Marc Márquez: «Bei Siegen wegen Schmerzen geweint»
Am 19. Juli 2023 jährt sich der Tag zum dritten Mal, an dem das Martyrium von Marc Márquez beim Jerez-GP begonnen hat, beim verspäteten Saisonauftakt in Andalusien wegen der Coronakrise. Damals stürzte der Repsol-Honda-Star beim Versuch, den führenden Fabio Quartararo (Yamaha) sowie Maverick Viñales einzuholen, schwer.
Zwei Tage später wurde der Oberarmbruch von Dr. Xavier Mir im Dexeus-Universitätskrankenhaus in Barcelona operiert. Es folgten: Ein misslungenes Comeback beim zweiten Jerez-GP, das am Samstag im FP3 begann und zu Beginn des FP4 wieder abgebrochen wurde, vier Tage nach der ersten Oberarm-Operation.
Es wurden drei weitere Operationen nötig, die vierte erst im Juni 2022 nach dem Mugello-GP, dazu eine Infektion im Oberarm und zwei Knochentransplantationen, außerdem zwei Diplopien, also Doppelsichtigkeiten. Die ersten nach einem Motocross-Crash im Oktober 2021, die zweite nach einem fürchterlichen Highsider im Warm-Up zum Mandalika-GP in Indonesien im April 2022, wo Marc innerhalb von 48 Stunden viermal spektakulär stürzte.
Schwer zu sagen, was die größere Leistung von Marc Márquez ist – der Gewinn von 59 MotoGP-Rennen und sechs Weltmeisterschaften in den sieben Jahren von 2013 bis 2019 oder die Tatsache, dass er die immense mentale Stärke aufbrachte, sich in diesen rund zweieinhalb grauenhaften Jahren immer wieder neu zu motivieren und den Glauben an eine erfolgreiche Rückkehr nie zu verlieren.
Dazu muss man Márquez hoch anrechnen, dass er seinen Arbeitgeber Honda nie übertrieben heftig kritisierte, obwohl die Honda RC213V in den letzten drei Jahren nie auf den technischen Stand der Konkurrenz war. Das bezeugen die drei letzten Plätze in der Konstrukteurs-WM 2020 bis 2022.
Die Statistik lügt nicht. Ducati räumte 2022 nicht weniger als 32 Podestplätze ab, Honda zwei, Ducati siegte bei zwölf der 20 Rennen im Vorjahr, Honda nie.
2021: Drei Siege trotz Schmerzen
Marc Márquez ist nicht nur ein ausgezeichneter Motorrad-Rennfahrer, er ist ein wahrer Champion, dessen Leidensweg unvergleichbar ist, kein anderer World Champion hat in den letzten Jahrzehnten so viele Tiefschläge erlebt.
Doch Marc Márquez verdient Bewunderung, weil er alle Rückschläge weggesteckt hat und mit seinem geschundenen Körper zwischendurch immer wieder Höchstleistungen vollbracht hat. Er gewann 2021 trotz des lädierten Oberarms drei MotoGP-Rennen (Sachsenring, Texas und Misano), und er unterlag Alex Rins beim Australien-GP 2022 nur um 0,186 Sekunden.
Marc Márquez ist so stark, dass er die Krise überstand, die ihn nach seinem 27. Geburtstag heimsuchte und die er nach seinem 30. Geburtstag (am 17. Februar 2023) endlich abhaken will.
Für Pramac-Ducati-Werkspilot Jorge Martin ist der Spanier der WM-Favorit Nummer 1. Und Honda-Testfahrer Stefan Bradl wettet, dass der insgesamt achtfache Weltmeister 2023 um den Titel fighten und am Jahresende auf jeden Fall unter den Top-3 landen wird.
Nach fast drei Jahren voller Frustration und Schmerzen, die ihn an den Rand des Ruhestands geführt haben, wird Marc Márquez aller Voraussicht nach 2023 wieder ein Rivale sein, den es zu schlagen gilt. Die persönliche Hölle des Ausnahmekönners, der zurückkehrt, um wieder an die Spitze zu kommen, wird in der Serie «Marc Márquez: All in» von Prime Video dokumentiert, die im kommenden Februar Premiere feiert.
Es ist unbestritten, dass die meisten Motorrad-Weltmeister und Spitzenfahrer eine bestimmte Spezies darstellen, eine Gattung, die aus der Art schlägt. Mit grenzenloser Risikobereitschaft und mangelhaft ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb.
Denn die Verletzungsgefahr fährt in jeder Kurve mit, auch wenn der Leder-Overall von Alpinestars, den Marc Márquez wie eine Rüstung trägt, fast fünf Kilogramm wiegt mit den Protektoren Rüstungen an Beinen, Armen, Brust und Rücken sowie dem Airbag im Nacken.
Mit so einer Lederkombi fällt es den Piloten nach dem Absteigen vom Motorrad schwer, aufrecht zu stehen oder normal zu gehen. Sie bewegen sich etwas gekümmert Körperhaltung vorwärts, denn das Leder muss beim Fahren optimal passen, nicht bei der Fortbewegung auf zwei Beinen.
Für einen Normalsterblichen ist es schwer zu begreifen, wie die MotoGP-Asse nach schweren Stürzen und oft mit gebrochenen Knochen ein fast 300 PS starkes und 360 km/h schnelles Rennmotorrad gleich wieder am Limit bewegen, rutschen, driften, Vorderrad oder Hinterrad beim Gasgeben oder Bremsen ohne Bodenhaftung.
Selbst die schrecklichsten körperlichen Schmerzen werden ertragen, um diese MotoGP-Raketen zu bändigen. Für diese Opferbereitschaften werden die Superstars von den Werken, Teams Sponsoren und Ausrüstern mit 10, 15 oder 20 Millionen Euro im Jahr entschädigt.
Auf dem Weg zum Ruhm werden die Gefahren verdrängt. Die Assen müssen sich einreden, unverletzlich zu sein, obwohl unter all den Protektoren ein Körper verborgen ist, so zerbrechlich wie Glas. Und selbst die besten Sturzhelm der Welt können nicht verhindern, dass ein Meister wie Marc Márquez plötzlich alles doppelt sieht.
Marc Márquez ist in den zehn Jahren von 2010 bis 2019 nur zweimal nicht Weltmeister geworden: 2011 hat er in der Moto2 gegen Stefan Bradl verloren, 2015 in der MotoGP gegen Jorge Lorenzo.
Jerez-GP 2019: Nach dem Crash begann der Abstieg
Heute wissen Marc Márquez und sein Umfeld, dass sie in der Euphorie des Augenblicks im Juli 2019 schwere Fehler begangen haben.
Der Honda-Star hätte nach dem Trümmerbruch am rechten Oberarm, der fast seine Karriere zerstört hat, ein paar Monate im Trockendock bleiben sollen. Dann wäre ihm das zweijährige Martyrium wahrscheinlich erspart geblieben.
Wie fragil der operierte Oberarm war, merkte Márquez, als er wenige Tage nach der gescheiterten Rückkehr in seinem Haus in Cervera eine Schiebetür öffnen wollte – und der Bruch trotz Titanplatten und Schrauben wieder entzwei ging.
Wegen dieser übermäßigen Belastung musste der rechte Oberarm nach 13 Tagen erneut zusammengeflickt werden.
Damit begann Marcs Abstieg in die Hölle.
In einem Interview mit der spanischen Ausgabe des Monats-Magazins «GQ» blickt Marc Márquez noch einmal auf den Juli 2020 zurück. Wegen Corona standen nur 14 Rennen auf dem Programm, und weil er beim ersten durch Sturz ausgeschieden war, wollte er beim Andalusien-GP in Jerez unbedingt um Punkte fighten.
Natürlich bereut der Superstar heute diese leichtsinnige Entscheidung. Marc hat auf die harte Tour gelernt, dass es keinen Sinn hat, mit dem Körper zu spielen und ihn zu überfordern, denn so schwere Verletzungen brauchen ihre Genesungszeit, sonst wird alles noch schlimmer.
Diese Lektion haben Márquez und Honda gelernt. Deshalb erfolgte das Comeback nach der vierten Operation im Sommer 2022 nicht mehr überstürzt, sondern völlig in Absprache mit den Ärzten der Mayo-Klino in Amerika und den Spezialisten in Madrid.
«Wenn du dich nicht um deinen Körper kümmerst, kannst du deinen Sport nicht ausüben», sagte Marc in einem Zoom-Gespräch mit «GQ», das er in seiner Wohnung in La Finca de Pozuelo de Alarcón, einer Luxussiedlung nördlich von Madrid führte, wo er in der unmittelbaren Nachbarschaft von Ferrari-Formel-1-Pilot Carlos Sainz junior wohnt.
Aber in diesem fernen Sommer 2020 hielt es Marc für eine gute Idee, die Fristen zu verkürzen und ein verfrühtes Comeback zu riskieren. Er hielt sich für unschlagbar und unverwundbar – nach den Seriensiegen. 2019 hatte er 12 von 19 Rennen gewonnen und dazu sechs zweite Plätze erobert.
Marc Márquez vertraute damals auf seinen Instinkt – und ein bisschen auf seine fast übermenschlichen Fähigkeiten, die seine Gegner jahrelang in die Verzweiflung getrieben haben.
«Der Vorfall in Jerez ist wegen meiner Mentalität und meines Ehrgeizes passiert», räumt er jetzt ein. «Aber alles, was ich von 2013 bis 2020 erreicht habe, habe ich auch wegen dieser Mentalität und dieses Ehrgeizes erreicht. Wenn man diese zehn Jahre als Ganzes nimmt, ist die Bilanz im Gleichgewicht; sie ist ausgeglichen.»
Marc Márquez wurde 2020 ab Brünn von Stefan Bradl ersetzt, er musste sein Comeback immer weiter verschieben. Schließlich war er nicht einmal für die ersten WM-Rennen 2021 fit, denn nach den ersten zwei Operationen wurde Anfang Dezember 2020 ein dritter schwerer Eingriff nötig. Es fand eine zweite Knochentransplantation statt.
Später stellte sich heraus: Es war gepfuscht worden. Deshalb ließ Marc die dritte OP in Madrid statt in Barcelona vornehmen.
Dritte OP im Dezember 2020: Die Tortur ging weiter
Ein perfekter Sturm braute sich zusammen; Marc hatte es nur noch nicht bemerkt. Aber der verspätete WM-Einstieg 2021 in Portimão bedeutete: Auch 2021 wird es mit dem Titelgewinn nicht klappen.
Der Seriensieger erlebte also zwei verlorene Jahre. Dass es schließlich sogar drei werden würden, liess sich damals zum Glück nicht einmal erahnen.
Die Saison 2021 hätte das Ende der Tortur bringen sollen, aber sie begann miserabel. Marc fühlte sich weder mit seinem rechten Arm noch mit der Honda wohl. Obwohl er drei respektable Siege erzielte, beendete er die Meisterschaft nur auf dem siebten Platz. Für manche Gegner wäre das ein erfreuliches Ergebnis gewesen; doch für Márquez und das ruhmreiche Repsol-Honda-Team war es ein weiteres Desaster.
In der glänzenden Karriere von Marc Márquez war es eigentlich unvorstellbar, zwei Jahre lang keine Titelchancen zu haben.
Und nicht einmal die größten Pessimisten konnten sich ein drittes mageres Jahr vorstellen.
Die Fans, Supporter, Rivalen, die Medien und die Honda-Manager rechneten damit, dass sich Marc für 2022 vollständig erholen würde. Denn er hatte im letzten Saisondrittel 2021 mehr Punkte gesammelt als Weltmeister Fabio Quartararo und sich mit den drei Siegen wieder als Titelanwärter in Erinnerung gerufen.
Die Saison 2022 sollte seine triumphale Rückkehr dokumentieren. Und die Video-Kameras von Prime, jener Plattform, mit der er gerade eine Vereinbarung über die Veröffentlichung eines Dokumentarfilms getroffen hatte, würden ihn überall begleiten, um die Folgen seiner All-in-Serie zu filmen.
«Ich habe dem Dokumentarfilm zugestimmt, um die Rückkehr an die Spitze zu schildern», gesteht Marc. «Ich ahnte zwar bereits, dass ich 2022 noch Schwierigkeiten haben würde, ich habe gespürt, dass ich Einschränkungen erleiden würde, aber mein Ziel war es, wieder um die WM zu kämpfen.»
Was die Kameras dann dokumentierten, war jedoch ganz anderes Material: die menschlichste Facette eines Helden mit rissiger Rüstung, einer schweren Verwundung und einem zerschmetterten Geist.
«All in» beschreibt jetzt statt der Rückkehr auf den WM-Thron das Epos der Rückkehr eines deprimierten Mannes, der auf der Rennstecke mit Schmerzen kämpft, wegen des lädierten Oberarms sein Können nicht optimal abrufen kann, der mit den Tücken seiner Honda RC213V kämpft, die weder in den Trainings über eine einzelne Runde noch über die Renndistanz konkurrenzfähig ist.
Marc Márquez wird von gesundheitlichen Rückschlägen erschüttert, gegen die er sich nicht wehren kann und er nie vollständig besiegen kann.
Der «Dokumentarfilm «All in» zeigt deshalb die Kehrseite einer Medaille, die uns bisher verborgen geblieben ist. Der Film bildet die Agonie eines Champions ab, der hilflos einen unerklärlichen Niedergang miterlebt.
Denn auch 2022 ließ sich die erhoffte Traum-Rückkehr in die Weltelite nicht verwirklichen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Arm, der krumm verheilt war. Beim ersten Grand Prix des Jahres in auf dem Losail Circuit in Doha/Katar kam Marc über Rang 5 nicht hinaus. Sein neuer Repsol-Teamkollege Pol Espargaró übertrumpfte ihn mit Rang 3.
Nach dem schrecklichen vierten Sturz beim zweiten Grand Prix in Indonesien wurde wieder eine Doppeltsehen-Episode verursacht. Márquez musste auf die Rennteilnahme in Mandalika und Termas de Río Hondo verzichten. In Argentinien sprang Stefan Bradl als Ersatz ein.
In Texas bremste ihn beim Comeback ein ungewöhnliches mechanisches Problem ein. Marc hätte sonst gewinnen können, so wurde er nur Sechster. Trotzdem schöpften nach diesem Grand Prix die Fans und Honda Hoffnung. Es schien, als dürfe man den Ausnahmekönner aus Cervera allmählich wieder die Rückkehr auf sein bestens Niveau zutrauen.
Die Realität sah jedoch anders aus. Statt Fortschritte zu machen, erlitt Marc immer mehr Schmerzen und Schwierigkeiten. Am Wettkampfwochenende in Portugal vom 22. bis 24. April 2022 war er an der Grenze seiner emotionalen und körperlichen Belastbarkeit angelangt.
«Ehrlich gesagt, ich weiß nicht einmal, wie ich es geschafft habe, 2021 drei Rennen zu gewinnen», erklärt Marc Márquez im GQ-Interview mit entwaffnender Ehrlichkeit. «Aber noch mehr wundert mich, wie ich zu Beginn der Saison 2022 in Jerez Fünfter oder gar Vierter werden konnte, weil ich im Wettkampf weder die mentale Stärke noch die körperliche Kraft hatte. Es gibt einen Moment in der Saison, als die Grand Prix von Portimão und Jerez kamen, in dem ich meinen Kopf abgeschaltet und gesagt habe, dass ich es nicht mehr ertragen kann. Und dann ging ich kurz vor Portimão zu meinen Ärzten in Madrid und sagte ihnen: ‘Es stimmt etwas mit diesem Arm nicht, weil ich gesundheitlich Rückschritte mache.’ Ich plagte mich im Fitnessstudio, ich rackerte mich jeden Tag in der Physio ab, aber es ging rückwärts, es wurde immer schlimmer, ich spürte immer stärkere Schmerzen. Dann fangen sie wirklich an, alles zu beurteilen und zu sehen, dass der Oberarm eine Rotation von 34 Grad hatte.»
Deshalb entschied sich Marc Márquez in Absprache mit den Ärzten in Madrid bereits vor Platz 10 in Mugello zu einer weiteren Pause und zur vierten Operation, diesmal in der Mayo-Klinik in Amerika.
«Ich wusste, dieser Eingriff ist meine letzte Chance», erklärte Marc am Samstag beim Mugello-GP.
Juni 2022: Warum wieder operiert werden musste
Eine Humerus-Rotation von 34 Grad bedeutet in der Praxis, dass der Patient seinen Arm nicht normal nach innen drehen kann.
Für jeden Sterblichen ist das ein kleines Ärgernis, aber für einen Motorrad-Werksfahrer stellt das einen herben Rückschlag dar.
Als Marc diese Diagnose erhielt, war es einerseits die Bestätigung, dass ein echtes, körperliches Problem existierte, das die Schmerzen beim Fahren, seine unnatürliche Sitzposition auf dem Bike und seine Schwierigkeiten beim Bremsen verursachte. Er wusste ja, dass er das Motorradfahren nicht verlernt hatte.
Aber anderseits bedeutete es auch, dass Marc nur noch eine Kugel im Lauf hatte, um diese Verletzung zu reparieren, da dieser malträtierte und geschundene Oberarm keinen weiteren Operationen mehr standhalten würde.
Marc Márquez wusste: Wenn diese letzte Kugel ihr Ziel verfehlte, könnte seine Karriere als Pilot für immer vorbei sein. Er sprach in Mugello offen von seiner «letzten Chance».
«An meiner Mentalität hat sich nichts geändert. Wenn ich an Wettkämpfen teilnehme, will ich unbedingt gute Ergebnisse erzielen und erreichen, dass meine Bemühungen und Anstrengungen belohnt werden. Die Art und Weise, wie meine sportliche Karriere in den letzten Jahren verlaufen ist, ergibt für mich keinen Sinn. So bin ich nicht», betont Marc Márquez. «Denn es kam eine Zeit, in der das Leiden die Leidenschaft überstieg. Deshalb sagte ich mir: ‘Entweder werde ich wieder gesund, oder es lohnt sich nicht, weiter zu kämpfen.’ Weil mir die Beschwerden nicht nur viel Lebensqualität nahmen. Die Schmerzen führten zu einem Versagen nach dem andern.»
«Die ständigen Schmerzen veränderten meinen Charakter, ich lächelte nicht einmal mehr», gibt Marc zu. «Es ging so weit, dass ich nach Siegen vor Schmerzen anfing zu weinen. Vor der Verletzung war es anders. Da wollte ich nach Erfolgen nichts als feiern und mit meiner Familie lachen… Aber 2021 war es umgekehrt. Ich konnte den Schmerz, den ich ständig im Oberarm hatte, nicht vergessen.»