Austin und Mexiko: Captain America und Capitán Caos
Wie beschaulich es eigentlich in Austin zu und her geht, merkt nur jemand, der von Texas nach Mexiko-Stadt weiter zieht. Die US-Amerikaner wissen, wie eine gute Show geboten wird, mit Bands und Cheerleader-Auftritt, perfekt bis zum eingefrorenen Lächeln und weiblichen Figuren, bei welchen dem Lieben Gott ein wenig nachgeholfen wurde, mit Militärhelis und der inbrünstig gesungenen Nationalhyme und Taylor Swift, die ihr Publikum verzückt. Alles makellos inszeniert, ein wenig steril vielleicht, aber die meisten wurden am Circuit of the Americas prächtig unterhalten, und letztlich geht es nur darum. Jeder hatte eine gute Zeit, wie das – grauenvoll wörtlich übersetzt – heute ständig gefaselt wird von Menschen, die vergessen haben, dass Deutsch eine schöne Sprache ist.
Captain America weicht Captán Caos: Bei Städten wie Mexiko-Stadt oder auch São Paulo wundere ich mich immer wieder, dass nicht einfach alles in sich zusammenbricht. Aber irgendwie schaffen es die Menschen in diesen gewaltigen Metropolen, ihr Zahnradwerk jenseits aller Vorstellungskraft am Laufen zu halten. Ich weiss nicht wie, aber es geht.
Keine Regel ohne Ausnahme: Wenn das Strassenbild der mexikanischen Hauptstadt mindestens turbulent, eher chaotisch ist, könnten sich manche Immigrations- und Zollbeamte in Europa drei Scheiben von den Mexikanern abschneiden. Der Einwanderungsprozess verläuft absolut reibungslos und mit einem strahlenden Lächeln der Beamtin, gleiches Bild später bei der Zollkontrolle. Und unsere Koffer sind in Rekordtempo ausgeliefert. Habe ich schon erwähnt, dass unser Flug vor der geplanten Zeit gelandet ist? Erwarten Sie das mal in London oder Frankfurt!
Bei der Fahrt Richtung Hotel scheppert das Radio «Strange Magic» vom Electric Light Orchestra. Ich finde, das passt hervorragend zu Mexiko-Stadt. Es kommt noch besser: Kurz darauf wird «Mad World» von Tears for Fears gespielt, und eine verrückte Welt läuft wie ein Film vor unserem Auge ab.
Mein Fahrzeug Richtung Hotel ist ein Klappergestell, das einst bei VW glänzend und neu vom Band lief. Heute wird es weitgehend von einem neuen Anstrich zusammengehalten. Irgendwie passt alles auf wundersame Weise zusammen – ich komme aus Houston, der Wagen hat den Husten. Das führt zu einer ruckweisen Vorwärtsbewegung, welche einem empfindlichen Magen durchaus zusetzen könnte.
Der Fahrer ist ein entfernter Verwandter von Pedro Rodríguez. Ich schätze, der gute Pedro hat ihm in den 60er Jahren beigebracht, wie er am schnellsten die Spur wechselt. Was mein Fahrer mit millimetergenauer Präzision macht, um sich die schnellste Fahrlinie zu suchen. Oder vielmehr die am wenigsten Langsame.
Tempolimit 80 km/h, wir sind aber meist mit 8 km/h unterwegs. Auch wegen eines Busses, der zum finalen Tusch für einen armen Kleinwagen geworden ist. Der Busfahrer und die Karosserie seines Vehikels sind kaum beeindruckt. Der Fahrer des auf die Hälfte der Länge reduzierten Kleinfahrzeugs deckt den Busfahrer gerade mit einer Schimpftirade ein, um sich herum ein Meer aus Trümmern. Dem Gesichtsausdruck des Busfahrers zufolge geht es bei der Beschimpfung wohl um seine Mutter. Jede Sekunde fallen die beiden übereinander her. Mein Fahrer grinst und zuckt mit den Achseln und sagt «normal».
Normal sind auch die Strassenhändler, welche wie Heuschrecken über die Autos herniederschwärmen, sobald die Wagenkolonne wieder mal zum Stehen kommt. Einer putzt die Scheibe, mein Fahrer scheucht ihn weg. Einer bietet Erdnüsse an. Kein Bedarf. Einer klopft bei mir an die Scheibe mit Selfie-Sticks. Zum Glück weiss er nicht, dass ich Selfies affig finde. Ich schüttle den Kopf, er trottet von dannen. Eine Frau trägt einen Stapel Zeitungen herum, das Interesse der Lenker hält sich in Grenzen, eine andere bietet Bonbons an, eine dritte Obst zweifelhafter Herkunft.
Einer bietet Sturzhelme an. Seinen Verkaufsraum hat er gleich mit dabei – es ist ein VW Käfer.
Im Strassenbild von Austin haben mich die vielen Bettler nachdenklich gestimmt. Hier dominieren Strassenhändler. Aber nicht jeder kann auf ein paar Peso hoffen. An einer Bushaltestelle liegt ein Mann am Boden und schläft, eingewickelt in eine Wolldecke. Allem Anschein nach ist das sein einziger Besitz, er sieht aus, als hätte er ungefähr ein Jahr lang kein Bad mehr genommen, ein Bild des Jammers. Eine junge Frau steht daneben, elegant gekleidet, und ist ins Display ihres Handy vertieft. Sie würdigt den Obdachlosen keines Blickes.
«Sorry, tráfico», meint der Grossneffe von Pedro Rodríguez. Selbst der beste Spurwechsler muss irgendwann mal aufgeben. Noch mehr Strassenhändler tauchen auf – Ponchos, irgendwelche Lose, Kartoffelchips, Spielzeug, CDs und Handy-Hüllen im Angebot. Der Mann mit den Selfie-Sticks klopft erneut ans Fenster. Er ist zu Fuss schneller als wir mit dem Auto. Ich will noch immer keinen.
Bei jedem Schlagloch denke ich: «Jetzt wird es dem armen VW die Achse aus dem Leib reissen.» Aber der Wagen hustet tapfer weiter. «10 minutos», sagt mein Fahrer. Ich versuche, das in mexikanische Zeit umzurechnen und komme auf eine knappe halbe Stunde.
Ich staune über den Gleichmut der Mexikaner am Steuer, nein, ich bewundere ihn. Selbst wer übel zusammengeschnitten wird, reagiert völlig gelassen. Mir kommt dann immer Sebastian Vettel in den Sinn, wenn er am Funk von Ferrari von Nachzüglern genervt zetert: «Seriously! Blue flags, blue flags! Honestly!»
Mehr als 20 Millionen Menschen leben in Mexiko-Stadt, gefühlt ungefähr die Hälfte davon ist heute Morgen mit dem Auto unterwegs.
Dann geschieht ein Wunder: Wir stehen vor dem Hotel. Und zwar in zehn Minuten, wie es der Fahrer angekündigt hatte. Wie er das bei diesem Verkehr geschafft hat, ist mir ein Rätsel.
Vielleicht ist sein Volkswagen ja gar kein asthmatisches Wrack, sondern in Wahrheit eine Zeitmaschine, wie der DeLorean in «Back to the Future». Nur dass damals 80 Sachen für den Zeitsprung notwendig waren – bei uns haben 8 km/h gereicht.
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