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Jorge Lorenzo: Hat er bei Ducati echte Titelchancen?

Kolumne von Günther Wiesinger
Unzählige MotoGP-Fans fragen sich, ob Ducati mit Jorge Lorenzo der Transfer des Jahrhunderts gelungen ist. Es bestehen Zweifel. Yamaha und Maverick Viñales könnten sich als die grossen Nutzniesser entpuppen.

Für viele MotoGP-Fans stellt sich vor der Saison 2017 vor allem eine Frage: Kann Jorge Lorenzo gleich im ersten Jahr auf der Ducati Desmosedici Weltmeister werden?

Ich bezweifle es.

Denn die Ducati war den Maschinen von Honda, Yamaha und auch Suzuki in der Saison 2016 teilweise deutlich unterlegen, besonders auf Low-Grip-Pisten wie Jerez, Barcelona und Aragón.

Dazu kommt: Lorenzo hat auch in der vergangenen Saison eine empfindliche Regenschwäche offenbart, diese Schwäche nahm teilweise sogar neurotische Formen an.

Klar, Jorge Lorenzo schnitt beim Valencia-Test 2016 mit Platz 7 und überschaubaren 0,769 sec Rückstand wesentlich besser ab als Valentino Rossi 2010 bei seinem Testdebüt auf der Ducati. Rossi beendete damals den Valencia-GP als Dritter, 24 Stunden später war er mit der Ducati Vorletzter.

Das zweijährige Desaster nahm seinen Lauf.

Seither hat sich natürlich viel geändert. Anstelle des kapriziösen Ing. Filippo Preziosi agiert jetzt der unumstrittene Gigi Dall’Igna bei Ducati auf dem technischen Kommandostand. Er ist nicht so abgehoben und hat Preziosis MotoGP-Experimente mit Stahlrahmen und Karbon-Monocoque nicht wiederbelebt, er setzt auf ein konventionelles Karbonchassis und hat für 2015 erstmals ein neues Triebwerk mit gegenläufiger Kurbelwelle (sie dreht sich jetzt gegen die Fahrtrichtung wie bei Yamaha) gebaut, um das jahrelange, lästige Untersteuern aus der Welt zu schaffen.

Gigi Dall’Igna setzt weiter auf die unendliche Power der Ducati, die durch den exklusiven desmodromischen Ventiltrieb nicht nur als besonders drehzahlfest gilt, sondern sich auch durch einen recht geringen Treibstoffverbrauch auszeichnet.

Immerhin: Andrea Iannone und Andrea Dovizioso haben mit der 2016-Ducati in Spielberg und Sepang je einen Grand Prix gewonnen. Vom Titelgewinn war Ducati aber weit weg, und das lag nicht nur an den Unzulänglichkeiten der Werksfahrer.

Zur Erinnerung: In Aragón trafen alle acht Ducati im Rennen auf den Rängen zwischen 11 und 19 ein. Dovizioso und Iannone kamen in der WM-Endabrechnung über die Ränge 5 und 9 nicht hinaus.
Lässt sich dieser Nachteil durch Lorenzo binnen eines Jahres wettmachen?

Höchst fraglich.

Denn Marc Márquez sammelte 2016 mit der nicht gerade überragenden Honda RC213V nicht weniger als 298 Punkte ein, «Dovi» kam auf 171, Iannone auf 112. Lorenzo kassierte mit der Yamaha als WM-Dritter 233 Punkte. Sogar Suzuki-Werkspilot Maverick Viñales schaffte 202 Punkte – er wurde WM-Vierter.

Und genau das ist für mich der springende Punkt.

Ich wette, dass Maverick Viñales 2017 auf der Movistar-Yamaha mehr Punkte holt als Lorenzo mit diesem Bike 2016. Und ich bin überzeugt, dass Viñales nächstes Jahr beim Titelfight dem aktuellen Weltmeister Marc Márquez mehr einheizen wird als Lorenzo.

Klar, auch Viñales hat gewisse Schwächen auf nasser Fahrbahn. Aber er ist 21 Jahre alt, er kann sie ausmerzen – Dani Pedrosa ist das auch irgendwann gelungen.

Maverick Viñales stand immer im Schatten von Márquez. Er ist nicht so überfallsartig über den GP-Sport hereingebrochen wie sein Landsmann.

Aber er hat in allen drei Kategorien die Rookies-of-the-Year-Wertung gewonnen. Er hat immer wieder mit unterlegenem Material in finanzschwachen Teams aufhorchen lassen, besonders in der 125-ccm-Klasse und in der Moto3.

Viñales gewann die Moto3-WM 2013 gegen größere Teams und höher eingeschätzte Fahrer – gegen Luis Salom und Alex Rins.
2016 hat er bei Suzuki seinen Landsmann Aleix Espargaró übel zugerichtet: 202 zu 93 WM-Punkte, er hat den künftigen Aprilia-Fahrer in der WM-Tabelle um sieben Plätze hiner sich gelassen. So deutlich hat kein anderer MotoGP-Fahrer 2016 seinen Teamkollegen degradiert. Zum Beispiel: Stefan Bradl büßte nur 19 Punkte auf den Teamkollegen und WM-Zwölften Bautista ein, das Quali-Duell gewann der Bayer sogar 10:8.

Momentan spricht die ganze MotoGP-Welt über den Transfer Lorenzo/Ducati.

Meines Erachtens geht diese Betrachtungsweise am Ziel vorbei. Als sich Lorenzo bei Yamaha lossagte, wurde das Movistar-Yamaha-Team mitleidig betrachtet. Schließlich verlor es den überragenden MotoGP-Weltmeister von 2010, 2012 und 2015.

Ich behaupte: Viñales ist alles andere als der Trostpreis, den sich Yamaha beim Feilschen um die Nachfolge von Lorenzo (auch Iannone und Pedrosa standen zur Debatte) eingehandelt hat.
Maverick Viñales wird sich als Haupttreffer erweisen. Seine beiden Tagesbestzeiten auf der Werks-Yamaha in Valencia waren kein Strohfeuer.

Viñales ist in seiner gesamten GP-Karriere sehr, sehr selten gestürzt. Er kennt die Schwachstellen von Marc Márquez in- und auswendig. Maverick wird die Beständigkeit von Rossi mit dem Speed von Márquez kunstvoll vereinen. Mit Lorenzos Crew-Chief Ramon Forcada und Teammanager Wilco Zeelenberg hat Viñales ein unbezahlbares «winning team» in der Box.

Lorenzo und Ducati werden sich auch 2017 schwer tun, auf allen Pisten und bei allen äußeren Bedingungen konkurrenzfähig zu sein.

Viñales traue ich eher zu, Weltmeister Marc Márquez das Leben wirklich schwer zu machen.

Und Rossi? Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, er habe 2015 seine letzte Chance verspielt. Zu oft verliert er wegen mangelnder Risikobereitschaft Podestplätze an die junge Generation – inklusive Iannone.

Aber die MotoGP-WM wird unberechenbar bleiben. Was sich heute sinnvoll und kompetent anhört, kann nach drei Rennen schon absurd klingen.

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