Norisring 1964: Holzgerüst, Tisch und Mikrofon
Die nachfolgende Geschichte möchte ich als eine Art Liebeserklärung an den Norisring und seine Macher verstanden wissen. Dieses Rennen im Herzen von Nürnberg hat mich von meinen ersten Berufstagen an ein ganzes Leben lang begleitet.
Alles begann vor 60 Jahren, ich war gerade mal 24 und stand vor meiner ersten großen Herausforderung als Streckensprecher.
Am 3. Juli 1964 begrüßte mich Rennleiter Gernot Leistner am Norisring als seinen neuen Streckensprecher mit Handschlag bei Start und Ziel (siehe Foto). «Schön, dass sie da sind, machen sie was draus, wenn sie gute Arbeit leisten und unser Publikum sie nicht auspfeift, dann können sie hier bei uns alt werden.»
Anschließend führte er mich zu den schon ziemlich betagten MCN-Vorständen, die akkurat aufgereiht auf einer Holzbank bei Start und Ziel saßen und den Trainingsbetrieb verfolgten. «Ohne die geht hier nichts», bemerkte Leistner fast entschuldigend, wir waren inzwischen beim Du angelangt, «da musst du jetzt leider noch durch, denn unsere alten Vorstände sind sehr eigen, was neues Personal betrifft.»
Ich wurde jedem einzelnen Altvorderen vorgestellt, bis ich bei einem Herrn Richter ankam, ein alter Herr um die 80 mit verwittertem Gesicht, Strohhut, Hosenbund in Brusthöhe.
Er unterzog mich einem regelrechten Verhör, wollte wissen, wo ich bisher schon «Ansager» war und ob ich denn auch «genug über Autos, Motoren und die Rennfahrer» wisse. Schließlich genehmigte er meinen Einsatz am Strecken-Mikrofon mit den Worten: «Leistner, der Mann darf bei uns ansagen.»
Dann wurde mir mein Arbeitsplatz zugewiesen – ein Freiluft-Holzgerüst, Tisch und Mikrofon in der äußersten Ecke in Fahrtrichtung.
Gleich neben mir die lautstark diskutierende Zeitnahme und die Sportkommissare. Alles auf einer Ebene, keine Abtrennung, gewaltige Geräuschkulisse von außen und innen. Dazu pfiff der Wind wechselweise von allen Seiten durch die luftige und bedenklich schwankende Location.
Es war die totale, aber unglaublich sympathische Improvisation mit handgestoppten Rundenzeiten, vom Wind verwehten Zeitnahme-Dokumenten, die auch schon mal zwischen den Rennautos auf der Piste landeten.
Dazu Tourenwagen, GT’s, Sportwagen- und Motorrad-Rennen Schlag auf Schlag. Meine erste, zugleich auch tageschnellste Kundschaft für die Siegerehrung hieß 1964 nach 26 bzw. 19 Runden auf dem damals noch langen knapp vier km-Kurs unter Anderen Karl Foitek (Zürich, Lotus 23), Peter Nöcker (Düsseldorf, Jaguar E) und Herbert Linge (Weissach, Porsche 904 GTS). Foitek fuhr neuen Rundenrekord in 1:33,7 min = 151,9 km/h.
Zwischen den Siegerehrungen und den nächsten Rennen gabs zur Auflockerung auch noch Aufrufe fürs Fahrerlager, Durchsagen der Rennleitung und der Polizei zu verlorenen Kindern und gefundenen Autoschlüsseln, falsch geparkten Autos und akuten Notfällen unter den Zuschauern.
Und nicht zu vergessen – ungefähr ein Dutzend Mal am Tag der Aufruf «Boxen räumen», «Nächstes Rennen vorziehen», «Übergänge öffnen», «Übergänge schließen».
Damals durften die Norisring-Zuschauer noch in zwei schmalen, mit Seilen gesicherten Korridoren die Strecke zwischen den Rennen überqueren.
In all dem Trubel saßen die MCN-Pensionäre auch am Renntag mit stoischer Ruhe auf ihrer Bank vor dem Start-Ziel-Gerüst und betrachteten genüsslich das hektische Treiben um sie herum.
Um die Mittagszeit wurden die Herrschaften mit einem Proviantbeutel versorgt – für mich gab’s nix.
Ich habe daraus gelernt und mir Getränke und Verpflegung eben vorher aus meinem Hotel selbst organisiert.
An dem verdammt harten Knochenjob hat sich auch in der Folgezeit erst mal nicht viel geändert. Manchmal durfte ich sogar zweimal im Jahr antreten, denn neben dem traditionellen Juni/Juli-Termin als Hauptveranstaltung gab es hin und wieder Rennen im September noch ein zweites, weniger bedeutsames und Zuschauer-schwächeres Rennen. Hier waren nur für Touren- und GT-Wagen sowie Formel V-Rennwagen zugelassen.
Trotz aller Unzulänglichkeiten habe ich diesen Arbeitsplatz und sein herrlich unkompliziertes Umfeld von Anfang geliebt. Wenn ich da beispielsweise nur an das Ritual der Honorar-Auszahlung am Ende eines arbeitsreichen Wochenendes denke. Den Lohn für geleistete Arbeit gabs für alle im Erdgeschoss des vorderen Betonbunkers gleich neben der Rennstrecke. Hier stand die letzte Prüfung des Renntages an – Einreihen in die lange Schlange von Fahrern, Teamchefs und Streckenposten, geduldig warten, einzeln eintreten.
Sie alle wollten ihr Start- und Preisgeld oder auch ihre Tagesvergütung für Dienstleistungen abholen. Der MCN-Buchhalter persönlich leitete mit fränkischer Gewissenhaftigkeit die Barauszahlungen jeweils gegen Quittung. Für meine erste Sprechergage von 750 D-Mark, heute ungefähr 370 Euro, habe ich 1964 gefühlt zwei Stunden angestanden – aber zwei Tage geredet, bis die Stimme heißer war.
Trotzdem wäre ich niemals auf die Idee gekommen, in den ersten Jahren von mir aus das Handtuch zu werfen, nur weil’s mir zu stressig, zu hektisch, zu unorganisiert und sowieso immer zu heiß war. Denn die Nürnberger Juli-Sonne brannte einem gerade in den ersten Jahren besonders heiß und erbarmungslos aufs Haupt. Leider schuf diesbezüglich eine als Fortschritt gepriesene, einer Strandsauna nicht unähnliche Holzkabine auch in den Folgejahren keine Erleichterung für den Sprecher.
Vernagelte Plexiglas-Fenster, Innen-Temperaturen bis zu 60 Grad zur Mittagszeit waren keine Seltenheit. Da half nur noch ein Eimer mit kaltem Wasser für die nackten Füße und nasse Handtücher für Kopf und Nacken.
Bei einem Vergleich meines Arbeitsplatzes der ersten Jahre am Norisring mit dem heutigen Sprecher-Platz dort würden wohl Jugendherberge und First Class-Hotel am besten passen. Alles jetzt vom Feinsten, Klimaanlage, Top-Mikrotechnik, jede Menge Bildschirme, ein wahres Paradies.
Irgendwann kamen zur Verstärkung neue Sprecher-Kollegen hinzu, erst Kalli Hufstadt, dann Burkhard Bechtel und weitere. Startplatz- und Sieger-Interviews gehörten mehr und mehr zum Standard-Programm und waren mit einer Ein-Mann-Show einfach nicht mehr zu schaffen.
Die überaus herzliche und unkomplizierte Art der Norisring-Macher um Gernot Leistner und seiner MCN-Leute haben mich über all die Jahre getragen und diese Zeit als besonders intensiv erleben lassen. Ich durfte über 30 Jahre lang als Norisring-Sprecher bleiben. Als ich gemerkt habe, dass mir die Knochenarbeit immer schwerer fällt, habe ich den Platz am Mikro freiwillig für jüngere Kollegen geräumt.
Jetzt kehre ich nach exakt 60 Jahren auf Einladung des ADAC und des MCN nochmals an den inzwischen hochmodernen Arbeitsplatz meiner Anfänge zurück. Als Gast-Kommentator darf ich den Kollegen Carsten Krome unterstützen, wenn die DTM Classic-Autos anlässlich des 40. DTM-Geburtstags an den Start rollen.
Am Ende dieser langen Strecke kann ich mit Überzeugung sagen: Es war ein Geschenk, dieses Rennen vor 60 Jahren anvertraut zu bekommen.
Alles an dieser Veranstaltung habe ich geliebt – das alte, idyllische Fahrerlager entlang der Rennstreckenzufahrt, das ebenso fachkundige, kritische wie begeisterungsfähige Publikum, der Blick auf die vollbesetzte Steintribüne gegenüber, die unkomplizierte MCN-Führung, die Rennen, die Atmosphäre, den legendären Porsche-Parkplatz, die Abendstimmung mit Grill-Festen am Dutzendteich im Kreis von Rennfahrern und Teamchefs. Und noch so vieles mehr.
Zu meinem Abschied als Sprecher hat mir Gernot Leistner damals gesagt: «Du weißt, dass du hier auf Lebenszeit willkommen bist.» Leider war Gernots Lebenszeit, wie wir alle schmerzlich erfahren mussten, kürzer als meine – er ist am 29. September 2021 im Alter von 87 Jahren gestorben. Aber zu Lebzeiten hat er mir noch jedes Jahr eine Einladung mit VIP-Parkplatz für seine MCN-Lounge geschickt.
Diese Tradition hat nach Gernots Tod der neue MCN-Chef Wolfgang Schlosser übernommen und bis heute nahtlos fortgesetzt. So habe ich seit meinem ersten Antritt 1964 auch kaum ein Norisring-Rennen verpasst.
Aber vielleicht wird 2024 nun mein letzter Besuch, denn mit zunehmendem Alter werden längere Reisen und Bewegungsabläufe mit der Zeit beschwerlicher.