Die Ernst-Degner-Affäre: Flucht und verkauftes Wissen
Vor über 55 Jahren flüchtete der MZ-Werksfahrer, 125-ccm-WM-Leader und Entwicklungsingenieur Ernst Degner im September 1961 aus der DDR in den Westen Deutschlands.
Aufsehen erregte diese Flucht in Motorsportkreisen in erster Linie, weil nicht nur die wirtschaftlichen Kontraste zwischen Ost und West eine Rolle spielten. Degner nahm auch sein vielseitiges Wissen zum Thema Zweitakt-Technologie von MZ mit – und verkaufte es an Suzuki. Für den genialen MZ-Konstrukteur Walter Kaaden war das Hochverrat. Degner baute im folgenden Winter für Suzuki eine 125er und 50er und wurde 1962 erster 50-ccm-Weltmeister der Geschichte. Erstmals dominierte ein Zweitakter die WM!
Überläufer Degner hatte seine heimliche Ausreise perfekt verschleiert. Am Tag nach der Flucht zierten Degner und Sohn Olaf das Titelblatt der «Neuen Berliner Illustrierten» (NBI). Sie wurde eingezogen!
Vielfach wurde Degners Vorgehen verurteilt. Schlagworte wie Geheimnisverrat, Diebstahl geistigen Eigentums und Industriespionage machten die Runde.
Suzuki-Teamkollege Hugh Anderson nimmt Degner in Schutz. «Ich habe oft mit Ernst über seine Erfahrungen und das Leben im Osten gesprochen», sagt der Neuseeländer. «Er hat nicht polemisiert, sondern vernünftig argumentiert. Seine Erzählungen bestätigten sich, als ich 1962 erstmals zum Sachsenring reiste. Die Kontrollen an den hermetisch abgesicherten Grenzübergängen hatten mit Demokratie nichts zu tun. Ich verstand, warum Ernst samt Familie geflohen war. Die Behauptung, er habe bei MZ technische Teile gestohlen, halte ich für unwahr. Ernst besass eine hohe Intelligenz und hatte alles Wesentliche in seinem Gedächtnis gespeichert. Wir hatten ein gutes, vertrauenswürdiges Verhältnis. 1962 feierte ich in Argentinien meinen ersten GP-Sieg und zog den durch seine Monza-Verletzung gehandikapten Ernst auf Platz 2. Er war Weltmeister…»
Walter Kaaden: Verbitterung nach Degners Flucht
Rückblickend ist die Enttäuschung, die Degners Flucht bei MZ-Getreuen wie Walter Kaaden hinterlassen hat, verständlich. Durch den Transfer der firmeninternen Zweitakt-Geheimnisse an den finanzstarken Rivalen Suzuki verlor MZ die Ergebnisse eines Jahrzehnts unermüdlicher Forschungsarbeit. Kaaden betrachtete die Handlungsweise Degners als persönlichen Verrat. Er hat die Flucht seines Schützlings bis zu seinem Lebensende – Kaaden starb am 3. März 1996 – nie verwunden.
Die DDR-Sicherheitsbehörden wollten ihm damals sogar eine Mitschuld an Degners Flucht anlasten. Er stand deswegen lange unter enormem psychischen Druck. Dankbarerweise zeigte sich der damalige MZ-Betriebsdirektor Müller absolut loyal. So konnten die DDR-Aufpasser dem Ehrenmann Kaaden nichts anhaben.
Die Brisanz der Affäre Degner ergab sich auch aus dem Aufeinanderprallen der zwei gegensätzlichen politischen Systeme. Und für das Rennteam hatte die Flucht Degners weitreichende Konsequenzen. «Ab sofort standen weit weniger finanzielle Mittel zur Verfügung», erinnerte sich Ex-GP-Sieger Horst Fügner, der am 22. November 2014 im Alter von 91 Jahren verstarb. «Zeitweilig war sogar die Schliessung der Rennabteilung beabsichtigt. Und der Kreis der Leute, die man zu den Rennen in westlich orientierte Länder fahren liess, wurde von diesem Tag an viel strenger kontrolliert.»
Kaaden, Fügner und das gesamte MZ-Team zeigten auch in den folgenden Jahren trotz aller Repressionen vorbildliches Engagement. Fahrer wie Musiol, Hailwood, Rosner, Shepherd, Fischer, Enderlein, Williams, Krumpholz, Szabo, Bartusch, Grassetti und Woodman hielten die MZ-Flagge bis in die 70er-Jahre hoch.
Fügner: «Degner machte sich ab 1960 verstärkt Notizen»
«Natürlich waren wir Rivalen», sagte der Ex-MZ-Werksfahrer Horst Fügner. «Zwar war ihm ein gewisser Egoismus zu eigen, aber unser Verhältnis war gut. Wir verkehrten auch familiär miteinander. Ernst war sehr intelligent. Aber mir ist aufgefallen, dass er sich ab Ende 1960 verstärkt Notizen machte. Dass er seine Flucht vorbereitete, war nicht absehbar.»
Degners Frau flüchtete mit den Söhnen Olaf und Boris am 14. September 1961 im Kofferraum eines V8-Lincoln Mercury aus der DDR; Ernst Degner setzte sich drei Tage später nach dem Schweden-GP ab.
Es ist unbestritten, dass Degner auch die bestmöglichen materiellen Voraussetzungen für das weitere Leben im Auge hatte. Er machte sich das Interesse von Suzuki an seinem technischen Wissen zunutze.
Demontierung durch die Besatzer
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam der östliche Teil Deutschlands unter sowjetische Kontrolle. Die Besatzungsmacht demontierte alles, was nicht niet- und nagelfest war. Davon war auch das DKW-Werk in Zschopau betroffen, das seit 1932 zur Auto Union gehörte. Immerhin konnte die beabsichtigte Sprengung der Werksanlagen vermieden werden.
Die DKW-Führung war schon 1945 in den Westen gewechselt. Die mitgeführten Unterlagen waren bei der Gründung der Auto Union GmbH in Ingolstadt hilfreich. Und obwohl im Osten das Notwendigste zum Leben fehlte, lebte Ende der 40er-Jahre in Sachsen die Motorradrennsport-Tradition weiter. Schliesslich hatten DKW- Rennmotorräder zwischen 1934 und 1939 sieben Europameistertitel gewonnen.
Bis Sommer 1951 wurden etliche DKW-Fachkräfte von den Russen in den Ural zwangsverpflichtet. Nach ihrer Rückkehr übernahmen sie im wiederbelebten Motor- radwerk Zschopau wichtige Aufgaben.
Zu den namhaftesten Technikern gehörte Walter Kaaden, geboren am 1. September 1919. Schon als Achtjähriger hatte er seinen Vater zur Eröffnung des Nürburgrings begleitet.
Von 1934 bis 1936 wurde Kaaden im DKW-Werk der Auto Union als Maschinenschlosser ausgebildet. Schon während der Lehrzeit wurde Kaaden in die Rennabteilung versetzt. Kaaden bezeichnete sie als «Mammuteinrichtung». Während der Lehrzeit bildete sich Kaaden an der Abendschule fort. 1937 bis 1940 studierte er an der Ingenieursschule Chemnitz.
Nach Kriegsbeginn wurde Kaaden in den Berliner Henschel-Werken als Teilkonstrukteur für die Rüstungsproduktion und den Raketenbau verpflichtet. So entging er wenigstens dem Militärdienst.
Dank Intelligenz und Strebsamkeit avancierte Zweitakt-Genie Kaaden zum Konstrukteur und Gruppenleiter; 1943 kam er als Flugversuchsingenieur in das erweiterte Team von Wernher von Braun nach Peenemünde. Am Kriegsende blieb dem Sachsen ein Aufenthalt im berüchtigten Gefangenenlager Bad Kreuznach nicht erspart.
Danach gründete der kreative Ingenieur eine Firma, die Deckenputzträger erzeugte. 1949 beschäftigte er 30 Mitarbeiter. Weil kein Material mehr geliefert wurde, musste er 1952 zusperren.
Wie Kaaden der Rennvirus packte
Der Rennvirus hatte Kaaden nie losgelassen. Er baute auf der Basis einer DKW RT 3 PS seine erste Rennmaschine und platzierte sich im Vorderfeld. Er kehrte 1953 als Renningenieur in den Industrieverband Fahrzeugbau (IFA) zurück, in den das Zschopauer Werk inzwischen eingegliedert war. 1952 war die IFA-Rennabteilung gegründet worden.
1954 gewann Kaaden das 125-ccm-Ausweisrennen auf der Bernauer Schleife. Dann untersagte ihm sein Vorgesetzter das Rennfahren. Konstruktion und Bau konkurrenzfähiger Rennmaschinen waren wichtiger.
Die Bedingungen in der Nachkriegszeit galten als primitiv und abenteuerlich. Eine zentrale Weisung zwang Techniker Daniel Zimmermann Ende 1952, das von ihm er- fundene Prinzip des Flachdrehschiebers dem «volkseigenen» Zschopauer Werk zur Verfügung zu stellen. Unter beträchtlicher Mühsal wurde eine Kleinserie hergestellt, darunter drei 125-ccm-Werksmaschinen – 9 PS bei 7800/min, 3-Gang-Getriebe.
Das Werksteam ging bei der Halle-Saale-Schleife 1953 erstmals an den Start. Als Fahrer agierten Erhart Krumpholz, Siegfried Haase und Horst Fügner. «Ich hatte den Krieg und seine Folgen gut überstanden und baute mir 1950 eine DKW-RT-125-Rennmaschine auf», erinnerte sich Fügner. «Im ersten Rennen in Dessau wurde ich Zweiter, fiel aber in Leipzig aus. Trotzdem war man auf mich aufmerksam geworden.»
(Mitarbeit: Frank Bischoff)
Erfahren Sie im zweiten Teil der Ernst-Degner-Affäre, der am Freitag den 12.1. erscheint, wie Degner zum MZ-Held wurde und Erfolge feierte, wie seine Karriere endete und warum er vereinsamt starb.