Schweiz: Ein Phänomen im internationalen Motorsport
Die Schweiz ist ein Phänomen. In vielerlei Hinsicht.
Sie ist ein Binnenland, trotzdem hat sie jahrelang den America’s Cup der Segler mit Alinghi dominiert.
Die Schweiz ist nicht Mitglied der EU, hat sich aber durch bilaterale Verträge alle Rosinen herausgepickt – wie den freien Personenverkehr und Schengen.
Die Schweiz besitzt keine Rennstrecke, die diesen Namen verdient. Seit bei der Le Mans-Tragödie 1955, bei der 84 Menschen ums Leben kamen, sind hier Rundstreckenrennen aller Art verboten.
Das ist ein bisschen kurios, denn die gefährlichen Bergrennen waren immer erlaubt, Motocross-Rennen auch, mit dem «Circuit de Lignières» existiert sogar eine kleine 1,350-km-Piste, die als Ausnahme immerhin für die Schweizer Motorrad-Meisterschaft benützt werden konnte. Aber 2003 erwarb sie der Autofahrerverein Touring Club Schweiz (TCS); sie wird seither nur noch für Fahrtrainings und Supermoto-SM-Rennen benützt.
Davon abgesehen war die Schweizer Meisterschaft quasi eine Europameisterschaft. Sie wurde in Deutschland, Frankreich, Italien, Tschechien und Österreich ausgetragen, von Lédenon bis Spielberg.
Trotz aller Widrigkeiten ist die Schweiz immer eine motorsportliche Großmacht gewesen.
Nicht erst, seit Domi Aegerter und Tom Lüthi vor acht Tagen in Misano im Moto2-WM-Lauf für einen Doppelstieg sorgten, den ersten in einer Solo-GP-Klasse seit 1949 übrigens. Seit dem Silverstone-GP 1983 (125 ccm/2. Hans Müller. 3. Bruno Kneubühler) standen nie mehr zwei Schweizer Solofahrer gemeinsam auf dem Podest.
Übrigens: Auch in der Motocross-WM hinterlässt die Schweiz ihre Spuren – Suzuki-Star Jeremy Seewer ist Zweiter der MX2-WM.
Aber die Eidgenossen spielten und spielen auch in anderen Motorsport-Ligen mit. Marcel Fässler und Neel Jani gewannen das 24-Stunden-Rennen von Le Mans, Rico Steinemann und Herbie Müller spielten ebenfalls in der ersten Sportwagen-Liga mit. Jo Siffert und Clay Regazzoni sorgten für Schweizer Formel-1-Euphorie, bevor Marc Surer, Neel Jani und Sebastién Buemi dort die Schweizer Fahne hochhielten. Das Sauber-Team ist seit 25 Jahren Bestandteil der Formel 1.
Im Motorradsport hält die Schweiz seit Jahren weitweit unter den Top-Ten-Nationen mit. Luigi Taveri gewann die 125er-WM 1962, 1964 und 1966 auf einer Werks-Honda, damals hatten diese erlesenen 125-ccm-Viertakter bis zu fünf Zylinder!
Taveri: Luftpostbrief an Mister Honda
Wie man als Schweizer zu einem Werksfahrer bei einem japanischen Werk wird, erzählen wir auch noch rasch. Weil Taveri bei den italienischen Werken Ducati und MV Agusta hinter den italienischen Starpiloten immer nur die zweite Geige spielen durfte, wollte er nach der Saison 1960 als WM-Vierter (auf Ducati) aufhören.
Doch seine Frau Tilde hatte vom WM-Einstieg der Japaner Wind bekommen.
Sie besorgte sich bei einem Zürcher Honda-Händler Taiana in Zürich die Anschrift von Firmengründer Soichiro Honda in Japan und schrieb einen freundlichen Luftpostbrief an den Unternehmer. Luigi Taveri wurde tatsächlich nach Japan eingeladen – und mit einem Werksvertrag belohnt. Er dankte das Vertrauen mit folgenden WM-Endergebnissen: 3., 1., 2., 1., 5. und 1.
Die Schweizer Motorenschmiede von Heini Mader tunte und revidierte für BMW und Formel-1-Motoren für Judd, BMW und andere Hersteller.
Der wohlhabende Schweizer Michel Métraux (Importeur von elf, Gründer von Thommen Entsorgung usw.) unterstützte mit seinen Firmen ganze Heerscharen von Schweizer Motorradpiloten; er ließ die Parisienne 250 bauen und die elf 500, er brachte Fahrer wie Michel Frutschi, Roland Freymond und Jacques Cornu an die Weltspitze. Sein Sohn Olivier führte dieses Vermächtnis in der jüngsten Vergangenheit weiter – mit Technomag, CarXpert und Garage Plus und Piloten wie Aegerter und Lüthi.
Die Firma «swissauto» baute jahrelang den besten 500-ccm-Seitenwagen-Motor, Rolf Biland gewann sieben Gespann-WM-Titel. Swissauto stieg dann auch in die 500-ccm-Solo-WM ein, die MZ-Weber schaffte 1999 unter Jürgen van den Goorbergh zwei Pole-Positions in der 500er-WM – gegen die Giganten Honda, Yamaha und Suzuki.
Ex-GP-Fahrer Eskil Suter baute damals mit seiner aufstrebenden Firma Suter Racing in Turbenthal/CH das passende Chassis. Später konstruierte er das Chassis für die MotoGP-Kawasaki 2004, heute baut Suter die Ducati-Chassis für WM-Leader Dovizioso, Lorenzo, Petrucci & Co. Aber darüber darf nicht laut geredet werden, es existiert eine Verschwiegenheitsjklausel im Vertrag.
Dazu gewann Suter Racing 2012 bis 2014 die Marken-WM in der Moto2 und die Fahrer-WM 2012 mit Marc Márquez. Zeitweise war Suter Racing in allen drei GP-Klassen mit eigenen Bikes vertreten – zum Beispiel 2013.
Im Gespannsport dominiert seit Jahrzehnten ein Schweizer Hersteller – Louis Christen aus Rheineck mit seinen LCR-Gespannen. Das Kürzel steht für Louis Christen Racing.
Tom Lüthi, 2005 Weltmeister in der 125-ccm-Klasse und in der mittleren Klasse (250 ccm, dann Moto2) beim Titelkampf elf Jahre lang bisher leer ausgegangen, liegt jetzt in der Tabelle nur noch 9 Punkte hinter Spitzenreiter Morbidelli.
Toms WM-Karriere wurde vom ersten GP-Tag an vom Schweizer Geschäftsmann Daniel M. Epp und dessen Sponsoren von Emmi Caffè Latte bis Interwetten finanziert. Epp hat Lüthi jetzt – spät aber doch – endlich in die MotoGP-WM zu Marc VDS Honda transferiert.
Im Sog von Lüthi entstand eine neue Generation von Schweizer GP-Piloten. 2015 fuhren fünf in der Moto2-WM mit: Lüthi, Aegerter, Krummenacher, Raffin und Mulhauser. Auf so eine Anzahl brachte es selbst das zehnmal größere Deutschland nie.
Lüthi: Das Ende des Jugendwahns
Einige Jahre lang beschwerte sich Lüthi über den Jugendwahn in der MotoGP-Klasse und darüber, dass der Schweizer Markt zu klein sei – für die Sponsoren, die Motorradhersteller und die TV-Geschäfte von WM-Promoter Dorna.
In Wirklichkeit war es Lüthi nie gelungen, in der Moto2-WM in den Titelkampf einzugreifen. Deshalb flog er unter den Radarschirmen der MotoGP-Teamchefs.
Als sich Tom im Herbst 2016 zu seiner Siegesserie aufschwang und noch Vizeweltmeister wurde, waren die MotoGP-Verträge für 2017 längst alle vergeben.
Sam Lowes und Jonas Folger, in der Moto2-WM weniger erfolgreich als Lüthi, aber dafür jünger, durften 2017 aufsteigen. Lüthi verpasste den Zug ein weiteres Mal.
Aber der bald 31-jährige Berner ließ sich nicht entmutigen und liegt nach 13 von 17 Rennen 2017 nur neun Punkte hinter Morbidelli.
Eine Siegesserie gelang Lüthi freilich auch 2017 nicht – er hat in dieser Saison erst ein Rennen gewonnen, Morbidelli sieben.
Aber Lüthi hat 2016 bei zwei MotoGP-Tests bei KTM gezeigt, dass ihm auch die 280 PS starken 1000-ccm-Raketen nicht aus der Fassung bringen.