamik», betont Pit Beirer im Interview mit SPEEDWEEK.com. Er hält die Aero-Entwicklung wie manche seiner Kollegen für «sinnlos».
«Ich verstehe einfach nicht, warum unser cooler Sport jetzt die Fehler macht, die in der Formel 1 vor zehn Jahren begangen worden sind. Die Formel 1 schaute dann rüber zur MotoGP und kreiert jetzt spannende Rennen über ein sinnvolles technisches Reglement. Wir bauen in der MotoGP so ausgezeichnete Motorräder mit einem extrem kurzen Bremsweg und einer so perfekten Aerodynamik, dass für die Fahrer mittlerweile das Überholen echt schwierig wird. Dafür werden uns die Zuschauer irgendwann abstrafen. Darüber sollten wir rechtzeitig nachdenken.»
Aber die österreichische Pierer Mobility AG, die 2023 mit GASGAS eine zweite Marke in die MotoGP-WM bringt (die Bikes werden baugleich mit den KTM RC16 sein), nimmt die Herausforderung auf Basis des gültigen Reglements an.
Beirer: «Ich möchte nicht jammern, die Aero sei schlecht für den Sport. Wir müssen einfach in diesem Bereich besser werden, und daran arbeiten wir. Aber dieses Thema wird uns länger begleiten. Denn wir investieren eine Menge Geld und dürfen nicht erlauben, dass es bei der Spannung und bei den Zuschauerzahlen rückwärts geht. Meinen Gesprächen mit Massimo Rivola entnehme ich, dass er ebenfalls höchste Bedenken hat. Er sieht diese Problematik genau so wie wir bei KTM, obwohl er ein sehr konkurrenzfähiges Bike mit einem sehr guten Aero-Paket hat.»