Mohammed Ben Sulayem (FIA): «Grenzen niederreissen»
FIA-Chef Mohammed Ben Sulayem mit Sebastian Vettel in Monaco
Nur eine Woche nach dem kontroversen WM-Finale von Abu Dhabi 2021 ist Mohammed Ben Sulayem (60) aus den Vereinigten Arabischen Emiraten zum neuen FIA-Präsidenten gewählt worden, als Nachfolger des Franzosen Jean Todt (76). Nach sechs Monaten als Chef des Autosport-Weltverbands hat der 14-fache Rallye-Meister des Mittleren Ostens eine seiner Vorgaben umgesetzt – er wollte ein Präsident sein, dessen Tür für alle offen steht und der Vorschläge bereitwillig anhört. Im ersten Teil unseres Exklusiv-Gesprächs mit SPEEDWEEK.com redet er über seine Mentalität und seine Vorstellungen davon, wohin sich die FIA und der Autosport bewegen sollen.
Mohammed kam nicht wie Todt aus der Formel-1-Welt zur FIA (der Franzose war Teamchef, dann Geschäftsleiter von Ferrari), sondern auch dem Rallyesport. Er sagt: «Als Rallye-Fahrer dachte ich nur ans Gewinnen. Als ich mehr und mehr Siege erringen konnte, fing ich an, mich vor dem Verlieren zu fürchten. Das hat mich mehr auf Trab gehalten als der Wunsch zu gewinnen.»
«Aber es kam der Punkt, an dem ich mich fragte: Wie lange will ich das noch machen? Mir wurde klar, dass es mehr im Leben gibt als Rallyes zu fahren. Also begann ich, mich für den nationalen Motorsportverband meines Landes zu engagieren. Das steckte alles noch in den Kinderschuhen, aber wir erhielten viel Unterstützung vom damaligen FIA-Präsidenten Max Mosley. Wir konnten Formel-1-Rennen ab 2004 in Bahrain und ab 2009 in Abu Dhabi etablieren. Nun stehe ich als FIA-Präsident vor neuen Aufgaben.»
Ben Sulayem verlässt sich als FIA-Chef auf seine Mannschaft und auf den gesunden Menschenverstand: «Vor einer wichtigen Entscheidung spreche ich mich immer mit meinen Mitarbeitern ab. Ich frage verschiedene Experten um Rat. Das bedeutet noch nicht, dass ich ihrer Empfehlung folge, aber ich will mir ein umfassendes Bild schaffen.»
«Ich scheue mich nicht vor Fehlern. Was heute eine gute Entscheidung zu sein scheint, kann sich in drei Monaten als falsch erweisen. Dann wird es eben geändert. Ich bin der Überzeugung, dass es von Stärke zeugt, zu Fehlern zu stehen. Etwas falsch zu machen, ist nicht Führungsschwäche, das ist menschlich. Es ist viel schlimmer, einen Fehler stehen zu lassen aus Gründen des Egos. Das fällt einem nur auf den Kopf. Niemand ist perfekt, aber gesunder Menschenverstand und Fairness sind mir sehr wichtig.»
Ben Sulayem sieht den Rallye-Sport als gutes Training für seine heutigen Aufgaben: «Rallye-Sport hat mich Toleranz gelehrt. Ich habe in meiner Karriere so viele Menschen getroffen, aus verschiedenen Kulturen, Ländern, Religionen, Rassen, Gesellschaften, Menschen, die unterschiedlich sprechen und denken und handeln. Ich glaube, das ist ein ganz anderes Umfeld als der Rundstreckensport, in welchem du weitgehend immer die gleichen Menschen triffst. Der Rallye-Sport hat meine Persönlichkeit entscheidend geprägt.»
Für den in Dubai geborenen Ben Sulayem steht die Betonung bei der Fédération Internationale de l’Automobile auf international: «Die FIA ist nie auf einen Menschen aus einer bestimmten Region beschränkt und muss von einem Präsidenten geführt werden, der glaubwürdig ist und offen für Veränderungen. Das ist keine Frage von Hautfarbe oder Religion. In der heutigen Welt sind Gleichberechtigung der Geschlechter und Vielfalt zentrale Themen. Für mich war es immer klar, dass Sport keine Grenzen kennt.»
«Ein gutes Beispiel ist für mich der Kartsport – da fahren Jungs gegen Mädchen aus allen Ländern, und auch bei den Rallyes wurde ich von Frauen als Co-Piloten unterstützt. Für mich gab es nie einen Unterschied. Wenn es in Amerika im Dragster-Sport möglich ist, dass Frauen zu den absoluten Top-Piloten gehören, wieso ist das dann nicht bei uns in den Formeln 3 und 2 so?»
«Also habe ich mich mit den FIA-Experten zusammengesetzt und gefragt: Sprechen wir hier von einer körperlichen Barriere? Sind diese Autos vielleicht so gebaut, dass Frauen sich als Fahrer nicht optimal einbringen können? Was können wir tun, um solche Grenzen niederzureissen? Das gehört zu meinen Zielen.»
Ist Ben Sulayem der Ansicht, dass sich die FIA neu erfinden muss? «Wir haben umfassende Studien angestellt und ein Ergebnis davon war, dass die FIA als alt empfunden wird. Nun, natürlich ist die FIA alt, immerhin gibt es sie seit 117 Jahren. Aber alt bedeutet nicht altmodisch oder veraltet. In einem so dynamischen Sport wirst du nie alt. Schau dir nur die ganze Technik dieser Autos an, diese Entwicklung, die nie stillsteht.»
Ben Sulayem hat viel Zeit in sein FIA-Manifest investiert, eine Standortbestimmung des Autosport-Weltverbands und eine Erklärung davon, wo er mit dem Verband hin will. «Im FIA-Manifest stecken 2000 Stunden Arbeit, mit zahlreichen Gesprächen mit Verbandsmitgliedern. Es hat mich in meiner Grundsatzeinstellung bestärkt, wie wichtig es ist, den Menschen zuzuhören.»
«Zum Manifest gehörte mein Ziel, den Mitarbeitern mehr Handlungsspielraum zu geben und das Wachstum des Sports in Asien, Südamerika und Afrika zu fördern. Dazu muss die Basis stimmen, das gilt für den Kartsport mit Fernziel Formel 1 so wie für den Rallyesport mit einem erschwinglichen Cross-Car als Einsteigerfahrzeug. Wir dachten daran, als FIA ein solches Cross-Car selber zu bauen, aber rasch kletterten die Kosten dafür von 8000 Dollar auf 13.500 Dollar. Also haben wir den Plan geändert – wir haben die ganzen Pläne den Landesverbänden zugestellt, damit sie die Fahrzeuge selber aufbauen können, mit welchen Triebwerken auch immer. Ein Einheitsmotor wäre der falsche Weg gewesen. Wir müssen vielfältig bleiben.»
Vielfalt ist für Mohammed Ben Sulayem ein Thema, das im Gespräch immer wieder auftaucht. «Für mich haben wir als Weltverband ein Ziel dann erreicht, wenn ein Talent – egal aus welchem Land – die Möglichkeiten hat, seinen Weg zu machen. Das ist auch der Grund, wieso wir Förderprogramme intensivieren. Wir müssen daran denken: Es gibt nur 20 Formel-1-Fahrer. Die Förderung kann also nicht nur auf Rennfahrer zielen. Wir müssen uns auch um den Nachwuchs etwa bei Ingenieuren kümmern.»
Für Mohammed Ben Sulayem ist dies eine Zeit der Veränderung bei der FIA. «Das beginnt bei meiner Rolle. Der Verband muss so breit aufgestellt sein, dass der Sport weiter wachsen kann, ohne dass dies an eine einzelne Person gebunden ist.»
«Wir haben sehr viele Aufgaben vor uns. Die Formel 1 alleine ist eine gewaltige Herausforderung. Die GP-Fahrer haben mich gebeten, mich um die Problematik Rennleitung zu kümmern. Aber ich kann schlecht auf Google nach neuen Rennchefs suchen oder sie auf Amazon kaufen. Renndirektoren müssen sorgfältig und über Jahre ausgebildet werden.»
«Ich gehe da zurück auf meine Erfahrung aus dem Rallye-Sport. Wir hatten damals etwa bei den Beifahrern ein Rotationsprinzip, so dass es auch nicht schlimm war, wenn ein Co-Pilot mal ausfiel. Wir müssen uns in der Formel 1 viel breiter aufstellen. Das war einer der Gründe für die Einführung der virtuellen Rennleitung, einer Einsatz-Zentrale in Genf, welche die Rennleitung am GP-Ort unterstützt. In Genf werden dabei die Rennleiter der Zukunft ausgebildet. Wir erreichen damit gleich drei Ziele – Ausbildung, die heutigen Rennkommissare erhalten mehr Übung, und wir haben mehr Fachkräfte zur Hand, wenn Not am Mann ist.»