Morgenstund in Sebring
Mittwoch, 5.30 Uhr in Sebring: Der andere Rennstart
In Sebring kommt man immer wieder ins Schwärmen und freut sich besonders über das Privileg, in dieser Branche sein Geld verdienen zu dürfen. Nirgendwo ist der Kontakt enger zu Aktiven, aber auch zu den Fans. Auch wenn heute kein Trainingsbetrieb der WEC war, so brachte der Tag doch wieder viele Erlebnisse. Und er begann sehr früh.
«Gates open in 60 days for the 12 hours of Sebring» so oder ähnlich twittert seit gut zwei Monaten die Kommunikationsabteilung des Sebring International Raceway den Countdown bis zum offiziellen Beginn des Frühjahrsklassikers herunter. Die Kommunikationsabteilung ist etwas weit hergeholt, sie besteht eigentlich nur aus einem Mann. Ken Breslauer gehört in Sebring zum Inventar, er hat bereits mehrere Bücher über das Rennen herausgebracht und ist immer hilfsbereit und sehr unkompliziert. Wenn doch nur alle seine Kollegen auf den diversen Rennstrecken der Welt so wären...
In den letzten Tagen wurde Ken präziser: «Gates open Wednesday at 6am» Die Tore werden geöffnet um sechs Uhr morgens. Was da abgeht, sollte man mal erlebt haben.
Vor dem Mittwoch bleibt das Gelände für Fans geschlossen. Was nicht unbedingt heisst, dass niemand da ist. Wer kommt, stellt sich mit seinem Gefährt auf eine etwa vier bis fünf Fussballfelder grosse Wiese. Ein rüstiger Rentner aus Georgia ist laut eigener Aussage seit 68 Tagen da, verfolgte alle Testfahrten und verbrachte viel Zeit auf nahen Golfplätzen. Dafür hat er sich mit seinem Wohnmobil, Marke rollendes Schloss Versailles, die Pole Position auf die Einfahrt gesichert. Denn auf dem Warteplatz hat man sich hinten anzustellen.
Je näher der Renntermin rückt, desto mehr füllt sich der Platz. So standen dann am Dienstagabend in sechs Reihen geschätzt etwa 1000 Wohnmobile, Caravans und sonstige Fahrzeuge in Lauerstellung. Gegen Mitternacht dann beginnt ein Wandel. War alles bislang in feuchtfröhlicher Stimmung, so gehen die einen nun schlafen, die anderen bauen ab. Denn obwohl es nur ein Warteplatz war, haben manche Amerikaner ein Equipment aufgebaut, das eher an ein Einfamilienhaus als an Campingausstattung erinnert.
Ab ca. 4.30 Uhr am Mittwochmorgen ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Stimmen überall, einige Polizeiwagen erscheinen, ihr Blinklicht auf dem Dach erhellt die Nacht. Das Auftauchen der Cops gilt für den erfahrenen Sebring-Besucher als Startsignal, denn fast alle Fahrzeuge lassen die Motoren an. Ein Polizist mit Taschenlampe steht vor dem Pole-Setter, sprich dem Kollegen aus Georgia.
Dann geht’s los. Die erste Reihe setzt sich in Bewegung. Eventuelle Schlafmützen in der Reihe werden gnadenlos wachgehupt. Über den Feldweg von der Wiese runter auf die von der Polizei gesperrte Zufahrtstrasse. Vor dem Einlass markieren Pylonen fünf parallele Kontrollstrassen. Mehr oder weniger im Schritttempo werden Tickets kontrolliert, ein Ordner springt kurz ins Wohnmobil und schaut nach eventuellen blinden Passagieren, dann ist man drin. Die Rennstrecke wird gequert und die besten Plätze im Infield direkt an den Zäunen zur Strecke hin sind sofort bezogen. Der frühe Vogel fängt eben den Wurm. Die ganze Prozedur dauerte keine 10 Minuten.
Kaum am Stellplatz angekommen, ist richtig Betrieb. Noch in der Dunkelheit hört man Hammerschläge, eigene Tribünen, die Bühne für das von Fans selbst organisierte Rockkonzert, eigene Theken, alles wird aufgebaut. Und zwischendurch kommt der Nachbar für die nächsten fünf Tage, ein Kanadier, vorbei, stellt sich vor und wollte nur sagen, er würde Donnerstag und Freitag jeweils nochmals zum Einkaufen in die Stadt fahren, wenn ich was brauchen würde, soll ich es ihm bitte gleich sagen.
Und als eine Stunde später die Sonne aufging und man auf die Wiese schaute, auf der noch vor rund 90 Minuten noch rund 1000 Fahrzeuge standen, so war sie komplett leergefegt. Ein paar Arbeiter entfernen gerade die mobilen Toiletten und ein Reinigungstrupp sammelt den wenigen Müll auf.
Das Wohnmobil war einst eine Notlösung angesichts der horrenden Hotelpreise in und um Sebring an diesem Wochenende. Doch ich wollte es heute nicht mehr missen, es ist einfach die intensivste Art, dieses wunderbare Rennen zu erleben. Der Atmosphäre dort kann sich niemand entziehen. Das feierfreudige, aber doch sehr fachkundige Publikum, alle Ordner sind locker und auch die Aktiven sind durchweg gut gelaunt. Kein Vergleich zu Le Mans, wo man jedem, vom Fahrer bis zum Torposten, den Druck vom ersten Moment ansieht.
Wie meinte ein erfahrener Kollege, der zwar schon oft in Sebring, aber noch nie mit dem Wohnmobil dort war und zehn Tage auf der Wiese verbracht hatte: «Sensationell! Ich habe 25 Jahre nur in Hospitalities gegessen, aber die letzten zehn Tage mit den Leuten verbracht, die mich im Endeffekt bezahlen. Sehr lehrreich und sehr empfehlenswert!» Recht hat er!