Neuer Mercedes von Lewis Hamilton: Die Messlatte
Etwas mehr als vier Wochen vor dem Start in die neue Formel 1-Saison 2019 absolvierte Mercedes-AMG Petronas Motorsport die ersten Runden mit seinem neuen Rennwagen. Das Fahrzeug trägt die Bezeichnung Mercedes-AMG F1 W10 EQ Power+ und legte seine ersten Kilometer auf dem 2,98 km langen Silverstone International Circuit zurück. Am Steuer saß Valtteri Bottas, am Nachmittag übernimmt sein Teamkollege Lewis Hamilton das Auto.
«Die Saison 2019 stellt uns alle vor neue Herausforderungen», sagte Teamchef und Geschäftsführer Toto Wolff. «Das Reglement hat sich erheblich verändert. Wir beginnen bei null und müssen uns erneut beweisen - im Vergleich mit unseren eigenen Erwartungen, aber auch gegen unsere Konkurrenz. Wir gehen mit null Punkten in die Saison. Deshalb dürfen wir nichts als selbstverständlich ansehen und es gibt absolut keinen Grund dafür, automatisch anzunehmen, dass wir erneut vorne liegen werden. Tatsächlich hat durch die Regeländerungen für die neue Saison jedes Team eine Chance auf den Titel und wir sehen jeden als einen möglichen Konkurrenten an.»
Die heutige Ausfahrt findet im Rahmen eines offiziellen Filmtages statt, an dem das Team 100 km zurücklegen darf. In diesem Zuge nutzt die Mannschaft die Zeit auch für die letzten Systemchecks vor dem Beginn der Wintertestfahrten in Barcelona.
«Wir möchten in Barcelona sofort voll einsatzbereit sein, um uns mit den Werten aus unseren Simulationen zu messen und zu erfahren, ob sich unsere Prognosen auf der Strecke bewahrheiten", sagte Toto. "Wir richten den Blick auf uns selbst, um unsere Performance stetig zu steigern und dann hoffentlich zum ersten Qualifying der Saison am Samstag in Melbourne bereit zu sein.»
Im Vergleich zum Vorjahresauto wurden am Mercedes-AMG F1 W10 EQ Power+ einschneidende Veränderungen vorgenommen. Der Großteil davon ist auf die erheblichen Änderungen im Technischen Reglement für die Formel 1-Saison 2019 zurückzuführen.
«Regeländerungen stellen stets sowohl eine Chance als auch eine Gefahr dar», sagte James Allison, seines Zeichens Technischer Direktor des Teams. «Sie sind eine Chance, weil alle bisherigen Annahmen darüber, was man braucht, um schnell zu sein, über Bord geworfen werden. Wer schnell reagieren und clever damit umgehen kann, erhält die Gelegenheit, sich besser als alle anderen Teams anzustellen, die sich den gleichen Änderungen gegenübersehen. Umgedreht stellt dies aber auch eine Gefahr dar, wenn man nicht so clever ist und nicht das Beste aus dem neuen Regelwerk herausholen kann. Dann kann einem das in der anstehenden Saison gehörige Kopfschmerzen bereiten. Eins ist aber sicher: Solche Regeländerungen stecken immer voller Spannung. Man verspürt dieses besorgniserregende Gefühl, dass man vielleicht nicht genug getan hat. Gleichzeitig sorgt es aber für einen einzigartigen Kick und die Vorfreude darauf, die Wahrheit herauszufinden.»
Neben den aerodynamischen Veränderungen, auf denen der Hauptfokus bei der Entwicklung des W10 gelegen hat, arbeitete das Team auch hart daran, die Schwächen des Vorgängers auszumerzen und dessen Stärken weiter auszubauen.
«Das Fahrverhalten des W09 war ein großer Fortschritt gegenüber dem eher eigenwilligen W08», sagte James. «Dadurch waren wir auf Strecken konkurrenzfähig, auf denen wir in den Vorjahren Schwierigkeiten hatten. Aber obwohl uns in diesem Bereich Verbesserungen gelungen sind, konnten wir die Performance der Hinterreifen nicht so gut konservieren wie einige unserer Konkurrenten. Deshalb haben wir hart an der Aufhängung und der aerodynamischen Charakteristik gearbeitet, um ein Auto zu erhalten, das viel sanfter mit den Reifen umgeht. Das reicht hoffentlich aus, damit wir in allen Phasen eines Rennens und auf allen Rennstrecken im Kalender konkurrenzfähig sein können.»
«Obwohl das Mindestgewicht für die Saison 2019 um zehn Kilogramm angehoben wurde, bleibt die Gewichtsreduzierung bei der aktuellen Fahrzeuggeneration eine echte Herausforderung. Wir haben uns Komponenten angesehen, von denen wir dachten, dass wir sie im letzten Jahr schon bis auf die Knochen abgespeckt hätten. Nun haben wir sie Stück für Stück einer weiteren aggressiven Analyse unterzogen, um noch mehr Gewicht einzusparen. Bei einigen Teilen ist uns gefühlt ein riesiger Sprung mit einem halben Kilo Gewichtsersparnis gelungen, bei anderen waren es nur ein paar Gramm. Aber alles in allem summieren sich diese Erfolge zu einer Handvoll Kilogramm auf, die wir in die Aerodynamik, die Aufhängung und die Power Unit stecken konnten, um mehr Performance zu gewinnen.»
Trotz erheblicher Veränderungen in vielen Fahrzeugbereichen blieben beim W10 auch einige Charakteristiken seines Vorgängers erhalten. So sind die generelle Bauweise und der Radstand unverändert.
«Ein genauer Blick verrät, dass wir die Umsetzung dieses Konzepts weiter verfeinert haben», sagte James. «Die Teile sind alle noch enger und schlanker gestaltet. Jede dieser Änderungen erlaubt es uns, die aerodynamische Performance noch weiter zu verbessern, als es uns unter den physikalischen Einschränkungen des 2018er Designs möglich gewesen wäre.»
Der neue Motor
Während die Chassis-Entwicklung zum Teil durch die Regeländerungen bestimmt wurde, blieb das Reglement mit Blick auf die Power Units weitestgehend stabil. Dadurch stellte die Entwicklungsarbeit mehr eine Evolution dar, in deren Prozess das Team hart daran arbeitete, zwei Hauptziele zu erreichen: eine Verbesserung der Performance und der Zuverlässigkeit.
«Wir haben einige Veränderungen an der Kühlung der Power Unit vorgenommen, die sich hoffentlich positiv auf die Aerodynamik des Autos auswirken werden und gleichzeitig einen Effizienzvorteil für die Power Unit bieten. Damit wäre es sowohl für das Chassis als auch die Power Unit ein Gewinn», sagte Andy Cowell, Geschäftsführer von Mercedes-AMG High Performance Powertrains. «Im Herzen der Power Unit findet in der Brennkammer die Umwandlung von Benzin in Wärmeabgabe statt, die schlussendlich von der Kurbelwelle in nutzbare Arbeit umgesetzt wird. Wir haben Fortschritte bei der Verbrennungseffizienz sowie dem ERS-System erzielt, sodass die Verbindung zwischen dem Turbolader und der MGU-H, dem Wechselrichter, den Zellen und der MGU-K nun als Ganzes viel effizienter arbeitet und dabei hilft, die Energie während des Rennens besser abzugeben.»
16 Monate Arbeit
Die Arbeiten am neuen Formel 1-Auto begannen vor 16 Monaten, als das Team noch um seinen vierten Weltmeister-Titel kämpfte. Die Entwicklungsarbeiten wurden von einer kleinen Gruppe an Ingenieuren vorangetrieben, die das generelle Fahrzeugkonzept erarbeitet hat. Im Verlauf der Saison 2018 und mitten im spannenden und fordernden Titelkampf begannen immer mehr Ingenieure in Brixworth und Brackley mit ihrer Arbeit am W10.
«Die ersten Arbeiten am Projekt W10 begannen Ende 20117», sagte der Technische Direktor des Teams, James Allison. «Damals wurden die ersten Meetings abgehalten und darüber gesprochen, wie das Chassis aussehen sollte, wie die Power Unit sich im Vergleich zum Vorjahr verändern sollte und wie unsere groben Ziele für das Projekt aussehen sollten. Zu diesem Zeitpunkt haben wir die Pläne für unsere Ressourcenverteilung erstellt, um das Auto in der Saison 2018 weiterzuentwickeln und einzusetzen und gleichzeitig die richtige Anzahl an Personal festzulegen, welches das Auto für 2019 entwickeln, konzipieren und entwerfen sollte.»
Bis zur F1-Sommerpause 2018 arbeitete bereits mehr als die Hälfte der Ingenieure im Designbüro am W10. Als der F1-Tross sich im Oktober nach Amerika aufmachte und das Team sowie Lewis ihren jeweils fünften Weltmeister-Titel feierten, liefen die Arbeiten am W10 in der Fabrik bereits auf Hochtouren - erste Teile des künftigen Boliden wurden entwickelt und produziert. Alles in allem wurden ungefähr 7.000 Zeichnungen zur Produktion freigegeben.
Über den Winter wurden viele der Hauptkomponenten und Subsysteme wie die Kraftübertragung, die Aufhängung, das Kühlsystem und die Power Unit rigorosen Tests unterzogen. Dabei wurden die Teile Belastungen, Temperaturen und Materialermüdungszyklen ausgesetzt, die sie auch im Laufe einer Formel 1-Saison erleben. Bevor das Auto heute zum ersten Mal auf die Strecke fuhr, hatte das Team mit all diesen verschiedenen Komponenten bereits rund eine halbe Million Kilometer zurückgelegt.
«In jedem Teil stecken viele Stunden Arbeit, in jeder Montage, jedem System, jedem komplettierten Element und dann der fertigen Power Unit», sagte Andy. «Es ist ein großartiger Moment, wenn die Power Unit zum ersten Mal zum Leben erwacht und diese unzähligen Arbeitsstunden damit belohnt werden, dass erstmals Benzin in nutzbare Arbeit umgewandelt wird. Ja, es ist eine Maschine, aber sie ist ein Teil im Leben dieser Menschen und für sie ist es etwas ganz Persönliches.»