Vettel: «Vielleicht bekämen sie Angst um mich»
«Vielleicht ist es besser, wenn ich im Auto alleine bin»
Formel-1-Fahrer werden gerne zu Superstars verklärt. Einigen geht bei so viel Lob die Bodenhaftung verloren. Nicht so dem Heppenheimer Sebastian Vettel. Werner Jessner hat dem Red-Bull-Racing-Piloten für THE RED BULLETIN auf den Zahn gefühlt. Hier der zweite Teil des Gesprächs.
Es heisst, in der Formel 1 würde man besonders schnell altern. Wie alt fühlst du dich?Man reift im Motorsport definitiv schneller als in einem «normalen» Leben. Man wird mit Entscheidungen und ihren Auswirkungen schneller und radikaler konfrontiert. Man reist und kommt herum, man erweitert zwangsläufig den Horizont. Ausserdem hat man tendenziell mit älteren Menschen zu tun, während man als Student seine Erfahrungen eher unter Gleichaltrigen macht. Man ist darin geübt, Entscheidungen zu treffen. Wenn man so will, fängt das Erwachsenenleben als Rennfahrer früher an: Mit fünfzehn, sechzehn stellst du Weichen, die andere erst zehn Jahre später stellen müssen.
War, im Nachhinein, der erste WM-Titel der schwierigste?
(Lange Pause.) Der erste Titel sticht insofern heraus, als man sich bewiesen hat, dass der Glaube an einen selbst berechtigt war. Das ist es, was einem keiner mehr nehmen kann. Das heisst aber nicht, dass das Leben nach dem ersten Titel vorbei ist, im Gegenteil. Man erweitert ganz automatisch seine Erwartungen und Ziele, geht auf eine nächste Stufe.
Wenn du die grossen Momente deiner Karriere Revue passieren lässt: Was siehst du?
Die stärkste Erinnerung ist die, auf dem Podest zu stehen und die bekannten Bilder aus dem eigenen Blickwinkel zu erleben: der erste Sieg in Monza, die Menschenmassen unten aus Sicht des Podiums; das, was man jahrelang im Fernsehen gesehen hat, selbst zu erleben, das Vertraute tatsächlich zu erleben. Fotografen würden sagen: Schuss – Gegenschuss.
Ändert sich dieses Erlebnis mit der Frequenz der Siege?
Nein, denn mein Sieg mit dem Toro Rosso in Monza wird mir immer unvergesslich bleiben. Das war wirklich speziell.
Nimm uns ein wenig im Rennauto mit: Was bedeutet es, wenn du im Interview nach dem Rennen sagst, dass du unterwegs deinen Fahrstil umstellen musstest?
Würde man all die Änderungen, die man während eines Rennens vornimmt, protokollieren, ergäbe das mehrere Seiten. Das muss man stark vereinfachen. Wenn ich zum Beispiel merke, dass von einer Runde auf die nächste die Reifen nachlassen, heisst das, dass ich nicht mehr am gleichen Punkt bremsen kann, weil ich sonst rausfliege. Ich könnte jetzt langsamer werden, was ich aber nicht will. Daher muss ich die Situation mit jenen Parametern, die ich aktiv beeinflussen kann – Gas, Lenkung, Bremse, den technischen Verstellmöglichkeiten am Auto –, lösen. Das ist das Spiel, das wir spielen, Runde für Runde, Kurve für Kurve.
Ein konkretes Beispiel, bitte.
Lassen die Vorderräder nach, kann ich nicht so viel Tempo in die Kurve mitnehmen. Ich muss also versuchen, spitzer in die Ecke zu fahren, stärker zu bremsen, stärker einzulenken und früher wieder aufs Gas zu gehen, um die tatsächliche Kurvenphase, in der ich Grip an der Vorderachse brauche, möglichst kurz zu halten. Ich tausche also den Gewinn in der Kurvenmitte gegen einen kleinen Gewinn zu Beginn und am Ende der Kurve. Das alles sind winzige Nuancen.
Spürst du, ob du eine oder zwei Zehntelsekunden pro Runde schneller bist?
Abgesehen davon, dass wir das am Display im Auto ohnehin sehen: Ja. Eine Zehntelsekunde ist viel Zeit.
Spürst du unterschiedliche Geschwindigkeiten?
Eigentlich kaum. Der Wind ist leiser, als man denkt. Hören tut man eher die Motordrehzahl, die den Unterschied macht, aber der Motor klingt eben in jedem Gang gleich.
Gern gebrauchter Terminus in diversen TV-Übertragungen: «zusammenbrechende Aerodynamik», zum Beispiel beim knappen Hinterherfahren. Was können wir Laien uns darunter vorstellen?
Dass das Auto nicht mehr das macht, was ich von ihm erwarte. Man sieht diese «dirty air» nicht. Ist ja nicht so, dass sich die Luft hinter dem Vordermann grün färben würde. Du musst das zu einem gewissen Grad erahnen.
Welche Rolle spielt dieses Erahnen in der Arbeit mit den Ingenieuren?
Es gibt den Punkt, wo sie dem Fahrer vertrauen müssen, selbst wenn die Daten vielleicht etwas anderes sagen. Es gibt diesen Wohlfühl-faktor, ohne den man als Fahrer nicht sein Optimum leisten kann.
Hilft bei dieser Kommunikation im Team die Autorität dreier WM-Titel?
Ich glaube schon. Aber vor allem die Zeit, die man bereits gemeinsam verbracht hat.
Wen würdest du – wenn es denn ginge – im Formel-1-Auto mitnehmen?
Klar fallen einem da auf Anhieb viele Menschen ein, denen man seine Arbeit zeigen möchte, vor allem Menschen, die einem nahestehen. Aber möchte ich ihnen das echt zumuten? Die Schläge, die Fliehkräfte, das Balancieren am grossen Unfall, das Unglamouröse bei der tatsächlichen Arbeit im Auto: Vielleicht ist es gut, dass sich diese Frage nicht stellt. Vielleicht bekämen sie Angst um mich.