Max Verstappen: Mit Gelassenheit zum zweiten WM-Titel
Max Verstappen in Suzuka
Mit seinem tollen Sieg beim Grossen Preis von Japan ist die Ernte eingebracht: Max Verstappen hat zum zweiten Mal den Formel-1-WM-Titel gewonnen. Damit gehört der Niederländer einem ziemlich exklusiven Kreis an – er ist erst der 17. Fahrer der Königsklasse seit 1950, der mehr als einen Titel erobern konnte.
Das muss man sich kurz vor Augen führen: Nach zwei Ausfällen in den ersten drei Saisonrennen lag Verstappen 46 WM-Zähler hinter dem Ferrari-Fahrer Charles Leclerc. Aber löste sich der scheinbare Trend zu Gunsten von Ferrari in Luft auf – Verstappen hat vier Rennen vor Schluss der Saison den Titel sichergestellt.
Wie üblich in der Formel 1 sind die Gründe für den Erfolg komplex.
Zunächst wirkte Ferrari zu Beginn so stark, weil Red Bull Racing schwächelte. Das lag nicht nur an der Standfestigkeit, sondern auch an einem zu schweren Auto, das zudem nicht so lag, wie es Verstappen am besten schmeckt – mit einer knackig einlenkenden Vorderachse, was danach mit dem Heck passiert, damit kann der Lenkradvirtuose Max gut leben.
Der sechsfache GP-Sieger Ralf Schumacher hat zudem sehr schön auf den Punkt gebracht: «Der grösse Helfer von Max und Red Bull Racing in dieser Saison war Ferrari.»
Unfassbar, wie die Italiener WM-Punkte verschenkten: Mangelnde Zuverlässigkeit des Ferrari, unnötige Zweikämpfe zwischen Leclerc und Carlos Sainz, strategische Fehler am Kommandostand, schwache Boxenstopps, Fahrfehler des Monegassen und des Madrilenen.
Max sagte jeweils «heel erg bedankt» und fuhr ein Spitzenergebnis nach dem anderen ein.
Zahlen lügen nicht: 18 Rennen, 16 Zielankünfte, 14 Podestplätze, 12 Siege. Gewiss, Max hat – in Anführungszeichen – nur 5 Pole-Positions und 5 beste Rennrunden herausgefahren, aber er war immer dann zur Stelle, wenn es drauf ankam.
Der Kernsatz hat Max vor dem Grossen Preis von Italien in Monza gesagt: «Ich kann gewinnen, aber ich muss nicht.» Diese Gelassenheit gründete im Wissen, dass Red Bull Racing erneut das beste Rennauto auf die Räder gestellt hatte.
Die tiefe Gelassenheit kam auch durch die Ereignisse von 2021: Nach einem nervenzerfetzenden Zweikampf mit Lewis Hamilton triumphierte Verstappen im kontroversen WM-Finale von Abu Dhabi. Max sagte: «Ich habe mein grosses Ziel erreicht und bin Weltmeister geworden. Alles, was jetzt kommt, ist ein Bonus.»
Dreikäsehoch im Fahrerlager
Jos Verstappen fuhr 2001 für das Orange Team Arrows in der Formel 1 und brachte seinen Sohn Max an die Rennstrecke. Als ich den Kleinen zum ersten Mal sah, wie keck der sich umschaute, keine Spur eingeschüchtert vom ganzen Trubel im Fahrerlager, da schoss mir durch den Kopf: «Irgendwie sieht er aus, als wüsste er, dass er hierher gehört.»
Diesen Gedanken habe ich nie vergessen.
Zwanzig Jahre später war Max Formel-1-Weltmeister mit Red Bull Racing-Honda. Er hatte nach einem gigantischen Duell den siebenfachen Weltmeister Lewis Hamilton im Mercedes bezwungen, mit einer Entscheidung in der letzten Runde des letzten Rennens. Spannender geht das kaum.
Max Verstappen kam als 17-Jähriger in die Königsklasse, und natürlich war das Geschrei gross. Besserwisser monierten, Verstappen werde bestimmt überfordert sein, sie malten das Bild schwerer Unfälle aus, und überhaupt, was komme bitteschön als nächstes? Dass ein Kartfahrer direkt in die Formel 1 aufsteige?
Der Autosport-Weltverband FIA führte wegen Max ein komplexes Punktesystem ein, um den Formel-1-Führerschein namens Superlizenz zu erhalten und ein Mindestalter 18.
Daher ist Max auf immer der jüngste Formel-1-GP-Pilot, mit 17 Jahren, 5 Monaten und 15 Tagen, beim Grossen Preis von Australien 2015.
Wie bei Kimi Räikkönen 14 Jahre zuvor, auch er wegen angeblich mangelnder Erfahrung angeprangert, erledigte sich die Kritik von selber: Denn Männer wie Kimi oder Max sind fürs Rennfahren geboren.
Bei Max kommen dabei nicht nur die Renn-Gene von Jos Verstappen zum Tragen, Mutter Sophie hat im Kart so manchen Jungs gezeigt, wo’s lang geht.
Überholen ist nicht Überholen
Die ersten Jahre waren geprägt von, nennen wir es mal einem gewissen jugendlichen Übermut. Max konnte nicht verstehen, wieso sich die anderen Piloten über seine Manöver beim Attackieren oder Verteidigen so aufregten. Er tat doch nichts Anderes als all die Jahre zuvor, und die Wurzeln für ungewöhnliche Linienwahl reichen tief, bis in die unbezahlbare, harte Schule, welche Max bei seinem Vater durchlief.
Jos fasste seinen Sohn nicht mit Samthandschuhen an. Der heute 50-jährige Jos sagt: «Ich versuchte schon auf Kart-Stufe, ihm so viel zu vermitteln, wie es nur geht. Denn es gibt zahlreiche Aspekte zu beachten – das Fahren an sich, wie du überholst, das Abstimmen deines Fahrzeugs. Ich glaube, Max früh sehr viel mit auf den Weg zu geben, das hat sich ausbezahlt, denn bei seinem Debüt in der Formel 1 zeigte sich, dass er für sein Alter sehr weit ist.»
Zur ungewöhnlichen Linienwahl seines Sohnes sagte Jos: «Das Überholen war für mich ein riesiges Thema, denn man kann meiner Meinung nach auch falsch überholen. Wenn er bei einem Überholmanöver Zeit verloren hat, dann versuchte ich, ihn zu erklären, wie er das besser machen kann. Wenn du Zeit auf der Bahn liegen lässt, dann hast du das nicht richtig gemacht. Max hat sich das verinnerlicht.»
«Das ging so weit, dass ich ihm verboten habe, auf den Geraden anzugreifen oder an Stellen, die mir zu einfach vorkamen. Ich habe ihm gesagt: ‘Du darfst nur hier, hier und auch da attackieren, sonst aber nicht.’ Und das waren eben Kurven, wo die Anderen vielleicht nicht angreifen, weil es viel schwieriger ist. Das ist einer der Gründe, wieso wir später in der Formel 1 den Eindruck erhielten, Max könne überall überholen. Ein Überholmanöver ist kein Produkt des Zufalls. Ein Pilot muss den Gegner scharf beobachten, seine Schwächen ausspionieren und sich den Rivalen richtiggehend zurechtlegen. Max hat das im Kartsport jahrelang trainiert, es ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen.»
Tiefe innere Ruhe
Das Handwerk des Rennfahrers ist das Eine, die mentale Seite ist das Andere. Max Verstappen tiefenentspannter denn je. Ausser, er regt sich über etwas auf. Dann kommt feuriges Temperament zum Vorschein, als würde sizilianisches Blut durch die Adern von Max pochen, und die Sprache wird rustikal.
Aber die grundsätzliche Haltung zeugt von einem Menschen, der in sich ruht, der sich seiner Fähigkeiten komplett bewusst ist und den es daher auch nicht nervt, wenn er mal nicht gewonnen hat (Ausnahmen bestätigen die Regel). So lange Max Verstappen weiss, dass er aus seinen Möglichkeiten das Beste gemacht hat, ist alles in Ordnung.
Woher kommt diese Gelassenheit? Jos Verstappen: «Das entspricht seinem Charakter, so etwas kannst du nicht trainieren. Ich weiss, dass ich nicht der Einfachste bin, und ich habe von Max sehr viel gefordert. Aber er konnte das alles aushalten. Er war mental schon immer sehr stark. Mit vielen Siegen baute er Schritt um Schritt ein gewaltiges Selbstvertrauen auf. Wenn du fest an dich glaubst, dann geht das auch nicht mehr weg.»
Entwaffnende Ehrlichkeit
Wie tickt dieser Verstappen eigentlich? Was macht den inzwischen 32-fachen GP-Sieger so stark? Red Bull Racing-Teamchef Christian Horner findet: «Ich habe in all meinen Jahren keinen Piloten erlebt, der so geradeheraus ist wie Max. Alles wird in grösster Offenheit und Ehrlichkeit angepackt. Was die Öffentlichkeit denkt, ist für ihn nicht so wichtig, er ist ohnehin abseits der Rennstrecke gerne für sich.»
«Wenn man dann mehr Zeit mit ihm verbringt und ihn besser kennenlernt, dann ist er ein supernetter Bursche, der totale Leidenschaft für seinen Sport mitbringt, ungemein hungrig, bis in die letzte Faser motiviert; um genau zu sein, kenne ich keinen anderen Fahrer, der einen so starken inneren Antrieb hat.»
«Was die Arbeit mit ihm angeht, so ist es sehr einfach, sich mit ihm hinzusetzen und seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Vielleicht zeigt sich im Gespräch, dass er anderer Ansicht ist, aber er ist immer bemüht, einen gemeinsamen Nenner zu finden.»
Ganz wichtig für den Niederländer: die symbiontische Zusammenarbeit mit seinem Renningenieur, Gianpiero Lambiase. Horner sagt weiter: «Die Dyamik zwischen den beiden ist so intensiv, dass du dich zwischendurch fragen musst, wer hier der Fahrer und wer der Ingenieur sein soll. Ich glaube, die Arbeit zwischen einem Piloten und seinem Renningenieur ist ganz elementar für den Erfolg. Der Ingenieur muss umsetzen können, was der Fahrer braucht. Ich sehe da ein so starkes Band wie früher zwischen Sebastian Vettel und Guillaume Rocquelin.»
Sich selber treu bleiben
Ich glaube, ein Grund dafür, wieso Max Verstappen so populär ist, weit über die Grenzen seiner treuen Orange-Hemden hinaus: Er ist authentisch. Der Red Bull Racing-Fahrer ist ein miserabler Schauspieler, man weiss immer genau, woran man ist, ob er sich nun ärgert oder freut.
Die Fans wissen das zu schätzen: 2021 wurde er im Rahmen einer Umfrage für die Formel 1 zum beliebtesten Fahrer gewählt, mit 14,4 Prozent aller Stimmen. Dass der Red Bull Racing-Star in den Niederlanden vorne liegen würde, war klar, auch die Spitzenposition in Japan ist durch die Arbeit mit Honda naheliegend. Überraschender war dann doch, dass Max auch in den USA unter den Fans der populärste Fahrer ist, nicht etwa der Weltenbummler Lewis Hamilton, der regelmässig in Amerika weilt.
Max macht aus seinem Herzen nie eine Mördergrube, auch wenn seine Worte einigen Leuten quer im Halse stecken bleiben sollten oder er sich mit seiner gnadenlosen Ehrlichkeit keinen Gefallen tut. Unvergessen, wie er in Mexiko mal zugab, dass er unter Gelb nicht verlangsamt hatte, als links von ihm Bottas’ Mercedes in der Pistenbegrenzung steckte. Das kostete ihn den Rekord, zum jüngsten Formel-1-Fahrer auf Pole-Position zu werden.
Max Verstappen hat sich eine Weile über sich selber geärgert, dann ist er zur Tagesordnung übergegangen.
Zwei WM-Titel – und was nun? Lewis Hamilton hat schon Ende 2021 über seinen Rivalen gesagt: «Die Leute vergessen hin und wieder, wie jung Max noch ist. Er wird von Saison zu Saison nur noch stärker und das kommende Jahrzehnt prägen, das steht für mich ausser Frage.»